Auschwitz in uns
Eindrücke von einer internationalen und interreligiösen Meditationswoche im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
von Franz-Johannes Litsch
Auschwitz macht sprachlos. Auschwitz - das Wort bereits läßt verstummen. An Auschwitz versagen unsere Sprache, unsere Vorstellungen, alle Versuche diesem Ort und seiner Wirklichkeit Ausdruck zu geben. Und doch - ich möchte darüber sprechen, möchte etwas weitergeben von dem, was ich im Winter 1996 in Auschwitz zusammen mit anderen erlebt und erfahren habe.
Tetsugen Bernard Glassman Roshi, Zenmeister aus New York, Dharma-Nachfolger von Maezumi Roshi hatte eingeladen. Menschen aus aller Welt, aus allen Religionen, allen Schulen des Buddhismus waren dazu aufgerufen, mit ihm eine Woche nach Auschwitz zu kommen und dort unmittelbar am Ort des Todes, der Vernichtung und des Grauens zu sitzen und sich zu begegnen. Es kamen ca. 150 Personen aus zahlreichen Ländern, vor allem aus den USA, aus Argentinien, Japan, Israel, England, Frankreich, Italien, Holland, der Schweiz, aus Polen und Deutschland. Und es waren Vertreter und Angehörige von vier großen Weltreligionen da, darunter jüdische Rabbis, christliche Pfarrer, katholische Mönche und Nonnen, ein islamischer Imam, buddhistische Lehrer, Priester, Mönche, Nonnen.
Etliche von ihnen waren direkt oder indirekt Betroffene von dem, was an diesem Ort oder in Zusammenhang mit diesem Ort geschehen war. Viele waren Juden, wie Glassman Roshi selbst oder Jishu Holmes, seine Lebenspartnerin oder Eve Marko, die Organisatorin des Treffens. Oder sie waren unmittelbar Kinder oder nahe Angehörige von Juden und Polen, die in Auschwitz umgebracht worden waren oder die den Holocaust gerade noch überlebt haben. Einige von ihnen stehen noch heute unter der Last dieser Vergangenheit, können den abgrundtiefen Schmerz, die Trauer, die Angst nicht überwinden. Aber viele von den Teilnehmer waren auch Nicht-Betroffene, von ihrer Herkunft, von ihrer Nationalität, von ihrem Alter her.
Es war Anfang Dezember, die Zeit in der Shakyamuni Buddha nach Mahayana-Tradition unter dem Bodhi-Baum das große Erwachen erfuhr, die Zeit in der in den japanischen Zen-Klöstern das besonders intensive Rohatsu-Sesshin stattfindet. Eine Zeit, in der die Tage immer dunkler werden, in der es bereits empfindlich kalt ist, wo der Boden gefriert und der erste Schnee fällt. Es war tatsächlich sehr kalt in Polen und Auschwitz. Die Pfützen und Wasserläufe waren bereits eisbedeckt, die Häuser und Landschaften schwarzweiß, die Bäume nur noch starre Gerippe, der Himmel eine düstere, schwere Decke.
Warum dann an diesen Ort gehen? Warum hier sitzen und meditieren, warum hier Sutras rezitieren, jüdische Lieder singen, christliche Gebete sprechen, islamische Sufitänze lernen? Hier, an den Schienen der Rampe von Auschwitz-Birkenau, einer Industrieanlage, die zu nichts anderem da war als Menschen soviel an Zahl und so schnell wie möglich vollständig zu vernichten. Hier wo 1,5 Millionen Menschen aus ganz Europa aus den Viehwaggons herausgetrieben wurden, die sie in tagelanger quälender Fahrt antransportiert hatten, wo sie sich in langen Reihen vor einigen wenigen SS Leuten aufstellen mußten und wo eine einzige Handbewegung eines der "Ärzte" über sofortige Vergasung oder langsames qualvolles Dahinsterben entschied. Am Ende der Schienen war die Endstation Tod. Hier waren die Gaskammern und Verbrennungsöfen, hier wurde Sterben produziert, zeitweilig bis zu ca. 40 000 Tote täglich. Meterhoch schlugen die Flammen aus den Kaminen der Öfen, ständig lag eine schwarze, entsetzlich stinkende Rauchwolke über dem Lager und der ganzen Landschaft.
Auschwitz I, das Stammlager, eine ehemalige Kaserne liegt drei Kilometer von hier entfernt. Hier wurde noch individuell in Haft gehalten, gedemütigt, gefoltert, erschossen, erhängt. Das 3. Lager gehörte zum Industriekombinat von IG Farben, hier wurde "Vernichtung durch Arbeit" vollzogen, Ausbeutung des Menschen bis zum letzten. Die Industrieanlagen stehen noch, das Lager nicht mehr. Das nur teilweise erhaltene Vernichtungslager Birkenau ist riesig, es überwältigt schon durch seine überdimensionale Ausdehnung, durch die Geradlinigkeit, Häßlichkeit und Stumpfsinnigkeit der Zäune, Gräben, Baracken, Wachtürme. Du bist ein Nichts, völlig verlassen und allein, das ist die Logik der ganzen Anlage.
Hier sitzen wir auf unseren Meditationskissen, schweigen und schauen auf diese Schienen, auf die Stacheldrahtzäune und Betonmasten der Lagerbeleuchtung, auf das endlose Ruinenfeld der einstigen Baracken, auf die noch von der SS geprengten Reste der Gaskammern und Krematorien. Himmlers Befehl, alle Spuren vollständig zu beseitigen, konnte nicht mehr zu Ende gebracht werden. Hinter den gespenstischen Betontrümmern befinden sich die Teiche für die Asche der Verbrannten und die Reste der Lagerhallen für die Endverwertung der Getöteten. Baracken säuberlich aufgeteilt für die Kleider, die Koffer, die Brillen, die Krücken, die Gebisse, die herausgerissenen Goldzähne, die abgeschnittenen Frauenhaare, die Zahnbürsten, die Kinderspielsachen usw....
Im Auschwitz-Museum, das in den Gebäuden des Stammlagers eingerichtet ist, sind die Reste jener menschlichen Habseligkeiten zu sehen, ein kleiner Teil von einst riesigen Halden. Und doch - es schnürt mir die Kehle zu, als ich vor dem gewaltigen Berg an Koffern stehe, Koffer auf denen noch die Namen und Herkunftsorte der einstigen Besitzer stehen. Und als ich den Berg von Frauenhaaren sehe, Locken und noch immer geflochtene Zöpfe, dunkle und blonde Haare, vom Alter alle inzwischen ergraut - da sehe ich die Haare meiner Mutter, meiner Schwestern, Partnerin, Tochter, Sangha-Freundinnen... Aus diesen Frauenhaaren wurden Teppiche und Stoffe gemacht. Viele Meter lange Stoffrollen sind hier ausgestellt.
