Der BODHISATTVA in den buddhistischen Traditionen
Franz-Johannes Litsch, Hans-Günther Wagner
Wer sein Leben in den Dienst anderer stellt, gilt im Buddhismus als ein Bodhisattva. Das war schon zu Lebzeiten des Buddha so. Doch herrscht heute die weit verbreitete, aber falsche Auffassung vor, das Bodhisattva-Ideal sei erst mit dem „Großen Fahrzeug“ entstanden und der Theravada-Buddhismus kenne nur den Arahat, einen Typus des Heiligen, der allein seine eigene Erlösung anstrebe. Tatsächlichhält jedoch auch die „Schule der Alten“ den Bodhisattva-Weg für den höchsten, nämlich jenen, der zur vollständigen Buddhaschaft führt. Dieser Beitrag gibt eine Übersicht über das Bodhisattva-Verständnisin den verschiedenen Traditionen und weist auch auf spätere Entwicklungen hin.
DER BODHISATTVA-WEG – IN ALLEN SCHULEN DER ERHABENSTE WEG
Im frühen Buddhismus(1) (wie auch im heutigen Theravada)wird zwischen drei Typen von Verwirklichern des Weges zum Erwachen unterschieden: Da ist zunächst der sogenannte „Hörer“ der Lehre.(2) Ein solcher praktiziert den Dharma (Pali:dhamma) als Ordinierter oder Laie und erlangt am Ende das Nirvana (nibbana) als Arahat. Auf seinem Weg dient er sich selber und anderen, doch seine Fähigkeiten zu Letzterem sind begrenzt. Der zweite Typus ist der Einzelerwachte.(3) Über diesen heißt es, dass er das Nirvana ganz allein und für sich verwirkliche. Die Schriften bringen den Einzelerwachten mit Zeiten in Verbindung, in denen keine anderen Erleuchteten in der Welt weilen und die Suchenden den Weg selbst finden müssen. Den dritten Typus schließlich repräsentiertder Bodhisattva (bodhisatta). Aus großem Mitgefühl (mahakaruna) möchte der Bodhisattva viele Wesen aus dem Samsara führen und verzichtet zugunsten dieses Ziels einstweilen auf das endgültige Verlöschen, um zum Samma Sambuddha, zum vollkommenen Buddha, zu werden. Dieser führt die Wesen zur Befreiung, indem er die Lehre und Praxis (neu) entdeckt und damit zum Lehrer des Dharma für ein ganzes Zeitalter wird.(4) Der historische Siddhattha Gotama war nach frühbuddhistischer Auffassung ein solcher Bodhisattva, der vor 2500 Jahren seinen schon lange eingeschlagenen Weg vollendete, indem er zum historischen Buddha wurde und die Lehre und Praxis, die seinerzeit nicht (mehr) vorhanden war, neu entdeckte und lehrte. Jeder, der heute noch seinen Pfadgeht, steht damit in seiner Nachfolge. Ein Bodhisattva verzichtet keineswegs auf das Heilsziel des Nirvana. Im Gegenteil – er geht nur nicht den schnellen Weg des Arahat, sondern bereitet sich sehr, sehr lange darauf vor, die Aufgabe eines Buddha mit höchster Vollkommenheit zu erfüllen. Dabei durchschreitet er viele Existenzen, auch Tier- und Götterwelten. Von den vielen Vorleben sowie heilsamen und mitfühlenden Handlungen des späteren Buddha erzählen zahlreiche Buddhalegenden, die in den Vorlebensgeschichten (Jātakas)(5) gesammelt und überliefert wurden.
DIE GENESIS DES BODHISATTVA-WEGS IM FRÜHEN BUDDHISMUS
Der Bodhisatta-Weg zur vollkommenen Buddhaschaft ist ohne eine starke mitfühlende Motivation nicht zu verwirklichen. Während viele Legenden über Sakyamunis Vorleben als Mensch, aber auch als Affe, Hase oder Papagei berichten und dabei seine zahllosen guten Taten rühmen, ist die erste Hälfte seines letzten Erdenlebens vornehmlich von der Suche nach dem eigenen endgültigen Erwachenbestimmt. Weil der behütete Königssohn erkannte, dass alle Wesen altern, leiden und sterben, strebte er nach Leidfreiheit und Loslösung vom Daseinskreislauf für sich selbst und die anderen. In der Befreiung von unheilsamen Gedanken und Handlungen, von Unwissenheit und sinnlichem Verlangen, entfaltete er die Meditation der geistigen Ruhe und Einsicht, bis er unter dem Bodhibaum die Erleuchtung erlangte. Im Mahapadana-Suttades Pali-Kanon werden die Vorzüge des Buddha auch zu denen eines Bodhisattva im Allgemeinen. Damit nimmt das Bodhisattva-Ideal konkrete Gestalt an. Zentral ist der Vorsatz, anderen zu dienen und diese Entschlossenheit mit einem Gelöbnis zu bekräftigen. Der Bodhisattva gelobt, zum Wohle aller Wesen das Ziel der vollkommenen Buddhaschaft zu erreichen und diesen Weg mit aller Entschlossenheit zu gehen. Viele Vorlebenslegenden sprechen, wenn der spätere Buddha gemeint ist, einfach vom Bodhisatta. Der Bodhisattva-Weg ist im Früh- und Theravada-Buddhismus der Weg zur vollkommenen Buddhaschaft, weil der Erleuchtete auf ihm gehend, den (verloren gegangenen) Dhamma wiederentdeckt und neu lehrt und damit zum „Buddha eines Zeitalters“ wird, der eine Vielzahl von Wesen zur Befreiung führt. Dieser Auffassung gemäß kann es zur gleichen Zeit keinen zweiten Buddha geben und damit auch keinen zweiten Bodhisattva, der in dieser Zeit zur Buddhaschaft gelangt, denn die Lehre ist ja bereits in der Welt vorhanden. Alle, die dem Erwachten folgend den Weg gehen, sind somit seine Schüler und gelangen – sofern sied as Große Erwachen erfahren – zur Arahatschaft. Doch kann es auf dem Weg Praktizierende geben, die auf den schnellen Weg zur Arahatschaft verzichten und sich für den langen Weg des Bodhisattva entscheiden, um in ferner Zukunft, wenn der Dhamma wieder verloren ist, die vollständige Buddhaschaft zu erlangen. In diesem Sinne nahmen schon vor 2000 Jahren und nehmen auch heute noch in den Theravada-Ländern viele Menschen das Bodhisattva-Gelübde. Jedem, der vor diesem Hintergrund das Bodhisattva-Gelübde ablegt, muss klar sein, dass er sich damit für einen sehr langen Aufenthalt in der Samsara-Welt entscheidet und auf die Möglichkeit der naheliegenden Befreiung als Arahat verzichtet. Seit Buddhas Zeiten haben viele Tausende Menschen das Bodhisattva-Gelübde genommen, doch jeder von ihnen kann erst dann als Buddha zur Vollendung und Befreiung kommen, wenn die Lehre erneut verloren ging und von ihm wieder entdeckt werden muss. Das kann viele Äonen lang dauern und Millionen Jahre des Wiedergeboren werdens im Daseinskreislauf erfordern. Doch alleine auf diesem langen Weg erwirbt ein Bodhisattva die Verdienste, Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten (parami), über die ein vollkommen Erwachter verfügt.
