Das Ich als Ware
Die Ökonomie der Aufmerksamkeit und Buddhas Praxis der Achtsamkeit
Franz-Johannes Litsch
In der ersten Lehrrede nach seinem Erwachen kennzeichnete Siddhartha Gautama Buddha den Menschen als ein Wesen, das von “Durst” (tanha) getrieben ist. Er meinte damit nicht nur den körperlichen Nahrungsbedarf aller Lebewesen sondern mehr noch den Durst nach Sein (bhava) oder Nicht-sein (abhava), nach Haben-wollen (Begehren, lobha) und Nicht-haben-wollen (Abneigung, dosa); vor allem aber den Durst nach Ich-sein, nach Abgrenzung, Verewigung und Bestätigung seines Selbst (atta).
Buddha nahm damit vor 2500 Jahren eine Einsicht vorweg, die auch für die moderne Ökonomie, Soziologie und Psychologie zentral ist. Hier wird der Mensch als ein “Mängelwesen” beschrieben, als ein Lebewesen, das durchgehend geleitet ist von “Bedürfnissen” und “Trieben”, vom Verlangen nach Nahrung, Kleidung, Behausung und Sexualität. Sind die Primärbedürfnisse gestillt, gewinnen die immateriellen Bedürfnisse umso mehr an Bedeutung (siehe Maslowsche Bedürfnis-Pyramide). Es wird wichtig, Beachtung zu finden, Anerkennung und Erfolg zu haben oder Wissen, Macht, Reichtum oder Ruhm zu erlangen. Vor allem geht es darum, eine “Identität” zu “besitzen”.
In den reichen Industrieländern werden die grundlegenden materiellen Bedürfnisse der Menschen heute im allgemeinen befriedigt. Zwar in wachsendem Masse nicht mehr so abgesichert und ausreichend wie noch vor wenigen Jahrzehnten, doch für die meisten noch genügend, für etliche geradezu im Überfluss. Der Wirtschaft fehlt es auch nicht an Angeboten und Produzenten, sondern an Käufern und Konsumenten. Sie leidet nicht, wie einst in den Ländern des sog. Sozialismus, an einer Unterproduktion sondern an einer
Überproduktion von Waren. Darum müssen die Menschen dazu gebracht werden, mehr zu kaufen und mehr zu verbrauchen. Werbung und Marketing haben in der industriellen Überproduktionsgesellschaft darum eine riesige Bedeutung gewonnen.
Da wir zudem vom ökonomischen Zwangskonzept des endlosen Wirtschaftswachstums beherrscht sind, ist es nötig, fortlaufend neue Wünsche, Bedürfnisse, Begierden, Ansprüche zu wecken. Das zwingt die Firmen, mit ihren Produkten ständig neu öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Und so ist neben der Ökonomie der materiellen Waren eine zweite Ökonomie entstanden, die “Ökonomie der Aufmerksamkeit”. Die funktioniert in vielem wie die erste - nur sind ihre Waren immateriell. Sie produziert geistige Güter, nämlich Aufmerksamkeit, Beachtung, Bekanntheit. Und wie in der herkömmlichen Wirtschaft gibt es auch hier erbitterte Kon-
kurrenz: den Kampf um Wahrnehmung (Einschaltquoten, Auflagenhöhe, Nachfrage). In gleicher Weise gibt es hier Reiche und Arme; wird bei den einen Aufmerksamkeitskapital akkumuliert - bei den Promis und Medienstars - und fallen andere in Armut - die Anonymen, Vergessenen, Überflüssigen.
Längst werden wir, wie von Waren, auch von Werbung, Scheininformation, Entertainment und “Kommunikationsdesign” überschwemmt und die Welt der technischen Medien nimmt den Charakter von permanenter Allgegenwart an. Wir sind zur virtuellen Medien- und Kommunikationsgesellschaft geworden. Um in dieser noch die Aufmerksamkeit der Menschen zu erlangen - die eine ebenso knappe Ressource ist, wie die Kaufkraft der Menschen - müssen die Mittel immer raffinierter und extremer werden. Eine grenzenlose Eskalationsspirale um Aufmerksamkeit ist im Gang. Provokation, Aggression, Gewalt und Sex haben den meisten Erfolg. Die ignorierten gesellschaftlichen Folgen zeigen sich gelegentlich in schockierenden Ereignissen und Tragödien, die sich ihrerseits wiederum profitträchtig vermarkten lassen und den Kreislauf zusätzlich vorantreiben. Auf diese Weise sind wir in einen Zustand weltweiter bedrohlicher Gewalt-Eskalation geraten. Die heutige Jugendgewalt, der Terrorismus, wie auch der Krieg gegen diesen sind direkte Folgen der Ökonomie der Aufmerksamkeit, daran zu erkennen, wie sehr die Täter darauf bedacht sind, sich medien-wirksam (über TV, Video, Internet, Handy usw.) in Szene zu setzen.