Frauen wurden in Auschwitz in besonderer Weise entwürdigt. 1944 mußten im Vernichtungslager Birkenau 40 000 ungarische Frauen mehrere Monate lang völlig unbekleidet zubringen. SS-Frauen mit scharfen Hunden führten zugleich das Kommando. Es gab auch ein Lagerbordell mit zwangsprostituierten Jüdinnen, um die als Aufseher eingesetzten kriminellen Häftlinge bei Laune zu halten. Die Lagerhierarchie war diffenrenziert und genau durchdacht, sie beruhte auf dem Prinzip: nur der Gemeinste hat eine Chance. Auch die Häftlinge hatten noch andere Häftlinge, auf die sie eintreten konnten. Für kleinste Vorteile waren viele bereit, anderen den letzten Lebensrest zur Hölle zu machen. Ganz unten waren die Zigeuner, sie dienten als lebende medizinische Versuchsobjekte im Dienste der Wissenschaft.
Ca. 800 Juden waren ständig ausselektiert, um die Gaskammern und Verbrennungsöfen zu bedienen, permanent ihr eigenes Schicksal vor Augen, das sie nach einigen Wochen unausweichlich selbst erreichte. 7000 SS-Aufseher sorgten dafür, daß die Terror-Maschinerie reibungslos funktionierte. An den Abenden gingen sie dann zu ihren Ehegatten und Kindern nach Hause, küssten sie, lasen Geschichten vor, sangen deutsches Kulturgut am Klavier im milden Licht von Lampenschirmen, die aus Menschenhaut gemacht waren. Sie fragten nicht, sie fühlten nichts, sie waren sich keiner Schuld bewußt, sie taten nur ihre Pflicht.
Wir sitzen hier im Schweigen, in dieser Stille rundum, dick eingepackt, auf Kissen, Matten, Planen, manchmal bei dichtem Schneefall, manchmal auch bei kurzem Sonnenschein, meistens im Grau und Halbdunkel der Wintertage. Die Kälte zieht in uns hinein. Immer wieder geht mir der Gedanke durch den Kopf, wie konnten bei dieser Kälte hier Menschen auch nur ein paar Tage überleben, mit nichts weiter bekleidet als einem verschlissenen Kittel, einer dünnen Hose und Holzschuhen, die die halberfrorenen Füsse blutig scheuerten.
Wir sitzen in der Form eines Mandalas. In der Mitte, zwischen den Schienen ein einfacher Altar, ein paar größere Steine, eine schöne hölzerne Truhe, die jüdische Thorarolle daneben, ein Laib Brot und Kerzen darumherum. An der vier Toren des Mandalas sitzen abwechselnd jeweils vier von uns Teilnehmern und jeder hat eine lange Namensliste von Personen. Menschen, die hier in Auschwitz getötet worden waren. Eine Liste, akurat angefertigt von der SS-Lagerbürokratie: Name, Vorname, Wohnort, Geburtsdatum, Todesdatum. Endlose Listen, Listen von 4 Jahren Liquidierungsarbeit, bis man dazu übergegangen war, die Angekommenen direkt ins Gas zu schicken, ohne noch irgendwie zu fragen, wer, woher, warum... es waren einfach zu viele. Hatten doch die arischen Rasse-Hygieniker bereits beschlossen, daß nach Vollzug der "Endlösung" der Juden und Zigeuner, die Polen dran kommen sollten und danach sämtliche slawischen Völker und schließlich alle "asiatischen Unterrassen". Und da es nicht schnell genug ging, hatte man kurz vor Kriegsende noch damit begonnen, die Größe und Vernichtungskapazität des Lagers zu verdoppeln. Alles war gründlich, effektiv und klar durchdacht, perfekte deutsche Management- und Ingenieurarbeit, Produkte moderner Rationalität, nichts weiter als eine "Massnahme zur Gesundung des Volkskörpers".Wie sitzen mit Pausen von morgens 10 Uhr bis nachmittags 15 Uhr. Die Meditation wird eingeleitet und abgeschlossen vom Schofar, dem uralten Klang des Widderhorns der Hirtensöhne Israels. Wir schweigen - doch während des Schweigens lesen jeweils vier von uns an den vier Toren des Mandala gleichzeitig laut die alphabetisch durchsortierten Namen der Getöteten ihrer Liste: ... Herzog Alfred - Herzog Anabell - Herzog Anna - Herzog Anton - Herzog Anton Israel - Herzog Arnold David ... und so weiter und so weiter ... Jeder Name ein ganzer Mensch, ein Leben, ein Schicksal, eine Geschichte mit Verwandten, Freunden, Eltern, Kindern. So viele ganz vertraute Namen, so oft immer wieder die gleichen Namen. Das Vorlesen wird zur Rezitation, zur Rezitation eines Mantras, eines Mantras, das die Stille durchdröhnt, unseren umherscheifenden Geist schmerzhaft ins Erwachen reißt und die Herzen zu sprengen droht.
Eine unendliche Traurigkeit erfaßt mich, schüttelt mich und läßt mir die Tränen aus den Augen fliessen. Da ist eine so tiefe, grenzenlose Trauer, ein Schmerz, eine Verzweiflung. Etwas, das ich schon so lange in mir trage, seit meiner Kindheit, verschüttet immer da. Das ist nicht nur meine Traurigkeit, meine Verzweiflung sondern die von uns allen hier an diesem Ort, von allen Menschen wo auch immer, all den zahllosen leidenden Wesen... der ganze Raum, der Himmel, der Wind, die Erde, das Gras, die kleinen Steine, sie sind erfüllt von Schmerz...
Wer die Rezitation seiner Namensliste beendet hat, erhebt sich, geht langsam in die Mitte des Mandala zum dort errichteten Altar und legt seine Liste in die Holztruhe zu all den anderen Listen, nimmt Abschied von jenen Menschen, läßt ihnen seine Achtung und Ehrfurcht zukommen, beerdigt sie in Würde. Viele vollziehen Niederwerfungen auf dem eiskalten und steinigen Boden. Alle diese Toten, sie sind noch da, jeder von uns spürt es. Sie leben hier an diesem Ort, sie leben in den überlebenden Opfern und Tätern, sie leben in zahllosen Hinterbliebenen, sie leben fort in uns allen. Sie und wir konnten nicht Abschied nehmen. Hier geben wir ihnen und uns Abschied, lassen los, lassen Heilung zu.