DER BODHISATTVA IN DEN MAHĀYĀNA-SUTREN
Mit dem Mahāyāna beginnt die Geschichte des Bodhisattva als Heilsgestalt, Erlöser und Erretter. Auch gibt es erstmals weibliche Bodhisattvas. Die Weitentwicklung des Mahāyāna besteht nicht in der „Entdeckung“ eines völlig neuen Ideals, sondern in der Neudefinition der Bodhisattva-Idee. Dabei kommt es zur Schaffung zahlreicher mythischer Bodhisattva-Gestalten, an die sich die Menschen – ähnlich den Heiligen und Nothelfernder katholischen Kirche – wenden können, um Hilfe zu erhalten. Als Folge wird der Bodhisattva weniger als Ziel des eigenen Strebens gesehen, sondern manifestiert sich in bestimmten irdischen und überirdischen Gestalten. Damit entspricht er den volksreligiösen Bedürfnissen nach verehrungswürdigen, wun-dertätigen, übermächtigen Helfern und Vorbildern. Aus dem tausendarmigen indischen Avalokiteshvara wird in Tibet (dernoch männliche) Chenrezig, in China die (weibliche) Bodhisattva Guanyin, in Vietnam die Kwan-Am, in Japan die Kanon – eine Verkörperung des Mitgefühls, die äußerlich stark an christliche Madonnendarstellungen erinnert. Mañjushrī (chine-sisch: Wenshu Pusa) muss als Bodhisattva der Weisheit auch ganz praktische Aufgaben erfüllen. Oft wird er angerufen, um Wissen und Bildung zu erlangen, zum Beispiel vor Schul- oder Universitätsprüfungen. Der Bodhisattva Ksitigarbha soll einst geschworen haben, erst dann als Buddha in das Nirvana einzutreten, wenn auch das letzte Wesen die Hölle verlassen hat. Aus dem einstigen Bodhisattva Dharmakara wird schließlich der Buddha Amitābha, der allen, die ihn um Hilfe bitten, in sein „Reines Land“ führt – eine Vorstufe zum Erlöschen im Nirvana. Eine Vielzahl von Bodhisattvas erscheint so im Laufe der Zeit, deren jeweilige Vorzüge in umfangreichen Mahayana-Sūtren gerühmt werden. Im Frühbuddhismus markieren der „Stromeintritt“, der mit dem Verschwinden der Möglichkeit des Rückfalls in Samsāra verbunden ist, den wichtigsten Meilenstein des Pfades, während im tibetischen Mahāyāna an diese Stelle das Erwecken von Bodhicitta (Erleuchtungsgeist) sowie das Ablegen der Bodhisattva-Gelübde treten. Durch unermüdliche Anstrengung erfolgt über zehn Stufen (bhūmi) der Aufstieg zur Vollkommenheit. Asanga, der Hauptbegründer der Yogacara-Schule des Mahāyāna (5. Jh.) behandelt in dem ihm zugeschrieben Werk Yogācārabhūmi-Shāstra ausführlich den Bodhisattva-Weg. Dabei spricht er im Hinblick auf die drei Wege der „Hörer der Lehre“, der „Einzelerleuchteten“ und der„Bodhisattvas“ nicht mehr von drei bodhi (Arten des Erwa-chens) sondern erstmals von drei yānas (Fahrzeugen), wobei er zudem eine wertende Klassifikation vornimmt: Das Srāvakayāna (das Fahrzeug der „Hörer“, gleichgesetzt mit dem„Hinayāna“), sei für Menschen mit „schwachen geistigen Fähigkeiten“ und „geringer ethischer Motivation“ angemessen. Vom Pratyekayāna (dem Weg der Einzelerwachten), heißt es, dass es für Personen mit der Motivation und den Fähigkeiten auf mittlerer Ebene geeignet sei. Das Bodhisattvayāna (Mahāyāna) hingegen entspreche Personen mit großen Fähigkeiten und starker Motivation und führe zur vollkommenen Buddhaschaft. Trotz dieser Hierarchisierung der „Fahrzeuge“ sieht Asanga den Arhat und den Bodhisattva-Buddha noch auf einer Stufe. Die bedeutendste Mahāyāna-Schrift zum Bodhisattva-Ideal ist das Werk Bodhicaryāvatara (Eintritt in das Leben zur Erleuchtung) von Shāntideva aus dem 8. Jahrhundert. Beid em in Versen abgefassten Werk geht es dem Autor vor allem um das Ertragen von Leid und Unrecht, um das Sich-mit-dem-anderen-Gleichsetzen und mehr noch Sich-mit-dem-anderen-Austauschen (parāt ma-parivartana) – gleich ob Wohltäter oder Feind: „Möge ich den Schutzlosen ein Beschützer sein; ein Führer den Reisenden; denen, die zum andren Ufer wollen, ein Boot, ein Damm, eine Brücke; eine Lampe für jene, die eine Lampe brauchen; ein Bett für die, die ein Bett brauchen; ein Diener für alle Lebewesen, die einen Diener brauchen.“(Verse Teil III, 17–18)(6)
DER BODHISATTVA-WEG ALS ALLGEMEINES HEILSZIEL
Im späten Mahāyāna wird die frühe Verknüpfung von Bodhisattva-Weg und Buddhaschaft aufgelöst und die Idee des Vollerwachten und „Buddha eines Zeitalters“ de facto aufgegeben. Da in uns allen die Buddhanatur (Tathāgatagarbha) vorhanden sei, könne jeder Mensch zum Bodhisattva und Buddha werden. Das ursprünglich von Buddha seinen Schülern gesteckte Ziel des Arhats, der zwar von seiner Einsicht her nicht der Weisheit eines Buddha nachsteht, jedoch nicht auch über alle Fähigkeiten eines Vollerwachten verfügt, tritt völlig inden Hintergrund. Die späteren Vajrayāna-Schulen gehen noch einen Schritt weiter und erklären den Bodhisattva-Weg als für alle mehr oder weniger verbindlich. Zusätzlich entfalten sie einen ganzen Kosmos an transzendenten Buddhas, Urbuddhas, Buddhafamilien, Buddhamandalas mit zugehörigen transzendenten Bodhisattvas, Gottheiten, Schützern, Yidams, Mantras, Attributen usw. Die heute stark verbreitete Darstellung, die Bodhisattva-Idee des Mahāyāna sei eine Kritik daran, dass der damalige „Hinayāna“ und die Arhats nur ihre eigene Befreiung anstrebten und nicht auch die der anderen Wesen, ist eine historisch nicht haltbare Selbstrechtfertigung und in ihrer heutigen Deutung eher ein Produkt westlicher Sichtweisen.