Dennoch, die Produktion weiterer Aufmerksamkeit auf diesem Wege hat ebenfalls ihre Grenze erlangt. Auch hier befindet sich die moderne Gesellschaft in einer Überproduktionskrise. Die Vordenker unserer Ökonomie haben sich darum auf die Suche nach neuen Wegen der Aktivierung unseres Durstes gemacht. Die vor wenigen Jahrzehnten gefundene Antwort prägt – von den meisten Menschen kaum bewusst wahrgenommen – zunehmend unsere soziale und kulturelle Wirklichkeit. Sie heißt: wir produzieren und verkaufen keine dinglichen Waren mehr, sondern wir verkaufen Lifestyle, Profil, Image, Identität.
Nichts steht für den modernen Menschen so sehr im Zentrum seines Interesses wie das eigene Ich. Mit unserem Ich befinden wir uns nun alle auf dem globalen Markt der Aufmerksamkeit. Ob es um den Job, die Wohnung, den Partner, die Freunde, die Freizeit, das Lebensglück geht – in dieser Ökonomie ist nur erfolgreich, wer sich attraktiv macht und selbst vermarktet. Der Begriff „Ich-AG” kennzeichnet die Situation treffend. Das neue marktgemäße Ich hat man nicht mehr einfach, man muss es sich erwerben. Der moderne Mensch muss “etwas aus sich machen”, muss sich sein Selbst, seine Identität, seine Individualität „hart erarbeiten“, er muss sich profilieren, “sich selbst verwirklichen”. “Design yourself” wird uns von den Plakatwänden gesagt. Nur als Produkt gelingt die Vermarktung des Ich.
Dies macht den Hauptinhalt der heutigen, globalisierten Ökonomie des Neoliberalismus aus. Der neue Kapitalismus hat sich die anarchische Selbstbestimmungs-Rebellion der 68er zu eigen gemacht. An ernsthafte Selbstverwirklichung im Sinne der Befreiung von Selbsttäuschung oder Unmündigkeit ist dabei jedoch nicht gedacht. Im Gegenteil, es geht um die Stabilisierung und Ausweitung unserer Ichillusionen. Darum entwirft die neue Ökonomie die erwünschten Identitäten auch gleich selber, erstellt komplette Images und Persönlichkeitsentwürfe von marktkonformen Ichs auf professionelle, massenhafte und konsumierbare Weise.
Den größten Erfolg und Einfluss kann sie natürlicherweise unter den heranwachsenden, noch auf der Suche nach sich selbst befindlichen Jugendlichen verzeichnen. Was da einstmals als Turnschuh-, T-shirt- oder Telefon-Produzent begann, ist heute zur Lebensform, zur Ersatzidentität, zur pseudoreligiösen Kultgemeinde gediehen. Wer im jeweiligen Jugendkollektiv nicht über das angesagte Outfit oder Handy verfügt, wird zum sozialen Paria. Aber auch wer unter den Älteren noch cool, sexy, geil, fit und erfolgreich sein will, muss sich dem herrschenden Jugendlichkeitskult unterwerfen – auch sprachlich.
Von ihrem enormen Erfolg getragen, haben sich etliche Firmen des neuen Kultmarketings von der materiellen Produktion völlig verabschiedet, lassen diese nun - steuerbefreit und alle westlichen sozialen und ökologischen Standards missachtend - über befristete Unteraufträge von Billigproduzenten (meist jungen Frauen) in 3.Welt-Ländern erledigen, während sie sich selbst als die gesellschaftlich maßgebenden Ideengeber, Visionäre, Sinnstifter, Glücksbringer verstehen. Bekleidungsfirmen treten mit einem “spirituellen” Lebensmotto auf, Design und Präsentation nehmen versteckt religiöse Formen und Motive auf, Shopping-Center werden insgeheim nach dem Vorbild christlicher Kirchen gestaltet. Das Wort vom “Konsumtempel” und “Kapitalismus als Religion” wird ganz bewusst eingelöst.