Morgens vor der Meditation und zum Abschluß am Spätnachmittag finden an verschiedenen Plätzen des Lagers religiöse Andachten statt, am Morgen an getrennten Orten jeweils nach den vier verschiedenen religiösen Traditionen, am Nachmittag alle zusammen an einem Ort. Doch sind die Buddhisten nicht nur bei den Buddhisten zu finden und die Christen nicht nur unter sich, sondern jeder nimmt auch an den Andachten der jeweils anderen teil. Christen rufen Allah an, Buddhisten singen hebräische Lieder, Moslems rezitieren das Herzsutra. Es gibt unter uns verschiedene Wege, doch keine Grenzen mehr.
Wir stellen uns vor die Erschießungswand im Stammlager von Auschwitz - da wo die Opfer standen und da wo die Täter standen. Wir stehen um die Gaskammer und geben uns mit einer Verneigung Räucherstäbchen weiter. Mit Lichtern in den Händen steigen wir in die Keller hinab und verteilen sie auf dem Betonboden, auf dem Hunderttausende ihr Leben beendeten. Wir singen an den Ruinen der Krematorien das jüdische Kaddish, den Totengesang, der die zahllosen Namen Gottes preist. Wir rezitieren das Kaddish in verschiedenen Sprachen, auch in der, in der die Folterer und Mörder sprachen, in deutsch. Es fällt uns schwer. Doch als Rabbi Edward jiddische Geschichten vorliest, da verstehe ich fast jedes Wort, denn auch die Sprache der meisten Opfer war deutsch, bzw. jiddisch, ein altertümlicher süddeutscher Dialekt. Wir singen Lieder in zahlreichen Sprachen und die Rabbis aus den USA fordern uns Deutsche schließlich dazu auf, deutsche Kinder- und Abendlieder zu singen. Und Einige hören sie zum ersten Mal wieder seit ihrer Kindheit in einem fernen Land, das sie vertrieben hat.
So beginnt etwas, was wir kaum erwartet hatten. Es entsteht über die Tage hin unter uns eine Freude, eine Leichtigkeit, eine Wärme, die uns schließlich dazu führt, an den Gaskammern Lieder der Fröhlichkeit zu singen und um die Verbrennungsöfen gar zu tanzen. Wieder sind es die Rabbis, die uns dabei anführen. Uns Deutschen wird dabei ein weiteres Mal bewußt, was wir mit der Vertreibung und Vernichtung des Judentums geistig verloren haben, nämlich ein spirituelle Kultur der kindlichen Unbefangenheit und Freude. Denn der Rebbe (Rabbi) tanzt mit seiner Thora.
Dennoch, viele von uns können nachts nicht schlafen und gehen sogar im Dunkeln über das Gelände des Stammlagers. Morgens vor dem Frühstück treffen wir uns zu kleinen Gesprächsrunden und versuchen auszudrücken, was wir empfinden, fühlen, denken, was uns die Nacht und die Träume sagen und was wir anderen gerne sagen möchten. An den Abenden treffen wir uns im Museum des Stammlagers in großer Runde und wir erzählen uns unsere Geschichten und Gedanken. Wir machen Schritte, das Schweigen, die Wortlosigkeit, die innere Kälte und Erstarrung zu durchbrechen. Und was hier von jedem in seiner Weise zum Ausdruck kommt sind Worte, die uns alle zutiefst bewegen, Worte der Trauer und des Schmerzes, Worte der Befreiung und des Glücks.
Juden berichten von ihren Schuldgefühlen Überlebende zu sein. Deutsche sprechen von ihrem Schuldgefühl Kinder oder Angehörige von Tätern zu sein. In einer Organisation mit dem Namen 'One by One' begegnen sich seit Jahren Betroffene beider Seiten (NS-Opfer und NS-Täter), um sich kennenzulernen, um sich zu befreien, um sich zu heilen. Sie berichten uns von ihrem überaus schmerzvollen aber zutiefst beglückenden Weg. Manche erfuhren erst nach Jahrzehnten zufällig, daß ihre Eltern Juden und nur knapp Überlebende waren. Andere, daß ihr geliebter Vater aktiv an öffentlichen Exekutionen beteiligt war. Ein Österreicher sagt uns, daß seine Mutter Jüdin war und sein Vater bei der Gestapo. Ein polnischer Zenschüler erzählt leise und stockend, daß sein Vater 5 Jahre lang mehrere KZ's überlebte und als er schließlich nach Hause kam, sich selbst als KZ-Aufseher aufführte, seine Frau und Kinder herumkommandierte, demütigte und folterte. Für ihn gab es keine andere Lebensform mehr.
Der Schauspieler Michael O'Keefe liest uns vor aus dem erschütternden Buch des jüdischen Autors mit dem Pseudonym Ka-Tzetnik 135633. Es trägt den Titel: "Ich bin der SS-Mann". Der US-Schriftsteller und Zenlehrer Peter Matthiessen spricht über den Völkermord der Weißen an den Indianern Amerikas. Der Zenmönch und Thich Nhat Hanh-Schüler Claude AnShin Thomas stellt sich vor alle hin und sagt: "Ich bin ein Killer! Ich habe als Soldat im Vietnamkrieg mehrere Hundert Menschen getötet. Ich bin nicht anders als die, die hier die Juden ermordet haben." Sind wir denn anders? Warum schauen wir nur auf die Opfer? Wo sind die Täter? Verdienen diese schrecklichen Massenmörder Mitgefühl? Claude sagt: "Wer Täter ist, war selbst Opfer. Gewalt gebiert Gewalt, Wenn wir nicht zur tiefsten Natur unseres Leidens erwachen, dann beherrscht dies Leiden uns, dann führt es uns dazu, Leiden zu wiederholen und endlos an andere weiterzugeben. Das Leiden hört auf, wenn wir es in uns beenden. Der Krieg hört auf, wenn wir ihn in uns stoppen."