(7) Als Resultat wurde damit eine Hierarchie in die regionalen und historischen buddhistischen Schulen Asiens eingeführt, die auf die Behauptung hinausläuft, nur (noch) der Mahāyāna strebe die vollständige Buddhaschaft an, der Theravāda lediglich die Arhatschaft. Die Entgegensetzung von „Wirken nur für sich selbst“ und dem „Wirken für andere“ ist im frühen Buddhismus jedoch gänzlich unbekannt. Darüber hinaus lässt die konkrete Wirkungsgeschichte keine Unterschiede im damaligen sozialen Verhaltender Buddhisten erkennen: Für eine „altruistische Wende“ des Buddhismus, weg vom „egoistischen und orthodoxen“ Mönchstum des „Kleinen Fahrzeugs“ hin zum „Großen Fahrzeug“, das sich den Leiden und Nöten der einfachen Menschen zuwendet, gibt es historisch keinerlei Belege. In den Mahāyāna-Ländern Asiens gab und gibt es auch nicht mehr an sozialem oder karitativem Engagement als in den Ländern des Theravāda.
DIE PERVERTIERUNG DES BODHISATTVA-IDEALS
Im späteren indischen und außerindischen Buddhismus kommt es teilweise zu einer bedenklichen Verzerrung des Bodhisattva-Ideals. Der frühe Buddhismus lehnt Töten und Gewalt in jedem Falle ab. Da im Mahayana die Motivation des Mitgefühls stark in den Mittelpunkt rückt, stellt sich bald die Frage, ob der Bodhisattva nicht zum „Wohle der Wesen“ auch Gewalt anwenden und töten dürfe, zum Beispiel wenn jemand bedroht wird. Schafft ein Bodhisattva durch eine Tatauch dann schlechtes Karma, wenn er aus „reinen Motiven“ handelt?(8) Im alten Königreich Sri Lanka war es den Mönchen strikt verboten, Gewalt auszuüben und zu töten. Den Königen jedoch, die als Bodhisattvas galten und deren Aufgabe es war, Dhamma und Sangha zu schützen, war die Ausübung von Gewalt und Kriegführung nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. Dem folgten später auch die theravāda-buddhistischen Königreiche Südostasiens. Einige Herrscher hatten keine Skrupel, sich gegenseitig verheerende Kriege zu liefern und dabei auch wertvolle Buddhastatuen und Texte zu erbeuten. Das schlechte Karma, das sie sich damit schufen, versuchten sie durch den Bau von Stupas, die Stiftung von Klöstern und den Unterhalt von Mönchen wiedergutzumachen. Auf den Pāli-Kanon konnten sie sich dabei allerdings an keiner Stelle berufen. Noch fataler war darum die Rechtfertigung von Töten und Gewalt in späteren Mahāyāna-Texten. Dort sind Bodhisat tvas „bereit“, das schlechte Karma des Tötens auf sich zu nehmen, um den Täter vor schlimmen Höllenstrafen zu bewahren; solches Töten wird gar als „Befreien“ bezeichnet. Da das Motiv lauter sei, würden im Gegenteil große Verdienste erworben.(9) Sogar das Töten von Irrlehrern wird gerechtfertigt, weil jene großen geistigen Schaden verursachten. Im Mahāparinirvana-Sūtra, einem zentralen indischen Mahāyāna-Text, der viele Jahrhunderte nach Buddhas Tod dessen Lebensende beschreibt, wird von dem Erwachten behauptet, er habe in einem früheren Leben als König einen Brahmanen getötet, um ihn vor dem schlechten Karma zu retten, das der Brahmane auf sich lud, indem er den Mahāyāna schmähte. Das für die Yogācāra-Schule bedeutende Bodhisattva-Bhūmi vertritt dieselbe Auffassung. Ein Bodhisattva, der sehe, wie sich jemand durch sein Handeln selber schwere karmische Folgen schaffe, habe das Recht, den Übeltäter zu töten, um ihn vor den Folgen zu bewahren.(10) Asanga, der Begründer der für Tibet zentral gewordenen Yogācāra-Schule, erklärt in seinem Kommentartext Bodhisattvabhūmi-Shāstra, dass ein Bodhisattva töten dürfe und sogar müsse, wenn ein Mensch im Begriff sei, ein fühlendes Wesen zu verletzen. Dies sei ein mitleidiger Akt und schaffe kein schlechtes Karma. Das waren keine rein abstrakten und folgenlosen Überlegungen. Überliefert ist das Beispiel jenes tibetischen Mönchs, der 842 König Langdarma tötete, um ihn von weiteren Gewalt maßnahmen gegen Dharma und Sangha abzuhalten.(11) Als Gewalt legitimierende Begründung wird auch auf die Lehre von der Leerheit (sūn yatā) Bezug genommen: Niemand sterbe letztlich wirklich, da die sinnlich wahrnehmbare Welt ohnehin nur eine Fiktion sei. Eine weitere Begründungsrhetorik wird mit dem Verweis auf „geschickte Mittel“(upāya) geliefert, die den hehren Zweck zusätzlich rechtfertigen sollen. Das erinnert an den im Abendland beliebten Satz: „Der Zweck heiligt die Mittel“, der auch dort aller Art unheiliger Verbrechen Tür und Tor geöffnet hat. Tatsächlich zeigten sich fatale praktische Konsequenzen in der Geschichte des chinesischen, japanischen und tibe-tischen Buddhismus. Chinesische Shaolin-Mönche zum Beispiel kämpften gegen Gegner und Herrscher mit härtester Gewalt und erstritten sogar Grundbesitz für ihren Orden. Auch in Tibet gab es jahrhundertelang blutige Kämpfe zwischen der Gelugpa-und der Kagyü-Schule, ebenso solche zwischen Tibet und Bhutan. In Japan unterhielten viele Klöster schlagkräftige Mönchstruppen, die sich untereinander regelrechte Kleinkriege lieferten. Während die Ethik des Buddha die Produktion und den Vertrieb von Waffen sogar den Laien untersagte und Mönche nicht einmal Knüppel und Äxte aufbewahren durften, war im Japan des 16. Jahrhunderts das Kloster Negoro-ji der Hauptproduzent von Feuerwaffen europäischer Bauart.