In der Markenwirtschaft kommt es nicht mehr darauf an, um welches Produkt es sich handelt, ob es seinen praktischen Zweck erfüllt, ob sein Preis angemessen und realistisch ist, was „zählt“ ist, dass das Objekt das Image transportiert, mit dem der Käufer soziale Anerkennung und Selbstbewusstein erfährt. Das äußere Design, die Kultästhetik wird zum “emotional design”. “Branding” (Brandmarken) heißt die angestrebte emotionale Bindung des Kunden im einschlägigen Jargon. Die Marke, das Logo ist die eigentliche Botschaft, sie verspricht die erfolgreiche Selbstvermarktung des Konsumenten.
Der Trend zur Selbstvermarktung hat unsere Gesellschaft mittlerweile rundum erfasst. Ganz oben steht das Körperdesign in Form zahlloser Techniken und Mittel der Gestaltung, Verschönerung, Leistungssteigerung, Perfektionierung und Inszenierung des Körpers. Für Viele ist der eigene Körper zum Hauptinhalt der Identität, Aktivität und des Lebens geworden. Öffentliche und virtuelle Märkte der Selbstinszenierung genießen höchstes Interesse und Massenzulauf. Mehr geistorientierte Menschen surfen auf den Wellen der psycho-mentalen Selbstverbesserung im Warenangebot des therapeutischen und spirituellen Supermarkts. Auch hier geht es zumeist darum, das “kleine Ich” durch das “höhere Ich” oder “wahre Selbst” zu ersetzen.
Das Gegenbild dazu ist das stark um sich greifende Phänomen allgemeiner Erschöpfung und Überforderung, die zahllosen Burnout-Erkrankungen und psychosomatischen Stressreaktionen, hyperaktive Kinder, Magersucht und Bulimie, wachsende Existenzangst, die Tatsache, dass Depression mittlerweile in allen Konsumgesellschaften zu der Massenkrankheit geworden ist. Depression ist hilflose Flucht aus der zum Zwang gewordenen permanenten Selbstbestimmung, Selbstgestaltung, Selbstvermarktung, Selbstverwirklichung. Depression ist der Umschlag in die Handlungslähmung, die Unfähigkeit überhaupt noch irgendetwas zu wollen und tun. Andere, vor allem
Jugendliche und schon die Kinder flüchten sich vermehrt in blinde Aggression und Gewalt. Die mächtigste und häufig letzte Flucht aus der Wirklichkeit ist die in den Drogenkonsum. Die Droge ist der Weg in die Selbstzerstörung, in die Auflösung und Vernichtung des Ichs.
Die Frage des Ich, des Selbst, der Identität gilt der Kultur des Abendlands als die zentrale Frage des Menschseins. Dabei bildeten sich unterschiedliche Ich-Konzepte heraus, die zu Grundlagen der zivilisatorischen Entwicklung wurden. Drei davon waren für ganze Epochen prägend:
- In der Spätantike und im Mittelalter war das Ich durch die Religion und die Kirche definiert: es wurde als von Gott gegebene “unsterbliche Seele” gesehen. Als solches war es unveränderlich und stabil, verborgenes, substantielles, inneres „Wesen“. Es war ein “religiöses Selbst”.
- Die Neuzeit wandte sich vom Christentum ab und der Philosophie und Wissenschaft zu. Das Ich wurde nun philosophisch definiert: es wurde zum “Subjekt der Vernunft” (Descartes “Ich denke, also bin ich”) und unterwarf sich die Natur, die Welt, die Objekte. Es war ein “philosophisches Selbst”.
- Unverkennbar leben wir heute in einem neuen Zeitalter und erleben die grenzenlose Ökonomisierung aller Bereiche der Wirklichkeit, die Herausbildung einer globalen Welt der Ökonomie des Geldes und der Aufmerksamkeit. Die erschafft sich ein neues Ich: den “homo oeconomicus”, das Ich als Marke oder Ware der Produktion und des Konsums. Es ist ein “ökonomisches Selbst”.