Um das Leiden zu beenden, müssen wir es sehen und berühren. das ist die erste Wahrheit des Buddha. Wir müssen das Schweigen, das Verdrängen, das Nichtsehen und Nicht-wahrhaben-wollen beenden. 50 Jahre lang haben wir Deutsche das Geschehene verdrängt, nur halb zur Kenntnis genommen, uns schnell wieder mit anderem beschäftigt, mit Arbeit, mit Konsum, mit Erfolg, Technik und Unterhaltung berauscht.
Viele der übelsten Verbrecher von Auschwitz, anderer KZ's und zahlloser weiterer Orte schrecklicher Verbrechen von Nazis an ihren Opfern, von Deutschen an anderen Völkern fanden nicht mal ihre normale rechtsstaatliche Verurteilung. Ja, etliche jener Verantwortlichen kamen im Wirtschaftwunder-Deutschland zu neuen Ehren oder beträchtlichem Vermögen. Und von den Richtern des NS-Unrechtstaates selbst, den Beteiligten des Volksgerichtshofs, der Sonder-, Kriegs- und Standgerichte wurde bis heute kein einziger durch ein deutsches Gericht angeklagt oder verurteilt. Die Teilung Deutschlands lieferte die willkommene Gelegenheit, das Verbrechen und die Schuld auf die jeweils andere Seite der Mauer zu schieben.
Heute sind wir wiedervereinigt und erleben die Wiederkehr des Verdrängten. Rechtsradikalismus, Ausländerfeindlichkeit, Aggression gegen Behinderte, Sozialer Zynismus, brutaler Egoismus, Gewaltkult und Kriegssehnsucht haben Konjunktur - verharmlost, gedeckt, ja angezettelt von staatlichen Vertretern und Institutionen wie ehemals. Auschwitz existiert immer noch in der deutschen Gesellschaft. Es ist weder vergessen, noch bewältigt, noch versöhnt. Und wir sind heute in großer Gefahr, das Rad der Wiedergeburt dieses Leids weiterzudrehen.
Zugleich gibt es aber auch den gewaltigen Erfolg von Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" und der Tagebücher des jüdischen Romanisten Victor Klemperer; eine monatelange öffentliche Diskussion um das Verhalten der "ganz normalen" Deutschen bei der Ausgrenzung des Anderen, "des Juden"; die Auseinandersetzung um die Verbrechen einer bislang immer noch als ehrenhaft glorifizierten Wehrmacht, die doch auf einen Massenmörder eingeschworen war; eine neue intensive Beschäftigung mit der Schuld und Verantwortung des Einzelnen. Und dieses neue Hinschauen hat auch andere europäische Länder und Machtinstitutionen erfasst. Die Schweiz und ihre Banken sind mit ihrer Bereicherung am jüdischen Gold konfrontiert, Frankreich mit seiner Kollaboration bei der Judendeportation, England und die USA damit, daß sie alles über Auschwitz wußten und nichts dagegen unternahmen und die christlichen Kirchen müssen erkennen, daß der Judenhass in ihrem Schoss, in ihrer 'frohen Botschaft' wurzelt.
Wer ist frei von Schuld? Wären wir Buddhisten frei von Schuld, wenn wir hier damals bereits größere Bedeutung gehabt hätten? Wo ist die Stimme der Buddhisten in Deutschland heute, wo sich aggressiver Hass, Gier und Verblendung in unsrer alltäglichen Lebenswelt und Gesellschaft zeigt? Wo ist unser aktives Mitgefühl (Karuna), wenn in Deutschland lebende Ausländer, ja als Buddhisten geborene Dharma-Angehörige bedroht werden, Thais, Vietnamesen, Singhalesen, Koreaner? Und darüberhinaus: sind wir unter uns frei von Feindschaft, Verleumdung, Hochmut, Gruppenegoismus, Sektierertum und Fanatismus? Ist unsere Dharmapraxis selbst frei von Gewalt, Diskriminierung, blinder Unterwerfung? Sind wir frei von all dem, was Auschwitz ausmachte und entstehen lies?
Auch das Eingeständnis von Schuld macht uns nicht frei davon. Der Begriff 'Schuld' entspricht der Logik von Gerichten, er verurteilt und bestraft aber er heilt nicht. Wenn wir Leiden und unseren Anteil daran überwinden wollen, dann bedarf es des tieferen Hinschauens. Dann bedarf es der umfassenden Selbsterkenntnis und der Übernahme der vollen Verantwortung für uns selbst. Dann gilt es zu erkennen, daß ich nicht getrennt bin von Anderen und anderem und daß meine Verantwortung für mich Verantwortung für alle ist, dass mein Karma das Karma des anderen ist.
Denn Karma ist das Mass unserer Einsicht in die Natur des Leidens, meines Leidens, anderer Leiden. Diese Einsicht läßt mich erkennen, daß ich die Wurzel des Leids bin. Sie läßt mich erkennen, daß Auschwitz in mir existiert. Auschwitz lebt in uns allen, als Opfer und als Täter von Leid, als Möglichkeit, als Angst, als Verdrängung, als Fortwirkung, als Erschütterung, als Bewußtheit.
Auschwitz ist ein furchtbarer Ort - und Auschwitz ist ein heiliger Ort. Auschwitz konfrontiert uns mit den Grenzen des Menschseins, den Grenzen der Wirklichkeit, den Grenzen des Lebens. Jenseits davon ist Transzendenz: die Vernichtung, der Wahn, die Hölle oder - die Befreiung, das Erwachen, die Liebe.
Auschwitz macht uns wortlos. Es läßt verstummen und schweigen. Aber dieses Schweigen hat zwei Tore: das Schweigen, das sich verschließt, das nicht sehen und hören will, das Schweigen das leugnet, während das Leid und das Verbrechen erneut hervortreten - und das Schweigen der Meditation, das Schweigen das wahrnimmt, das die Wahrheit annimmt, das öffnet, das uns leer macht, das uns von aller Aus- und Abgrenzung befreit. Im Schweigen der Meditation ist Transformation möglich und kann Erwachen geschehen: tiefe Einsicht, umfassendes Mitgefühl und große Freude.
Etwas von dieser Transformation ist in der Woche in Auschwitz unter uns geschehen. Als wir uns verabschiedeten, da war bei allen ein tiefes Glück und ein starker innerer Friede da. So feierten wir den letzten Abend als 'Thanksgiving Day'. Und als wir zuletzt in Krakaus uraltem jüdischem Viertel in einem ebenso alten jiddischen Gasthaus saßen und polnische Studenten Klesmer-Musik spielten, da warf Glassman Roshi seine Schuhe weg und tanzte strahlend durch den ganzen Raum.