(12) Im Samurai-Zen (Bushidō, „Weg desKriegers“) entgleiste das Bodhisattva-Ideal gar zu einer nihilistischen Todesmystik. Bekannte japanische Zenmeister feuerten im 2. Weltkrieg ihre Schüler an, „im Bodhisattva-Geist“ mit dem Schwert „Leben zu schenken“, was bedeutete, fremdes Leben zu töten.(13) Dies alles markiert einen radikalen Bruch mit der frühen Lehre. So fragt zum Beispiel im Salāyatana-Sūtta 42 (Samyutta Nikāya IV) des Pali-Kanon ein Hauptmann den historischen Buddha, ob ein Krieger, der in der Schlacht sterbe, in den Himmel komme. Buddha erklärt daraufhin, dass er keineswegs in die höheren Sphären, sondern in eine der Höllen gelange. Dabei wird keine Grenzlinie zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg gezogen. Im Abhidharmakosha wird sogar das Töten in Notwehr oder um eine befreundete Person zu schützen abgelehnt. Angehörige der Familie des Buddha hatten sich bei der Eroberung ihres Landes Sakyadurch den König von Kosala lieber niedermetzeln lassen, als durch gewaltsamen Widerstand ihre ethische Selbstverpflichtung zur Gewaltfreiheit (ahimsā) zu brechen.(14)
DER BODHISATTVA – PIONIER EINER KULTUR DES MITGEFÜHLS
In Asien ist die Verbreitung des Bodhisattva-Idealsauch eng mit einem politisch und sozial engagierten Buddhismus verknüpft. Hilfe und Dienst am Nächsten waren gerade im frühen Buddhismus nicht auf geistigen Zuspruch, Lehrdarlegungen und das Zelebrieren von Ritualen beschränkt, sondern durchaus in sehr praktischer Weise auch an der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ausgerichtet. Mit dem Herrscher Ashoka (3. Jh. v. Chr.) beginnt die Geschichte des Dharma als politische und staatliche Ethik mit dem Ideal des weisen, wohltätigen und gewaltfreien Monarchen. Unter Kaiser Asoka war es historisch erstmalig Ziel staatlichen Handelns, ein umfassendes Sozialstaatsystem, die Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur, den leichteren Zugang zu medizinischen Heilmitteln, Spitäler für Arme, Alte und Kranke, die Unterstützung aller, die auf einem spirituellen Weg praktizieren, eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, staatliche Wirtschaftsförderung sowie eine Gerichtsbarkeit, die weniger auf Strafe und mehr auf die Vermeidung von Verbrechen und die Besserung des Straftäters zielt, zu errichten. Heute ist das Bodhisattva-Ideal Motivation für sozial, humanitär, gewaltfrei, menschenrechtlich und ökologisch engagierten Buddhismus. Wie schon seit Jahrtausenden bildet der Weg des Bodhisattva ein alternatives Lebensmodell zu einer Strategie, die auf dem Kampf der Einzelwesen um die private Aneignung der Natur und weltlichen Güter gründet. Da der Bodhisattva die Leerheit aller Erscheinungen erkannt hat, ist er frei von weltlichem Verlangen. Gleich einer liebevollen Mutter, der das Wohl ihrer Kinder wichtiger ist als das eigene, sorgt er sich um die fühlenden Wesen. Wohl wissend, dass alles Begehren nur enttäuscht und die Wurzel des Leidens ist, lebt er mit seinem mitfühlenden Handeln in dieser Welt, die er gleichwohl innerlich überwunden hat. Freundlichkeit, Ruhe und Achtsamkeit bestimmen sein Verhalten. Gemäß der Geschichte von den beiden Bambusakrobaten, die gemeinsam das Publikum durch ihr virtuoses Können beeindrucken, weil auch in der gefährlichsten Darbietung jeder auf sich selbst und zugleich auf den anderen achtet, schützt er sich selbst, indem er den Anderen schützt, und schützt er den Anderen, indem ersich selbst schützt.(15) Weil das Handeln mehr zählt als die Worte, ist es am Ende auch nicht entscheidend, ob der Bodhisattva „Buddhist“ ist oder nicht. Auch Jesus war ein Bodhisattva, wieviele Heilige aus den anderen Religionen, ebenso zahlreiche nicht religiöse, selbstlos handelnde Menschen, kurz alle, die sich in ihrem Leben von Weisheit und Mitgefühl leiten lassen.
Wer sein Leben in den Dienst anderer stellt, gilt im Buddhismus als ein Bodhisattva. Das war schon zu Lebzeiten des Buddha so. Doch herrscht heute die weit verbreitete, aber falsche Auffassung vor, das Bodhisattva-Ideal sei erst mit dem „Großen Fahrzeug“ entstanden und der Theravada-Buddhismus kenne nur den Arahat, einen Typus des Heiligen, der allein seine eigene Erlösung anstrebe. Tatsächlichhält jedoch auch die „Schule der Alten“ den Bodhisattva-Weg für den höchsten, nämlich jenen, der zur vollständigen Buddhaschaft führt. Dieser Beitrag gibt eine Übersicht über das Bodhisattva-Verständnisin den verschiedenen Traditionen und weist auch auf spätere Entwicklungen hin.