Das postmoderne Ich ist nicht mehr dauerhaft und ursprünglich da, sondern muss marktgemäß ständig neu und wandelbar hergestellt werden. Es ist ein flexibles, multiples Ich. Dies stellt eine dramatische kulturelle Veränderung dar. Eine westliche Psychotherapie und Spiritualität, die das nicht wahrnimmt, muss unweigerlich in die Falle der Ökonomie der Aufmerksamkeit und des Ichs als Ware geraten.
Der Buddha sah die Fallen des Selbstkonzepts bereits vor 2500 Jahren. Er erkannte sie als Folge illusionärer Selbstsuche, die zu identifizierender Attraktion und Aversion und damit zu Leiden führt. Der Ausweg, den er uns zeigte, heißt Erwachen. Er ist Befreiung vom Perfektheitsanspruch, von Identitätsvorgabe und Selbstverwirklichungszwang. Erwachen war für ihn Erkenntnis, dass es im Dasein nichts Beständiges (anicca), nichts endgültig Zufriedenstellendes (dukkha), nichts wirklich Greifbares, Herstellbares, Besitzbares gibt (anatta); die Einsicht, dass alle Phänomene letztlich offen - leer (sunya) - sind.
Die Befreiung des Buddha ist Loslassen dessen, was wir meinen haben und sein zu müssen – und Annehmen-können dessen, was da, was gegenwärtig ist. Wir können loslassen, indem wir – anstatt nach Aufmerksamkeit zu dürsten – Achtsamkeit (sati) entfalten. Achtsamkeit nimmt wahr, was unseren Sinnen gegenwärtig ist, ohne daran festzuhalten. Es wird unnötig, um Beachtung zu kämpfen, wenn wir uns selbst und anderen Achtsamkeit schenken. Achtsamkeit lässt uns erfahren, dass wir in jedem Augenblick angenommen, von anderen unterstützt und untrennbar miteinander verbunden sind. Achtsamkeit befreit uns vom endlosen Kampf auf dem Markt der Aufmerksamkeit. Anstatt immerzu nach dem utopischen perfekten Selbst zu suchen, leben wir in der Achtsamkeit ganz in diesem Augenblick.
Franz-Johannes Litsch
In der ersten Lehrrede nach seinem Erwachen kennzeichnete Siddhartha Gautama Buddha den Menschen als ein Wesen, das von “Durst” (tanha) getrieben ist. Er meinte damit nicht nur den körperlichen Nahrungsbedarf aller Lebewesen sondern mehr noch den Durst nach Sein (bhava) oder Nicht-sein (abhava), nach Haben-wollen (Begehren, lobha) und Nicht-haben-wollen (Abneigung, dosa); vor allem aber den Durst nach Ich-sein, nach Abgrenzung, Verewigung und Bestätigung seines Selbst (atta).
Buddha nahm damit vor 2500 Jahren eine Einsicht vorweg, die auch für die moderne Ökonomie, Soziologie und Psychologie zentral ist. Hier wird der Mensch als ein “Mängelwesen” beschrieben, als ein Lebewesen, das durchgehend geleitet ist von “Bedürfnissen” und “Trieben”, vom Verlangen nach Nahrung, Kleidung, Behausung und Sexualität. Sind die Primärbedürfnisse gestillt, gewinnen die immateriellen Bedürfnisse umso mehr an Bedeutung (siehe Maslowsche Bedürfnis-Pyramide). Es wird wichtig, Beachtung zu finden, Anerkennung und Erfolg zu haben oder Wissen, Macht, Reichtum oder Ruhm zu erlangen. Vor allem geht es darum, eine “Identität” zu “besitzen”.
In den reichen Industrieländern werden die grundlegenden materiellen Bedürfnisse der Menschen heute im allgemeinen befriedigt. Zwar in wachsendem Masse nicht mehr so abgesichert und ausreichend wie noch vor wenigen Jahrzehnten, doch für die meisten noch genügend, für etliche geradezu im Überfluss. Der Wirtschaft fehlt es auch nicht an Angeboten und Produzenten, sondern an Käufern und Konsumenten. Sie leidet nicht, wie einst in den Ländern des sog. Sozialismus, an einer Unterproduktion sondern an einer
Überproduktion von Waren. Darum müssen die Menschen dazu gebracht werden, mehr zu kaufen und mehr zu verbrauchen. Werbung und Marketing haben in der industriellen Überproduktionsgesellschaft darum eine riesige Bedeutung gewonnen.