Copyright 2004 © by Netzwerk engagierter Buddhisten
von Franz-Johannes Litsch
Auschwitz macht sprachlos. Auschwitz - das Wort bereits läßt verstummen. An Auschwitz versagen unsere Sprache, unsere Vorstellungen, alle Versuche diesem Ort und seiner Wirklichkeit Ausdruck zu geben. Und doch - ich möchte darüber sprechen, möchte etwas weitergeben von dem, was ich im Winter 1996 in Auschwitz zusammen mit anderen erlebt und erfahren habe.
Tetsugen Bernard Glassman Roshi, Zenmeister aus New York, Dharma-Nachfolger von Maezumi Roshi hatte eingeladen. Menschen aus aller Welt, aus allen Religionen, allen Schulen des Buddhismus waren dazu aufgerufen, mit ihm eine Woche nach Auschwitz zu kommen und dort unmittelbar am Ort des Todes, der Vernichtung und des Grauens zu sitzen und sich zu begegnen. Es kamen ca. 150 Personen aus zahlreichen Ländern, vor allem aus den USA, aus Argentinien, Japan, Israel, England, Frankreich, Italien, Holland, der Schweiz, aus Polen und Deutschland. Und es waren Vertreter und Angehörige von vier großen Weltreligionen da, darunter jüdische Rabbis, christliche Pfarrer, katholische Mönche und Nonnen, ein islamischer Imam, buddhistische Lehrer, Priester, Mönche, Nonnen.
Etliche von ihnen waren direkt oder indirekt Betroffene von dem, was an diesem Ort oder in Zusammenhang mit diesem Ort geschehen war. Viele waren Juden, wie Glassman Roshi selbst oder Jishu Holmes, seine Lebenspartnerin oder Eve Marko, die Organisatorin des Treffens. Oder sie waren unmittelbar Kinder oder nahe Angehörige von Juden und Polen, die in Auschwitz umgebracht worden waren oder die den Holocaust gerade noch überlebt haben. Einige von ihnen stehen noch heute unter der Last dieser Vergangenheit, können den abgrundtiefen Schmerz, die Trauer, die Angst nicht überwinden. Aber viele von den Teilnehmer waren auch Nicht-Betroffene, von ihrer Herkunft, von ihrer Nationalität, von ihrem Alter her.
Es war Anfang Dezember, die Zeit in der Shakyamuni Buddha nach Mahayana-Tradition unter dem Bodhi-Baum das große Erwachen erfuhr, die Zeit in der in den japanischen Zen-Klöstern das besonders intensive Rohatsu-Sesshin stattfindet. Eine Zeit, in der die Tage immer dunkler werden, in der es bereits empfindlich kalt ist, wo der Boden gefriert und der erste Schnee fällt. Es war tatsächlich sehr kalt in Polen und Auschwitz. Die Pfützen und Wasserläufe waren bereits eisbedeckt, die Häuser und Landschaften schwarzweiß, die Bäume nur noch starre Gerippe, der Himmel eine düstere, schwere Decke.
Warum dann an diesen Ort gehen? Warum hier sitzen und meditieren, warum hier Sutras rezitieren, jüdische Lieder singen, christliche Gebete sprechen, islamische Sufitänze lernen? Hier, an den Schienen der Rampe von Auschwitz-Birkenau, einer Industrieanlage, die zu nichts anderem da war als Menschen soviel an Zahl und so schnell wie möglich vollständig zu vernichten. Hier wo 1,5 Millionen Menschen aus ganz Europa aus den Viehwaggons herausgetrieben wurden, die sie in tagelanger quälender Fahrt antransportiert hatten, wo sie sich in langen Reihen vor einigen wenigen SS Leuten aufstellen mußten und wo eine einzige Handbewegung eines der "Ärzte" über sofortige Vergasung oder langsames qualvolles Dahinsterben entschied. Am Ende der Schienen war die Endstation Tod. Hier waren die Gaskammern und Verbrennungsöfen, hier wurde Sterben produziert, zeitweilig bis zu ca. 40 000 Tote täglich. Meterhoch schlugen die Flammen aus den Kaminen der Öfen, ständig lag eine schwarze, entsetzlich stinkende Rauchwolke über dem Lager und der ganzen Landschaft.
Auschwitz I, das Stammlager, eine ehemalige Kaserne liegt drei Kilometer von hier entfernt. Hier wurde noch individuell in Haft gehalten, gedemütigt, gefoltert, erschossen, erhängt. Das 3. Lager gehörte zum Industriekombinat von IG Farben, hier wurde "Vernichtung durch Arbeit" vollzogen, Ausbeutung des Menschen bis zum letzten. Die Industrieanlagen stehen noch, das Lager nicht mehr. Das nur teilweise erhaltene Vernichtungslager Birkenau ist riesig, es überwältigt schon durch seine überdimensionale Ausdehnung, durch die Geradlinigkeit, Häßlichkeit und Stumpfsinnigkeit der Zäune, Gräben, Baracken, Wachtürme. Du bist ein Nichts, völlig verlassen und allein, das ist die Logik der ganzen Anlage.
Hier sitzen wir auf unseren Meditationskissen, schweigen und schauen auf diese Schienen, auf die Stacheldrahtzäune und Betonmasten der Lagerbeleuchtung, auf das endlose Ruinenfeld der einstigen Baracken, auf die noch von der SS geprengten Reste der Gaskammern und Krematorien. Himmlers Befehl, alle Spuren vollständig zu beseitigen, konnte nicht mehr zu Ende gebracht werden. Hinter den gespenstischen Betontrümmern befinden sich die Teiche für die Asche der Verbrannten und die Reste der Lagerhallen für die Endverwertung der Getöteten. Baracken säuberlich aufgeteilt für die Kleider, die Koffer, die Brillen, die Krücken, die Gebisse, die herausgerissenen Goldzähne, die abgeschnittenen Frauenhaare, die Zahnbürsten, die Kinderspielsachen usw....
Im Auschwitz-Museum, das in den Gebäuden des Stammlagers eingerichtet ist, sind die Reste jener menschlichen Habseligkeiten zu sehen, ein kleiner Teil von einst riesigen Halden. Und doch - es schnürt mir die Kehle zu, als ich vor dem gewaltigen Berg an Koffern stehe, Koffer auf denen noch die Namen und Herkunftsorte der einstigen Besitzer stehen. Und als ich den Berg von Frauenhaaren sehe, Locken und noch immer geflochtene Zöpfe, dunkle und blonde Haare, vom Alter alle inzwischen ergraut - da sehe ich die Haare meiner Mutter, meiner Schwestern, Partnerin, Tochter, Sangha-Freundinnen... Aus diesen Frauenhaaren wurden Teppiche und Stoffe gemacht. Viele Meter lange Stoffrollen sind hier ausgestellt.