DER BODHISATTVA-WEG – IN ALLEN SCHULEN DER ERHABENSTE WEG
Im frühen Buddhismus(1) (wie auch im heutigen Theravada)wird zwischen drei Typen von Verwirklichern des Weges zum Erwachen unterschieden: Da ist zunächst der sogenannte „Hörer“ der Lehre.(2) Ein solcher praktiziert den Dharma (Pali:dhamma) als Ordinierter oder Laie und erlangt am Ende das Nirvana (nibbana) als Arahat. Auf seinem Weg dient er sich selber und anderen, doch seine Fähigkeiten zu Letzterem sind begrenzt. Der zweite Typus ist der Einzelerwachte.(3) Über diesen heißt es, dass er das Nirvana ganz allein und für sich verwirkliche. Die Schriften bringen den Einzelerwachten mit Zeiten in Verbindung, in denen keine anderen Erleuchteten in der Welt weilen und die Suchenden den Weg selbst finden müssen. Den dritten Typus schließlich repräsentiertder Bodhisattva (bodhisatta). Aus großem Mitgefühl (mahakaruna) möchte der Bodhisattva viele Wesen aus dem Samsara führen und verzichtet zugunsten dieses Ziels einstweilen auf das endgültige Verlöschen, um zum Samma Sambuddha, zum vollkommenen Buddha, zu werden. Dieser führt die Wesen zur Befreiung, indem er die Lehre und Praxis (neu) entdeckt und damit zum Lehrer des Dharma für ein ganzes Zeitalter wird.(4) Der historische Siddhattha Gotama war nach frühbuddhistischer Auffassung ein solcher Bodhisattva, der vor 2500 Jahren seinen schon lange eingeschlagenen Weg vollendete, indem er zum historischen Buddha wurde und die Lehre und Praxis, die seinerzeit nicht (mehr) vorhanden war, neu entdeckte und lehrte. Jeder, der heute noch seinen Pfadgeht, steht damit in seiner Nachfolge. Ein Bodhisattva verzichtet keineswegs auf das Heilsziel des Nirvana. Im Gegenteil – er geht nur nicht den schnellen Weg des Arahat, sondern bereitet sich sehr, sehr lange darauf vor, die Aufgabe eines Buddha mit höchster Vollkommenheit zu erfüllen. Dabei durchschreitet er viele Existenzen, auch Tier- und Götterwelten. Von den vielen Vorleben sowie heilsamen und mitfühlenden Handlungen des späteren Buddha erzählen zahlreiche Buddhalegenden, die in den Vorlebensgeschichten (Jātakas)(5) gesammelt und überliefert wurden.
DIE GENESIS DES BODHISATTVA-WEGS IM FRÜHEN BUDDHISMUS
Der Bodhisatta-Weg zur vollkommenen Buddhaschaft ist ohne eine starke mitfühlende Motivation nicht zu verwirklichen. Während viele Legenden über Sakyamunis Vorleben als Mensch, aber auch als Affe, Hase oder Papagei berichten und dabei seine zahllosen guten Taten rühmen, ist die erste Hälfte seines letzten Erdenlebens vornehmlich von der Suche nach dem eigenen endgültigen Erwachenbestimmt. Weil der behütete Königssohn erkannte, dass alle Wesen altern, leiden und sterben, strebte er nach Leidfreiheit und Loslösung vom Daseinskreislauf für sich selbst und die anderen. In der Befreiung von unheilsamen Gedanken und Handlungen, von Unwissenheit und sinnlichem Verlangen, entfaltete er die Meditation der geistigen Ruhe und Einsicht, bis er unter dem Bodhibaum die Erleuchtung erlangte. Im Mahapadana-Suttades Pali-Kanon werden die Vorzüge des Buddha auch zu denen eines Bodhisattva im Allgemeinen. Damit nimmt das Bodhisattva-Ideal konkrete Gestalt an. Zentral ist der Vorsatz, anderen zu dienen und diese Entschlossenheit mit einem Gelöbnis zu bekräftigen. Der Bodhisattva gelobt, zum Wohle aller Wesen das Ziel der vollkommenen Buddhaschaft zu erreichen und diesen Weg mit aller Entschlossenheit zu gehen. Viele Vorlebenslegenden sprechen, wenn der spätere Buddha gemeint ist, einfach vom Bodhisatta. Der Bodhisattva-Weg ist im Früh- und Theravada-Buddhismus der Weg zur vollkommenen Buddhaschaft, weil der Erleuchtete auf ihm gehend, den (verloren gegangenen) Dhamma wiederentdeckt und neu lehrt und damit zum „Buddha eines Zeitalters“ wird, der eine Vielzahl von Wesen zur Befreiung führt. Dieser Auffassung gemäß kann es zur gleichen Zeit keinen zweiten Buddha geben und damit auch keinen zweiten Bodhisattva, der in dieser Zeit zur Buddhaschaft gelangt, denn die Lehre ist ja bereits in der Welt vorhanden. Alle, die dem Erwachten folgend den Weg gehen, sind somit seine Schüler und gelangen – sofern sied as Große Erwachen erfahren – zur Arahatschaft. Doch kann es auf dem Weg Praktizierende geben, die auf den schnellen Weg zur Arahatschaft verzichten und sich für den langen Weg des Bodhisattva entscheiden, um in ferner Zukunft, wenn der Dhamma wieder verloren ist, die vollständige Buddhaschaft zu erlangen. In diesem Sinne nahmen schon vor 2000 Jahren und nehmen auch heute noch in den Theravada-Ländern viele Menschen das Bodhisattva-Gelübde. Jedem, der vor diesem Hintergrund das Bodhisattva-Gelübde ablegt, muss klar sein, dass er sich damit für einen sehr langen Aufenthalt in der Samsara-Welt entscheidet und auf die Möglichkeit der naheliegenden Befreiung als Arahat verzichtet. Seit Buddhas Zeiten haben viele Tausende Menschen das Bodhisattva-Gelübde genommen, doch jeder von ihnen kann erst dann als Buddha zur Vollendung und Befreiung kommen, wenn die Lehre erneut verloren ging und von ihm wieder entdeckt werden muss. Das kann viele Äonen lang dauern und Millionen Jahre des Wiedergeboren werdens im Daseinskreislauf erfordern. Doch alleine auf diesem langen Weg erwirbt ein Bodhisattva die Verdienste, Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten (parami), über die ein vollkommen Erwachter verfügt.