Da wir zudem vom ökonomischen Zwangskonzept des endlosen Wirtschaftswachstums beherrscht sind, ist es nötig, fortlaufend neue Wünsche, Bedürfnisse, Begierden, Ansprüche zu wecken. Das zwingt die Firmen, mit ihren Produkten ständig neu öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Und so ist neben der Ökonomie der materiellen Waren eine zweite Ökonomie entstanden, die “Ökonomie der Aufmerksamkeit”. Die funktioniert in vielem wie die erste - nur sind ihre Waren immateriell. Sie produziert geistige Güter, nämlich Aufmerksamkeit, Beachtung, Bekanntheit. Und wie in der herkömmlichen Wirtschaft gibt es auch hier erbitterte Kon-
kurrenz: den Kampf um Wahrnehmung (Einschaltquoten, Auflagenhöhe, Nachfrage). In gleicher Weise gibt es hier Reiche und Arme; wird bei den einen Aufmerksamkeitskapital akkumuliert - bei den Promis und Medienstars - und fallen andere in Armut - die Anonymen, Vergessenen, Überflüssigen.
Längst werden wir, wie von Waren, auch von Werbung, Scheininformation, Entertainment und “Kommunikationsdesign” überschwemmt und die Welt der technischen Medien nimmt den Charakter von permanenter Allgegenwart an. Wir sind zur virtuellen Medien- und Kommunikationsgesellschaft geworden. Um in dieser noch die Aufmerksamkeit der Menschen zu erlangen - die eine ebenso knappe Ressource ist, wie die Kaufkraft der Menschen - müssen die Mittel immer raffinierter und extremer werden. Eine grenzenlose Eskalationsspirale um Aufmerksamkeit ist im Gang. Provokation, Aggression, Gewalt und Sex haben den meisten Erfolg. Die ignorierten gesellschaftlichen Folgen zeigen sich gelegentlich in schockierenden Ereignissen und Tragödien, die sich ihrerseits wiederum profitträchtig vermarkten lassen und den Kreislauf zusätzlich vorantreiben. Auf diese Weise sind wir in einen Zustand weltweiter bedrohlicher Gewalt-Eskalation geraten. Die heutige Jugendgewalt, der Terrorismus, wie auch der Krieg gegen diesen sind direkte Folgen der Ökonomie der Aufmerksamkeit, daran zu erkennen, wie sehr die Täter darauf bedacht sind, sich medien-wirksam (über TV, Video, Internet, Handy usw.) in Szene zu setzen.
Dennoch, die Produktion weiterer Aufmerksamkeit auf diesem Wege hat ebenfalls ihre Grenze erlangt. Auch hier befindet sich die moderne Gesellschaft in einer Überproduktionskrise. Die Vordenker unserer Ökonomie haben sich darum auf die Suche nach neuen Wegen der Aktivierung unseres Durstes gemacht. Die vor wenigen Jahrzehnten gefundene Antwort prägt – von den meisten Menschen kaum bewusst wahrgenommen – zunehmend unsere soziale und kulturelle Wirklichkeit. Sie heißt: wir produzieren und verkaufen keine dinglichen Waren mehr, sondern wir verkaufen Lifestyle, Profil, Image, Identität.
Nichts steht für den modernen Menschen so sehr im Zentrum seines Interesses wie das eigene Ich. Mit unserem Ich befinden wir uns nun alle auf dem globalen Markt der Aufmerksamkeit. Ob es um den Job, die Wohnung, den Partner, die Freunde, die Freizeit, das Lebensglück geht – in dieser Ökonomie ist nur erfolgreich, wer sich attraktiv macht und selbst vermarktet. Der Begriff „Ich-AG” kennzeichnet die Situation treffend. Das neue marktgemäße Ich hat man nicht mehr einfach, man muss es sich erwerben. Der moderne Mensch muss “etwas aus sich machen”, muss sich sein Selbst, seine Identität, seine Individualität „hart erarbeiten“, er muss sich profilieren, “sich selbst verwirklichen”. “Design yourself” wird uns von den Plakatwänden gesagt. Nur als Produkt gelingt die Vermarktung des Ich.