Frauen wurden in Auschwitz in besonderer Weise entwürdigt. 1944 mußten im Vernichtungslager Birkenau 40 000 ungarische Frauen mehrere Monate lang völlig unbekleidet zubringen. SS-Frauen mit scharfen Hunden führten zugleich das Kommando. Es gab auch ein Lagerbordell mit zwangsprostituierten Jüdinnen, um die als Aufseher eingesetzten kriminellen Häftlinge bei Laune zu halten. Die Lagerhierarchie war diffenrenziert und genau durchdacht, sie beruhte auf dem Prinzip: nur der Gemeinste hat eine Chance. Auch die Häftlinge hatten noch andere Häftlinge, auf die sie eintreten konnten. Für kleinste Vorteile waren viele bereit, anderen den letzten Lebensrest zur Hölle zu machen. Ganz unten waren die Zigeuner, sie dienten als lebende medizinische Versuchsobjekte im Dienste der Wissenschaft.
Ca. 800 Juden waren ständig ausselektiert, um die Gaskammern und Verbrennungsöfen zu bedienen, permanent ihr eigenes Schicksal vor Augen, das sie nach einigen Wochen unausweichlich selbst erreichte. 7000 SS-Aufseher sorgten dafür, daß die Terror-Maschinerie reibungslos funktionierte. An den Abenden gingen sie dann zu ihren Ehegatten und Kindern nach Hause, küssten sie, lasen Geschichten vor, sangen deutsches Kulturgut am Klavier im milden Licht von Lampenschirmen, die aus Menschenhaut gemacht waren. Sie fragten nicht, sie fühlten nichts, sie waren sich keiner Schuld bewußt, sie taten nur ihre Pflicht.
Wir sitzen hier im Schweigen, in dieser Stille rundum, dick eingepackt, auf Kissen, Matten, Planen, manchmal bei dichtem Schneefall, manchmal auch bei kurzem Sonnenschein, meistens im Grau und Halbdunkel der Wintertage. Die Kälte zieht in uns hinein. Immer wieder geht mir der Gedanke durch den Kopf, wie konnten bei dieser Kälte hier Menschen auch nur ein paar Tage überleben, mit nichts weiter bekleidet als einem verschlissenen Kittel, einer dünnen Hose und Holzschuhen, die die halberfrorenen Füsse blutig scheuerten.
Wir sitzen in der Form eines Mandalas. In der Mitte, zwischen den Schienen ein einfacher Altar, ein paar größere Steine, eine schöne hölzerne Truhe, die jüdische Thorarolle daneben, ein Laib Brot und Kerzen darumherum. An der vier Toren des Mandalas sitzen abwechselnd jeweils vier von uns Teilnehmern und jeder hat eine lange Namensliste von Personen. Menschen, die hier in Auschwitz getötet worden waren. Eine Liste, akurat angefertigt von der SS-Lagerbürokratie: Name, Vorname, Wohnort, Geburtsdatum, Todesdatum. Endlose Listen, Listen von 4 Jahren Liquidierungsarbeit, bis man dazu übergegangen war, die Angekommenen direkt ins Gas zu schicken, ohne noch irgendwie zu fragen, wer, woher, warum... es waren einfach zu viele. Hatten doch die arischen Rasse-Hygieniker bereits beschlossen, daß nach Vollzug der "Endlösung" der Juden und Zigeuner, die Polen dran kommen sollten und danach sämtliche slawischen Völker und schließlich alle "asiatischen Unterrassen". Und da es nicht schnell genug ging, hatte man kurz vor Kriegsende noch damit begonnen, die Größe und Vernichtungskapazität des Lagers zu verdoppeln. Alles war gründlich, effektiv und klar durchdacht, perfekte deutsche Management- und Ingenieurarbeit, Produkte moderner Rationalität, nichts weiter als eine "Massnahme zur Gesundung des Volkskörpers".Wie sitzen mit Pausen von morgens 10 Uhr bis nachmittags 15 Uhr. Die Meditation wird eingeleitet und abgeschlossen vom Schofar, dem uralten Klang des Widderhorns der Hirtensöhne Israels. Wir schweigen - doch während des Schweigens lesen jeweils vier von uns an den vier Toren des Mandala gleichzeitig laut die alphabetisch durchsortierten Namen der Getöteten ihrer Liste: ... Herzog Alfred - Herzog Anabell - Herzog Anna - Herzog Anton - Herzog Anton Israel - Herzog Arnold David ... und so weiter und so weiter ... Jeder Name ein ganzer Mensch, ein Leben, ein Schicksal, eine Geschichte mit Verwandten, Freunden, Eltern, Kindern. So viele ganz vertraute Namen, so oft immer wieder die gleichen Namen. Das Vorlesen wird zur Rezitation, zur Rezitation eines Mantras, eines Mantras, das die Stille durchdröhnt, unseren umherscheifenden Geist schmerzhaft ins Erwachen reißt und die Herzen zu sprengen droht.
Eine unendliche Traurigkeit erfaßt mich, schüttelt mich und läßt mir die Tränen aus den Augen fliessen. Da ist eine so tiefe, grenzenlose Trauer, ein Schmerz, eine Verzweiflung. Etwas, das ich schon so lange in mir trage, seit meiner Kindheit, verschüttet immer da. Das ist nicht nur meine Traurigkeit, meine Verzweiflung sondern die von uns allen hier an diesem Ort, von allen Menschen wo auch immer, all den zahllosen leidenden Wesen... der ganze Raum, der Himmel, der Wind, die Erde, das Gras, die kleinen Steine, sie sind erfüllt von Schmerz...
Wer die Rezitation seiner Namensliste beendet hat, erhebt sich, geht langsam in die Mitte des Mandala zum dort errichteten Altar und legt seine Liste in die Holztruhe zu all den anderen Listen, nimmt Abschied von jenen Menschen, läßt ihnen seine Achtung und Ehrfurcht zukommen, beerdigt sie in Würde. Viele vollziehen Niederwerfungen auf dem eiskalten und steinigen Boden. Alle diese Toten, sie sind noch da, jeder von uns spürt es. Sie leben hier an diesem Ort, sie leben in den überlebenden Opfern und Tätern, sie leben in zahllosen Hinterbliebenen, sie leben fort in uns allen. Sie und wir konnten nicht Abschied nehmen. Hier geben wir ihnen und uns Abschied, lassen los, lassen Heilung zu.