DER BODHISATTVA IN DEN MAHĀYĀNA-SUTREN
Mit dem Mahāyāna beginnt die Geschichte des Bodhisattva als Heilsgestalt, Erlöser und Erretter. Auch gibt es erstmals weibliche Bodhisattvas. Die Weitentwicklung des Mahāyāna besteht nicht in der „Entdeckung“ eines völlig neuen Ideals, sondern in der Neudefinition der Bodhisattva-Idee. Dabei kommt es zur Schaffung zahlreicher mythischer Bodhisattva-Gestalten, an die sich die Menschen – ähnlich den Heiligen und Nothelfernder katholischen Kirche – wenden können, um Hilfe zu erhalten. Als Folge wird der Bodhisattva weniger als Ziel des eigenen Strebens gesehen, sondern manifestiert sich in bestimmten irdischen und überirdischen Gestalten. Damit entspricht er den volksreligiösen Bedürfnissen nach verehrungswürdigen, wun-dertätigen, übermächtigen Helfern und Vorbildern. Aus dem tausendarmigen indischen Avalokiteshvara wird in Tibet (dernoch männliche) Chenrezig, in China die (weibliche) Bodhisattva Guanyin, in Vietnam die Kwan-Am, in Japan die Kanon – eine Verkörperung des Mitgefühls, die äußerlich stark an christliche Madonnendarstellungen erinnert. Mañjushrī (chine-sisch: Wenshu Pusa) muss als Bodhisattva der Weisheit auch ganz praktische Aufgaben erfüllen. Oft wird er angerufen, um Wissen und Bildung zu erlangen, zum Beispiel vor Schul- oder Universitätsprüfungen. Der Bodhisattva Ksitigarbha soll einst geschworen haben, erst dann als Buddha in das Nirvana einzutreten, wenn auch das letzte Wesen die Hölle verlassen hat. Aus dem einstigen Bodhisattva Dharmakara wird schließlich der Buddha Amitābha, der allen, die ihn um Hilfe bitten, in sein „Reines Land“ führt – eine Vorstufe zum Erlöschen im Nirvana. Eine Vielzahl von Bodhisattvas erscheint so im Laufe der Zeit, deren jeweilige Vorzüge in umfangreichen Mahayana-Sūtren gerühmt werden. Im Frühbuddhismus markieren der „Stromeintritt“, der mit dem Verschwinden der Möglichkeit des Rückfalls in Samsāra verbunden ist, den wichtigsten Meilenstein des Pfades, während im tibetischen Mahāyāna an diese Stelle das Erwecken von Bodhicitta (Erleuchtungsgeist) sowie das Ablegen der Bodhisattva-Gelübde treten. Durch unermüdliche Anstrengung erfolgt über zehn Stufen (bhūmi) der Aufstieg zur Vollkommenheit. Asanga, der Hauptbegründer der Yogacara-Schule des Mahāyāna (5. Jh.) behandelt in dem ihm zugeschrieben Werk Yogācārabhūmi-Shāstra ausführlich den Bodhisattva-Weg. Dabei spricht er im Hinblick auf die drei Wege der „Hörer der Lehre“, der „Einzelerleuchteten“ und der„Bodhisattvas“ nicht mehr von drei bodhi (Arten des Erwa-chens) sondern erstmals von drei yānas (Fahrzeugen), wobei er zudem eine wertende Klassifikation vornimmt: Das Srāvakayāna (das Fahrzeug der „Hörer“, gleichgesetzt mit dem„Hinayāna“), sei für Menschen mit „schwachen geistigen Fähigkeiten“ und „geringer ethischer Motivation“ angemessen. Vom Pratyekayāna (dem Weg der Einzelerwachten), heißt es, dass es für Personen mit der Motivation und den Fähigkeiten auf mittlerer Ebene geeignet sei. Das Bodhisattvayāna (Mahāyāna) hingegen entspreche Personen mit großen Fähigkeiten und starker Motivation und führe zur vollkommenen Buddhaschaft. Trotz dieser Hierarchisierung der „Fahrzeuge“ sieht Asanga den Arhat und den Bodhisattva-Buddha noch auf einer Stufe. Die bedeutendste Mahāyāna-Schrift zum Bodhisattva-Ideal ist das Werk Bodhicaryāvatara (Eintritt in das Leben zur Erleuchtung) von Shāntideva aus dem 8. Jahrhundert. Beid em in Versen abgefassten Werk geht es dem Autor vor allem um das Ertragen von Leid und Unrecht, um das Sich-mit-dem-anderen-Gleichsetzen und mehr noch Sich-mit-dem-anderen-Austauschen (parāt ma-parivartana) – gleich ob Wohltäter oder Feind: „Möge ich den Schutzlosen ein Beschützer sein; ein Führer den Reisenden; denen, die zum andren Ufer wollen, ein Boot, ein Damm, eine Brücke; eine Lampe für jene, die eine Lampe brauchen; ein Bett für die, die ein Bett brauchen; ein Diener für alle Lebewesen, die einen Diener brauchen.“(Verse Teil III, 17–18)(6)
DER BODHISATTVA-WEG ALS ALLGEMEINES HEILSZIEL
Im späten Mahāyāna wird die frühe Verknüpfung von Bodhisattva-Weg und Buddhaschaft aufgelöst und die Idee des Vollerwachten und „Buddha eines Zeitalters“ de facto aufgegeben. Da in uns allen die Buddhanatur (Tathāgatagarbha) vorhanden sei, könne jeder Mensch zum Bodhisattva und Buddha werden. Das ursprünglich von Buddha seinen Schülern gesteckte Ziel des Arhats, der zwar von seiner Einsicht her nicht der Weisheit eines Buddha nachsteht, jedoch nicht auch über alle Fähigkeiten eines Vollerwachten verfügt, tritt völlig inden Hintergrund. Die späteren Vajrayāna-Schulen gehen noch einen Schritt weiter und erklären den Bodhisattva-Weg als für alle mehr oder weniger verbindlich. Zusätzlich entfalten sie einen ganzen Kosmos an transzendenten Buddhas, Urbuddhas, Buddhafamilien, Buddhamandalas mit zugehörigen transzendenten Bodhisattvas, Gottheiten, Schützern, Yidams, Mantras, Attributen usw. Die heute stark verbreitete Darstellung, die Bodhisattva-Idee des Mahāyāna sei eine Kritik daran, dass der damalige „Hinayāna“ und die Arhats nur ihre eigene Befreiung anstrebten und nicht auch die der anderen Wesen, ist eine historisch nicht haltbare Selbstrechtfertigung und in ihrer heutigen Deutung eher ein Produkt westlicher Sichtweisen.(7) Als Resultat wurde damit eine Hierarchie in die regionalen und historischen buddhistischen Schulen Asiens eingeführt, die auf die Behauptung hinausläuft, nur (noch) der Mahāyāna strebe die vollständige Buddhaschaft an, der Theravāda lediglich die Arhatschaft. Die Entgegensetzung von „Wirken nur für sich selbst“ und dem „Wirken für andere“ ist im frühen Buddhismus jedoch gänzlich unbekannt. Darüber hinaus lässt die konkrete Wirkungsgeschichte keine Unterschiede im damaligen sozialen Verhaltender Buddhisten erkennen: Für eine „altruistische Wende“ des Buddhismus, weg vom „egoistischen und orthodoxen“ Mönchstum des „Kleinen Fahrzeugs“ hin zum „Großen Fahrzeug“, das sich den Leiden und Nöten der einfachen Menschen zuwendet, gibt es historisch keinerlei Belege. In den Mahāyāna-Ländern Asiens gab und gibt es auch nicht mehr an sozialem oder karitativem Engagement als in den Ländern des Theravāda.