Dies macht den Hauptinhalt der heutigen, globalisierten Ökonomie des Neoliberalismus aus. Der neue Kapitalismus hat sich die anarchische Selbstbestimmungs-Rebellion der 68er zu eigen gemacht. An ernsthafte Selbstverwirklichung im Sinne der Befreiung von Selbsttäuschung oder Unmündigkeit ist dabei jedoch nicht gedacht. Im Gegenteil, es geht um die Stabilisierung und Ausweitung unserer Ichillusionen. Darum entwirft die neue Ökonomie die erwünschten Identitäten auch gleich selber, erstellt komplette Images und Persönlichkeitsentwürfe von marktkonformen Ichs auf professionelle, massenhafte und konsumierbare Weise.
Den größten Erfolg und Einfluss kann sie natürlicherweise unter den heranwachsenden, noch auf der Suche nach sich selbst befindlichen Jugendlichen verzeichnen. Was da einstmals als Turnschuh-, T-shirt- oder Telefon-Produzent begann, ist heute zur Lebensform, zur Ersatzidentität, zur pseudoreligiösen Kultgemeinde gediehen. Wer im jeweiligen Jugendkollektiv nicht über das angesagte Outfit oder Handy verfügt, wird zum sozialen Paria. Aber auch wer unter den Älteren noch cool, sexy, geil, fit und erfolgreich sein will, muss sich dem herrschenden Jugendlichkeitskult unterwerfen – auch sprachlich.
Von ihrem enormen Erfolg getragen, haben sich etliche Firmen des neuen Kultmarketings von der materiellen Produktion völlig verabschiedet, lassen diese nun - steuerbefreit und alle westlichen sozialen und ökologischen Standards missachtend - über befristete Unteraufträge von Billigproduzenten (meist jungen Frauen) in 3.Welt-Ländern erledigen, während sie sich selbst als die gesellschaftlich maßgebenden Ideengeber, Visionäre, Sinnstifter, Glücksbringer verstehen. Bekleidungsfirmen treten mit einem “spirituellen” Lebensmotto auf, Design und Präsentation nehmen versteckt religiöse Formen und Motive auf, Shopping-Center werden insgeheim nach dem Vorbild christlicher Kirchen gestaltet. Das Wort vom “Konsumtempel” und “Kapitalismus als Religion” wird ganz bewusst eingelöst.
In der Markenwirtschaft kommt es nicht mehr darauf an, um welches Produkt es sich handelt, ob es seinen praktischen Zweck erfüllt, ob sein Preis angemessen und realistisch ist, was „zählt“ ist, dass das Objekt das Image transportiert, mit dem der Käufer soziale Anerkennung und Selbstbewusstein erfährt. Das äußere Design, die Kultästhetik wird zum “emotional design”. “Branding” (Brandmarken) heißt die angestrebte emotionale Bindung des Kunden im einschlägigen Jargon. Die Marke, das Logo ist die eigentliche Botschaft, sie verspricht die erfolgreiche Selbstvermarktung des Konsumenten.
Der Trend zur Selbstvermarktung hat unsere Gesellschaft mittlerweile rundum erfasst. Ganz oben steht das Körperdesign in Form zahlloser Techniken und Mittel der Gestaltung, Verschönerung, Leistungssteigerung, Perfektionierung und Inszenierung des Körpers. Für Viele ist der eigene Körper zum Hauptinhalt der Identität, Aktivität und des Lebens geworden. Öffentliche und virtuelle Märkte der Selbstinszenierung genießen höchstes Interesse und Massenzulauf. Mehr geistorientierte Menschen surfen auf den Wellen der psycho-mentalen Selbstverbesserung im Warenangebot des therapeutischen und spirituellen Supermarkts. Auch hier geht es zumeist darum, das “kleine Ich” durch das “höhere Ich” oder “wahre Selbst” zu ersetzen.