Morgens vor der Meditation und zum Abschluß am Spätnachmittag finden an verschiedenen Plätzen des Lagers religiöse Andachten statt, am Morgen an getrennten Orten jeweils nach den vier verschiedenen religiösen Traditionen, am Nachmittag alle zusammen an einem Ort. Doch sind die Buddhisten nicht nur bei den Buddhisten zu finden und die Christen nicht nur unter sich, sondern jeder nimmt auch an den Andachten der jeweils anderen teil. Christen rufen Allah an, Buddhisten singen hebräische Lieder, Moslems rezitieren das Herzsutra. Es gibt unter uns verschiedene Wege, doch keine Grenzen mehr.
Wir stellen uns vor die Erschießungswand im Stammlager von Auschwitz - da wo die Opfer standen und da wo die Täter standen. Wir stehen um die Gaskammer und geben uns mit einer Verneigung Räucherstäbchen weiter. Mit Lichtern in den Händen steigen wir in die Keller hinab und verteilen sie auf dem Betonboden, auf dem Hunderttausende ihr Leben beendeten. Wir singen an den Ruinen der Krematorien das jüdische Kaddish, den Totengesang, der die zahllosen Namen Gottes preist. Wir rezitieren das Kaddish in verschiedenen Sprachen, auch in der, in der die Folterer und Mörder sprachen, in deutsch. Es fällt uns schwer. Doch als Rabbi Edward jiddische Geschichten vorliest, da verstehe ich fast jedes Wort, denn auch die Sprache der meisten Opfer war deutsch, bzw. jiddisch, ein altertümlicher süddeutscher Dialekt. Wir singen Lieder in zahlreichen Sprachen und die Rabbis aus den USA fordern uns Deutsche schließlich dazu auf, deutsche Kinder- und Abendlieder zu singen. Und Einige hören sie zum ersten Mal wieder seit ihrer Kindheit in einem fernen Land, das sie vertrieben hat.
So beginnt etwas, was wir kaum erwartet hatten. Es entsteht über die Tage hin unter uns eine Freude, eine Leichtigkeit, eine Wärme, die uns schließlich dazu führt, an den Gaskammern Lieder der Fröhlichkeit zu singen und um die Verbrennungsöfen gar zu tanzen. Wieder sind es die Rabbis, die uns dabei anführen. Uns Deutschen wird dabei ein weiteres Mal bewußt, was wir mit der Vertreibung und Vernichtung des Judentums geistig verloren haben, nämlich ein spirituelle Kultur der kindlichen Unbefangenheit und Freude. Denn der Rebbe (Rabbi) tanzt mit seiner Thora.
Dennoch, viele von uns können nachts nicht schlafen und gehen sogar im Dunkeln über das Gelände des Stammlagers. Morgens vor dem Frühstück treffen wir uns zu kleinen Gesprächsrunden und versuchen auszudrücken, was wir empfinden, fühlen, denken, was uns die Nacht und die Träume sagen und was wir anderen gerne sagen möchten. An den Abenden treffen wir uns im Museum des Stammlagers in großer Runde und wir erzählen uns unsere Geschichten und Gedanken. Wir machen Schritte, das Schweigen, die Wortlosigkeit, die innere Kälte und Erstarrung zu durchbrechen. Und was hier von jedem in seiner Weise zum Ausdruck kommt sind Worte, die uns alle zutiefst bewegen, Worte der Trauer und des Schmerzes, Worte der Befreiung und des Glücks.
Juden berichten von ihren Schuldgefühlen Überlebende zu sein. Deutsche sprechen von ihrem Schuldgefühl Kinder oder Angehörige von Tätern zu sein. In einer Organisation mit dem Namen 'One by One' begegnen sich seit Jahren Betroffene beider Seiten (NS-Opfer und NS-Täter), um sich kennenzulernen, um sich zu befreien, um sich zu heilen. Sie berichten uns von ihrem überaus schmerzvollen aber zutiefst beglückenden Weg. Manche erfuhren erst nach Jahrzehnten zufällig, daß ihre Eltern Juden und nur knapp Überlebende waren. Andere, daß ihr geliebter Vater aktiv an öffentlichen Exekutionen beteiligt war. Ein Österreicher sagt uns, daß seine Mutter Jüdin war und sein Vater bei der Gestapo. Ein polnischer Zenschüler erzählt leise und stockend, daß sein Vater 5 Jahre lang mehrere KZ's überlebte und als er schließlich nach Hause kam, sich selbst als KZ-Aufseher aufführte, seine Frau und Kinder herumkommandierte, demütigte und folterte. Für ihn gab es keine andere Lebensform mehr.
Der Schauspieler Michael O'Keefe liest uns vor aus dem erschütternden Buch des jüdischen Autors mit dem Pseudonym Ka-Tzetnik 135633. Es trägt den Titel: "Ich bin der SS-Mann". Der US-Schriftsteller und Zenlehrer Peter Matthiessen spricht über den Völkermord der Weißen an den Indianern Amerikas. Der Zenmönch und Thich Nhat Hanh-Schüler Claude AnShin Thomas stellt sich vor alle hin und sagt: "Ich bin ein Killer! Ich habe als Soldat im Vietnamkrieg mehrere Hundert Menschen getötet. Ich bin nicht anders als die, die hier die Juden ermordet haben." Sind wir denn anders? Warum schauen wir nur auf die Opfer? Wo sind die Täter? Verdienen diese schrecklichen Massenmörder Mitgefühl? Claude sagt: "Wer Täter ist, war selbst Opfer. Gewalt gebiert Gewalt, Wenn wir nicht zur tiefsten Natur unseres Leidens erwachen, dann beherrscht dies Leiden uns, dann führt es uns dazu, Leiden zu wiederholen und endlos an andere weiterzugeben. Das Leiden hört auf, wenn wir es in uns beenden. Der Krieg hört auf, wenn wir ihn in uns stoppen."