DIE PERVERTIERUNG DES BODHISATTVA-IDEALS
Im späteren indischen und außerindischen Buddhismus kommt es teilweise zu einer bedenklichen Verzerrung des Bodhisattva-Ideals. Der frühe Buddhismus lehnt Töten und Gewalt in jedem Falle ab. Da im Mahayana die Motivation des Mitgefühls stark in den Mittelpunkt rückt, stellt sich bald die Frage, ob der Bodhisattva nicht zum „Wohle der Wesen“ auch Gewalt anwenden und töten dürfe, zum Beispiel wenn jemand bedroht wird. Schafft ein Bodhisattva durch eine Tatauch dann schlechtes Karma, wenn er aus „reinen Motiven“ handelt?(8) Im alten Königreich Sri Lanka war es den Mönchen strikt verboten, Gewalt auszuüben und zu töten. Den Königen jedoch, die als Bodhisattvas galten und deren Aufgabe es war, Dhamma und Sangha zu schützen, war die Ausübung von Gewalt und Kriegführung nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. Dem folgten später auch die theravāda-buddhistischen Königreiche Südostasiens. Einige Herrscher hatten keine Skrupel, sich gegenseitig verheerende Kriege zu liefern und dabei auch wertvolle Buddhastatuen und Texte zu erbeuten. Das schlechte Karma, das sie sich damit schufen, versuchten sie durch den Bau von Stupas, die Stiftung von Klöstern und den Unterhalt von Mönchen wiedergutzumachen. Auf den Pāli-Kanon konnten sie sich dabei allerdings an keiner Stelle berufen. Noch fataler war darum die Rechtfertigung von Töten und Gewalt in späteren Mahāyāna-Texten. Dort sind Bodhisat tvas „bereit“, das schlechte Karma des Tötens auf sich zu nehmen, um den Täter vor schlimmen Höllenstrafen zu bewahren; solches Töten wird gar als „Befreien“ bezeichnet. Da das Motiv lauter sei, würden im Gegenteil große Verdienste erworben.(9) Sogar das Töten von Irrlehrern wird gerechtfertigt, weil jene großen geistigen Schaden verursachten. Im Mahāparinirvana-Sūtra, einem zentralen indischen Mahāyāna-Text, der viele Jahrhunderte nach Buddhas Tod dessen Lebensende beschreibt, wird von dem Erwachten behauptet, er habe in einem früheren Leben als König einen Brahmanen getötet, um ihn vor dem schlechten Karma zu retten, das der Brahmane auf sich lud, indem er den Mahāyāna schmähte. Das für die Yogācāra-Schule bedeutende Bodhisattva-Bhūmi vertritt dieselbe Auffassung. Ein Bodhisattva, der sehe, wie sich jemand durch sein Handeln selber schwere karmische Folgen schaffe, habe das Recht, den Übeltäter zu töten, um ihn vor den Folgen zu bewahren.(10) Asanga, der Begründer der für Tibet zentral gewordenen Yogācāra-Schule, erklärt in seinem Kommentartext Bodhisattvabhūmi-Shāstra, dass ein Bodhisattva töten dürfe und sogar müsse, wenn ein Mensch im Begriff sei, ein fühlendes Wesen zu verletzen. Dies sei ein mitleidiger Akt und schaffe kein schlechtes Karma. Das waren keine rein abstrakten und folgenlosen Überlegungen. Überliefert ist das Beispiel jenes tibetischen Mönchs, der 842 König Langdarma tötete, um ihn von weiteren Gewalt maßnahmen gegen Dharma und Sangha abzuhalten.(11) Als Gewalt legitimierende Begründung wird auch auf die Lehre von der Leerheit (sūn yatā) Bezug genommen: Niemand sterbe letztlich wirklich, da die sinnlich wahrnehmbare Welt ohnehin nur eine Fiktion sei. Eine weitere Begründungsrhetorik wird mit dem Verweis auf „geschickte Mittel“(upāya) geliefert, die den hehren Zweck zusätzlich rechtfertigen sollen. Das erinnert an den im Abendland beliebten Satz: „Der Zweck heiligt die Mittel“, der auch dort aller Art unheiliger Verbrechen Tür und Tor geöffnet hat. Tatsächlich zeigten sich fatale praktische Konsequenzen in der Geschichte des chinesischen, japanischen und tibe-tischen Buddhismus. Chinesische Shaolin-Mönche zum Beispiel kämpften gegen Gegner und Herrscher mit härtester Gewalt und erstritten sogar Grundbesitz für ihren Orden. Auch in Tibet gab es jahrhundertelang blutige Kämpfe zwischen der Gelugpa-und der Kagyü-Schule, ebenso solche zwischen Tibet und Bhutan. In Japan unterhielten viele Klöster schlagkräftige Mönchstruppen, die sich untereinander regelrechte Kleinkriege lieferten. Während die Ethik des Buddha die Produktion und den Vertrieb von Waffen sogar den Laien untersagte und Mönche nicht einmal Knüppel und Äxte aufbewahren durften, war im Japan des 16. Jahrhunderts das Kloster Negoro-ji der Hauptproduzent von Feuerwaffen europäischer Bauart.(12) Im Samurai-Zen (Bushidō, „Weg desKriegers“) entgleiste das Bodhisattva-Ideal gar zu einer nihilistischen Todesmystik. Bekannte japanische Zenmeister feuerten im 2. Weltkrieg ihre Schüler an, „im Bodhisattva-Geist“ mit dem Schwert „Leben zu schenken“, was bedeutete, fremdes Leben zu töten.(13) Dies alles markiert einen radikalen Bruch mit der frühen Lehre. So fragt zum Beispiel im Salāyatana-Sūtta 42 (Samyutta Nikāya IV) des Pali-Kanon ein Hauptmann den historischen Buddha, ob ein Krieger, der in der Schlacht sterbe, in den Himmel komme. Buddha erklärt daraufhin, dass er keineswegs in die höheren Sphären, sondern in eine der Höllen gelange. Dabei wird keine Grenzlinie zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg gezogen. Im Abhidharmakosha wird sogar das Töten in Notwehr oder um eine befreundete Person zu schützen abgelehnt. Angehörige der Familie des Buddha hatten sich bei der Eroberung ihres Landes Sakyadurch den König von Kosala lieber niedermetzeln lassen, als durch gewaltsamen Widerstand ihre ethische Selbstverpflichtung zur Gewaltfreiheit (ahimsā) zu brechen.(14)