Das Gegenbild dazu ist das stark um sich greifende Phänomen allgemeiner Erschöpfung und Überforderung, die zahllosen Burnout-Erkrankungen und psychosomatischen Stressreaktionen, hyperaktive Kinder, Magersucht und Bulimie, wachsende Existenzangst, die Tatsache, dass Depression mittlerweile in allen Konsumgesellschaften zu der Massenkrankheit geworden ist. Depression ist hilflose Flucht aus der zum Zwang gewordenen permanenten Selbstbestimmung, Selbstgestaltung, Selbstvermarktung, Selbstverwirklichung. Depression ist der Umschlag in die Handlungslähmung, die Unfähigkeit überhaupt noch irgendetwas zu wollen und tun. Andere, vor allem
Jugendliche und schon die Kinder flüchten sich vermehrt in blinde Aggression und Gewalt. Die mächtigste und häufig letzte Flucht aus der Wirklichkeit ist die in den Drogenkonsum. Die Droge ist der Weg in die Selbstzerstörung, in die Auflösung und Vernichtung des Ichs.
Die Frage des Ich, des Selbst, der Identität gilt der Kultur des Abendlands als die zentrale Frage des Menschseins. Dabei bildeten sich unterschiedliche Ich-Konzepte heraus, die zu Grundlagen der zivilisatorischen Entwicklung wurden. Drei davon waren für ganze Epochen prägend:
- In der Spätantike und im Mittelalter war das Ich durch die Religion und die Kirche definiert: es wurde als von Gott gegebene “unsterbliche Seele” gesehen. Als solches war es unveränderlich und stabil, verborgenes, substantielles, inneres „Wesen“. Es war ein “religiöses Selbst”.
- Die Neuzeit wandte sich vom Christentum ab und der Philosophie und Wissenschaft zu. Das Ich wurde nun philosophisch definiert: es wurde zum “Subjekt der Vernunft” (Descartes “Ich denke, also bin ich”) und unterwarf sich die Natur, die Welt, die Objekte. Es war ein “philosophisches Selbst”.
- Unverkennbar leben wir heute in einem neuen Zeitalter und erleben die grenzenlose Ökonomisierung aller Bereiche der Wirklichkeit, die Herausbildung einer globalen Welt der Ökonomie des Geldes und der Aufmerksamkeit. Die erschafft sich ein neues Ich: den “homo oeconomicus”, das Ich als Marke oder Ware der Produktion und des Konsums. Es ist ein “ökonomisches Selbst”.
Das postmoderne Ich ist nicht mehr dauerhaft und ursprünglich da, sondern muss marktgemäß ständig neu und wandelbar hergestellt werden. Es ist ein flexibles, multiples Ich. Dies stellt eine dramatische kulturelle Veränderung dar. Eine westliche Psychotherapie und Spiritualität, die das nicht wahrnimmt, muss unweigerlich in die Falle der Ökonomie der Aufmerksamkeit und des Ichs als Ware geraten.
Der Buddha sah die Fallen des Selbstkonzepts bereits vor 2500 Jahren. Er erkannte sie als Folge illusionärer Selbstsuche, die zu identifizierender Attraktion und Aversion und damit zu Leiden führt. Der Ausweg, den er uns zeigte, heißt Erwachen. Er ist Befreiung vom Perfektheitsanspruch, von Identitätsvorgabe und Selbstverwirklichungszwang. Erwachen war für ihn Erkenntnis, dass es im Dasein nichts Beständiges (anicca), nichts endgültig Zufriedenstellendes (dukkha), nichts wirklich Greifbares, Herstellbares, Besitzbares gibt (anatta); die Einsicht, dass alle Phänomene letztlich offen - leer (sunya) - sind.
Die Befreiung des Buddha ist Loslassen dessen, was wir meinen haben und sein zu müssen – und Annehmen-können dessen, was da, was gegenwärtig ist. Wir können loslassen, indem wir – anstatt nach Aufmerksamkeit zu dürsten – Achtsamkeit (sati) entfalten. Achtsamkeit nimmt wahr, was unseren Sinnen gegenwärtig ist, ohne daran festzuhalten. Es wird unnötig, um Beachtung zu kämpfen, wenn wir uns selbst und anderen Achtsamkeit schenken. Achtsamkeit lässt uns erfahren, dass wir in jedem Augenblick angenommen, von anderen unterstützt und untrennbar miteinander verbunden sind. Achtsamkeit befreit uns vom endlosen Kampf auf dem Markt der Aufmerksamkeit. Anstatt immerzu nach dem utopischen perfekten Selbst zu suchen, leben wir in der Achtsamkeit ganz in diesem Augenblick.
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