Um das Leiden zu beenden, müssen wir es sehen und berühren. das ist die erste Wahrheit des Buddha. Wir müssen das Schweigen, das Verdrängen, das Nichtsehen und Nicht-wahrhaben-wollen beenden. 50 Jahre lang haben wir Deutsche das Geschehene verdrängt, nur halb zur Kenntnis genommen, uns schnell wieder mit anderem beschäftigt, mit Arbeit, mit Konsum, mit Erfolg, Technik und Unterhaltung berauscht.
Viele der übelsten Verbrecher von Auschwitz, anderer KZ's und zahlloser weiterer Orte schrecklicher Verbrechen von Nazis an ihren Opfern, von Deutschen an anderen Völkern fanden nicht mal ihre normale rechtsstaatliche Verurteilung. Ja, etliche jener Verantwortlichen kamen im Wirtschaftwunder-Deutschland zu neuen Ehren oder beträchtlichem Vermögen. Und von den Richtern des NS-Unrechtstaates selbst, den Beteiligten des Volksgerichtshofs, der Sonder-, Kriegs- und Standgerichte wurde bis heute kein einziger durch ein deutsches Gericht angeklagt oder verurteilt. Die Teilung Deutschlands lieferte die willkommene Gelegenheit, das Verbrechen und die Schuld auf die jeweils andere Seite der Mauer zu schieben.
Heute sind wir wiedervereinigt und erleben die Wiederkehr des Verdrängten. Rechtsradikalismus, Ausländerfeindlichkeit, Aggression gegen Behinderte, Sozialer Zynismus, brutaler Egoismus, Gewaltkult und Kriegssehnsucht haben Konjunktur - verharmlost, gedeckt, ja angezettelt von staatlichen Vertretern und Institutionen wie ehemals. Auschwitz existiert immer noch in der deutschen Gesellschaft. Es ist weder vergessen, noch bewältigt, noch versöhnt. Und wir sind heute in großer Gefahr, das Rad der Wiedergeburt dieses Leids weiterzudrehen.
Zugleich gibt es aber auch den gewaltigen Erfolg von Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" und der Tagebücher des jüdischen Romanisten Victor Klemperer; eine monatelange öffentliche Diskussion um das Verhalten der "ganz normalen" Deutschen bei der Ausgrenzung des Anderen, "des Juden"; die Auseinandersetzung um die Verbrechen einer bislang immer noch als ehrenhaft glorifizierten Wehrmacht, die doch auf einen Massenmörder eingeschworen war; eine neue intensive Beschäftigung mit der Schuld und Verantwortung des Einzelnen. Und dieses neue Hinschauen hat auch andere europäische Länder und Machtinstitutionen erfasst. Die Schweiz und ihre Banken sind mit ihrer Bereicherung am jüdischen Gold konfrontiert, Frankreich mit seiner Kollaboration bei der Judendeportation, England und die USA damit, daß sie alles über Auschwitz wußten und nichts dagegen unternahmen und die christlichen Kirchen müssen erkennen, daß der Judenhass in ihrem Schoss, in ihrer 'frohen Botschaft' wurzelt.
Wer ist frei von Schuld? Wären wir Buddhisten frei von Schuld, wenn wir hier damals bereits größere Bedeutung gehabt hätten? Wo ist die Stimme der Buddhisten in Deutschland heute, wo sich aggressiver Hass, Gier und Verblendung in unsrer alltäglichen Lebenswelt und Gesellschaft zeigt? Wo ist unser aktives Mitgefühl (Karuna), wenn in Deutschland lebende Ausländer, ja als Buddhisten geborene Dharma-Angehörige bedroht werden, Thais, Vietnamesen, Singhalesen, Koreaner? Und darüberhinaus: sind wir unter uns frei von Feindschaft, Verleumdung, Hochmut, Gruppenegoismus, Sektierertum und Fanatismus? Ist unsere Dharmapraxis selbst frei von Gewalt, Diskriminierung, blinder Unterwerfung? Sind wir frei von all dem, was Auschwitz ausmachte und entstehen lies?
Auch das Eingeständnis von Schuld macht uns nicht frei davon. Der Begriff 'Schuld' entspricht der Logik von Gerichten, er verurteilt und bestraft aber er heilt nicht. Wenn wir Leiden und unseren Anteil daran überwinden wollen, dann bedarf es des tieferen Hinschauens. Dann bedarf es der umfassenden Selbsterkenntnis und der Übernahme der vollen Verantwortung für uns selbst. Dann gilt es zu erkennen, daß ich nicht getrennt bin von Anderen und anderem und daß meine Verantwortung für mich Verantwortung für alle ist, dass mein Karma das Karma des anderen ist.
Denn Karma ist das Mass unserer Einsicht in die Natur des Leidens, meines Leidens, anderer Leiden. Diese Einsicht läßt mich erkennen, daß ich die Wurzel des Leids bin. Sie läßt mich erkennen, daß Auschwitz in mir existiert. Auschwitz lebt in uns allen, als Opfer und als Täter von Leid, als Möglichkeit, als Angst, als Verdrängung, als Fortwirkung, als Erschütterung, als Bewußtheit.
Auschwitz ist ein furchtbarer Ort - und Auschwitz ist ein heiliger Ort. Auschwitz konfrontiert uns mit den Grenzen des Menschseins, den Grenzen der Wirklichkeit, den Grenzen des Lebens. Jenseits davon ist Transzendenz: die Vernichtung, der Wahn, die Hölle oder - die Befreiung, das Erwachen, die Liebe.
Auschwitz macht uns wortlos. Es läßt verstummen und schweigen. Aber dieses Schweigen hat zwei Tore: das Schweigen, das sich verschließt, das nicht sehen und hören will, das Schweigen das leugnet, während das Leid und das Verbrechen erneut hervortreten - und das Schweigen der Meditation, das Schweigen das wahrnimmt, das die Wahrheit annimmt, das öffnet, das uns leer macht, das uns von aller Aus- und Abgrenzung befreit. Im Schweigen der Meditation ist Transformation möglich und kann Erwachen geschehen: tiefe Einsicht, umfassendes Mitgefühl und große Freude.
Etwas von dieser Transformation ist in der Woche in Auschwitz unter uns geschehen. Als wir uns verabschiedeten, da war bei allen ein tiefes Glück und ein starker innerer Friede da. So feierten wir den letzten Abend als 'Thanksgiving Day'. Und als wir zuletzt in Krakaus uraltem jüdischem Viertel in einem ebenso alten jiddischen Gasthaus saßen und polnische Studenten Klesmer-Musik spielten, da warf Glassman Roshi seine Schuhe weg und tanzte strahlend durch den ganzen Raum.
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