DER BODHISATTVA – PIONIER EINER KULTUR DES MITGEFÜHLS
In Asien ist die Verbreitung des Bodhisattva-Idealsauch eng mit einem politisch und sozial engagierten Buddhismus verknüpft. Hilfe und Dienst am Nächsten waren gerade im frühen Buddhismus nicht auf geistigen Zuspruch, Lehrdarlegungen und das Zelebrieren von Ritualen beschränkt, sondern durchaus in sehr praktischer Weise auch an der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ausgerichtet. Mit dem Herrscher Ashoka (3. Jh. v. Chr.) beginnt die Geschichte des Dharma als politische und staatliche Ethik mit dem Ideal des weisen, wohltätigen und gewaltfreien Monarchen. Unter Kaiser Asoka war es historisch erstmalig Ziel staatlichen Handelns, ein umfassendes Sozialstaatsystem, die Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur, den leichteren Zugang zu medizinischen Heilmitteln, Spitäler für Arme, Alte und Kranke, die Unterstützung aller, die auf einem spirituellen Weg praktizieren, eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, staatliche Wirtschaftsförderung sowie eine Gerichtsbarkeit, die weniger auf Strafe und mehr auf die Vermeidung von Verbrechen und die Besserung des Straftäters zielt, zu errichten. Heute ist das Bodhisattva-Ideal Motivation für sozial, humanitär, gewaltfrei, menschenrechtlich und ökologisch engagierten Buddhismus. Wie schon seit Jahrtausenden bildet der Weg des Bodhisattva ein alternatives Lebensmodell zu einer Strategie, die auf dem Kampf der Einzelwesen um die private Aneignung der Natur und weltlichen Güter gründet. Da der Bodhisattva die Leerheit aller Erscheinungen erkannt hat, ist er frei von weltlichem Verlangen. Gleich einer liebevollen Mutter, der das Wohl ihrer Kinder wichtiger ist als das eigene, sorgt er sich um die fühlenden Wesen. Wohl wissend, dass alles Begehren nur enttäuscht und die Wurzel des Leidens ist, lebt er mit seinem mitfühlenden Handeln in dieser Welt, die er gleichwohl innerlich überwunden hat. Freundlichkeit, Ruhe und Achtsamkeit bestimmen sein Verhalten. Gemäß der Geschichte von den beiden Bambusakrobaten, die gemeinsam das Publikum durch ihr virtuoses Können beeindrucken, weil auch in der gefährlichsten Darbietung jeder auf sich selbst und zugleich auf den anderen achtet, schützt er sich selbst, indem er den Anderen schützt, und schützt er den Anderen, indem ersich selbst schützt.(15) Weil das Handeln mehr zählt als die Worte, ist es am Ende auch nicht entscheidend, ob der Bodhisattva „Buddhist“ ist oder nicht. Auch Jesus war ein Bodhisattva, wieviele Heilige aus den anderen Religionen, ebenso zahlreiche nicht religiöse, selbstlos handelnde Menschen, kurz alle, die sich in ihrem Leben von Weisheit und Mitgefühl leiten lassen.
- Für den Frühbuddhismus wird hier ausdrücklich nicht die Bezeichnung „Hināyāna“ (niederes bzw. schlechtes Fahrzeug) verwendet, da sie eine abschätzige Haltung diesem gegenüber zum Ausdruck bringt.
- Pali: Sāvaka, Sanskrit: Srāvaka
- Pali: Paccekabuddha, Sanskrit: Pratyekabuddha
- Siehe Walpola Rahula: „Das Bodhisattva-Ideal im Theravāda und im Mahāyāna“, in: Lotusblätter 2 (1998), S. 25.
- Die Jatakas gehen auf indische Fabeln, Anekdoten und Gleichnisse zurück. In vielen von ihnen wird geschildert, wie der Buddha in seinen Vorleben durch selbstloses Handeln jene Eigenschaften erwarb, die ihn zum Erwachen führten
- Erwin Steinkellner (Hrsg.): Santideva – Eintritt in das Leben der Erleuchtung, München 1997.
- Diese Deutung geht hauptsächlich auf den ehemaligen Marxisten Edward Conze zurück.
- Vgl. Michael von Brück: Gewalt und Gewaltüberwindung im Buddhismus, in: www.buddhismuskunde.uni-hamburg.de/fileadmin/pdf, S. 1 u. 5.
- Siehe Lambert Schmithausen: „Buddhismus und Gewalt“, in: Tibet und Buddhismus, Heft 53 (2000).
- Lambert Schmithausen: „Einige besondere Aspekte der Bodhisattva-Ethik in Indien und ihre Hintergründe“, in Horin, Nr. 10, Düsseldorf, 2004.
- Siehe Christoph Kleine: „Shaolin-Kungfu, Mönchssoldaten, Tyrannenmörder: Wie friedfertig war und ist ‚der Buddhismus‘ wirklich?“, in: www.buddhismuskunde.uni-hamburg.de/fileadmin.pdf, S. 74.
- Siehe ebenda, S. 71 und http://de.wikipedia.org/wiki/Negoro-ji.
- Siehe Brian Victoria: Zen, Nationalismus und Krieg, eine unheimliche Allianz, Berlin, 1999; S. 312 ff.
- Siehe Schmithausen, Buddhismus und Gewalt.15 Pali-Kanon, Sedakam-Sutta, Satipatthana Samyutta, Nr. 19.
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