Die Entdeckung des Menschen
Religion, Humanismus und Globalisierung
von Franz-Johannes Litsch
Täglich werden wir heute mit Nachrichten von entsetzlichen Bombenanschlägen und verheerenden Militäreinsätzen konfrontiert. Wir erleben globale eine ansteigende Spirale der Gewalt, der Angst, der Verunsicherung. Dem überheblichen und völlig ungeeigneten "Kampf gegen den Terror" steht ein ebenso blinder und fanatischer "heiliger Krieg" gegen die Ungläubigen, die "Kreuzfahrer, Freimaurer und Juden" gegenüber. Es ist längst abzusehen, dass keine der beiden Seiten diesen Krieg gewinnen wird. Und der Hauptverlierer steht von Anfang an fest, es ist die Menschlichkeit, die Humanität.
Seit einigen Jahren kündigt der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington den globalen "Kampf der Kulturen" an, wo wir doch zugleich jeden Tag beobachten können, wie die Menschen und Kulturen unserer gemeinsamen Erde immer dichter zusammentreffen, immer intensiver miteinander Handel treiben, sich geistig und kulturell austauschen, durch Reisen und Medien einander kennenlernen und auf vielfache Weise miteinander verknüpft sind und voneinander abhängig werden.
Ein anderes Wort, das darum in den letzten 10 Jahren zum zentralen politischen Begriffe geworden ist, heisst: Globalisierung. Zumeist ist damit die wirtschaftliche Globalisierung gemeint und bezeichnet die nach der Auflösung des sozialistischen Lagers endgültige globale Ausbreitung der im modernen Westen entstandenen, ungehinderten und alles beherrschenden industriellen kapitalistischen Marktwirtschaft. Während diese einerseits alle Völker und Menschen unter ein und derselben industriellen und konsumistischen Lebensform vereinheitlicht, brechen zugleich innerhalb dessen immer größere Gegensätze und Gräben sozialer Ungleichheit und politischer, kultureller, religiöser, ethnischer Differenzen auf.
Wohin geht also die Entwicklung der Menschheit? Zum Krieg aller gegen alle oder zum friedlichen und fruchtbaren Zusammenwachsen der Menschen und Völker? Und welche Rolle spielen die Religionen dabei oder könnten sie spielen?
All jene Begriffe: Humanismus, Globalisierung, Kampf der Kulturen haben auch - und nicht erst seit heute - viel mit den Religionen und ihrer Geschichte zu tun. Ja, die Entstehung der grossen Weltreligionen der Menschheit sind unmittelbar mit der Herausbildung dieser Erscheinungen verbunden. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers wies vor einigen Jahrzehnten erstmals auf ein bedeutendes kulturgeschichtliches Phänomen hin, das er "Achsenzeit" nannte. Mit jenem Begriff kennzeichnete er den einzigartigen historischen Zeitraum um das 5. Jahrhundert vor Christus. In jener Zeit traten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte gleichzeitig und fast rund um den Globus eine Reihe herausragender Persönlichkeiten auf, deren Lehre und Wirken bis zu uns heute grundlegende geistesgeschichtliche Bedeutung hat. Noch die heutigen vorherrschenden Kulturen und Denkweisen der Menschheit beruhen fast durchweg auf dem, was in jener Zeit an neuer geistigen Basis entstanden war.
Es ist es dies die Zeit des Beginns der abendländischen Philosophie in Griechenland mit Thales von Milet, Heraklit, Pythagoras, Parmenides, Demokrit, Sokrates, Platon, Aristoteles usw. Zeitgleich hören wir von den großen Propheten Elias, Jesaja, Jeremias und Daniel in Palästina (Israel). In Indien entstehen gleichzeitig die Upanischaden (heilige Schriften des Hinduismus) und wirken die Weisheitslehrer und Religionsstifter Gotama Buddha und Mahavira (der Begründer der Jaina-Religion). Und in China treten die großen Meister Kungfutse, Laotse und Tschuangtse auf.
Jaspers zählte noch den persischen Religionslehrer Zarathustra dazu, doch nach neueren Forschungen gehört dieser in eine frühere Zeit (ca. 1000 v. Chr.), in dieselbe Zeit wie Moses, mit dem er wiederum einiges inhaltlich gemein hat, eine Sichtweise, die sich von der der Achsenzeit deutlich unterscheidet. Von den Hochkulturen Amerikas haben wir aus dieser Zeit leider keine schriftlichen Zeugnisse.
Zu keiner Phase der Menschheitsgeschichte gab es einen Zeitraum, wo so viele, so hervorragende und nachhaltig wirkende Geister nahezu gleichzeitig in Erscheinung traten. Bis heute leiten und beschäftigen uns diese Lehrer, bis heute prägt ihr Denken die Unterschiede unter den Weltkulturen.
Das wirklich Bedeutsame daran ist aber mehr als die historische Wirkung und das zeitliche Zusammentreffen, es ist der neue und gemeinsame Geist, der bei ihnen zu erkennen ist. Denn alle diese Lehrer waren nicht nur Menschheitslehrer im historischen Sinne, sondern Menschheitslehrer im Sinne ihrer Lehre selber. Was sie lehrten, war der Mensch, war die Menschheit, war die Menschlichkeit. Es war die Botschaft, dass der Mensch in seiner Grundnatur überall gleich ist, dass es wesenhaft nur den einen Menschen gibt, dass alle Menschen untereinander verwandt, ja Brüder und Schwestern sind. Und zugleich, dass der Mensch - so wie er sich zeigt - noch nicht zu seinem wahren Menschsein gekommen ist, noch nicht erwacht, noch nicht verwirklicht ist. Dass zwischen seiner Möglichkeit und seiner Wirklichkeit eine tiefe Kluft besteht und dass es darauf ankommt, diese zu überwinden. All dies war das Neue, das den Menschen jener Achsenzeit erstmals bewußt wurde. Und es war diese Botschaft, die aus den daraus hervorgehenden Religionen und Philosophien Weltreligionen und Weltphilosophien machte.
Alle vorausgegangenen Religionen waren Stammesreligionen und ihre Götter und Geister waren Stammesgötter oder lokale Naturgeister. Trotz bereits hochentwickelter Kultur waren das alte Babylon, Ägypten, Griechenland, das alte Indien und China noch von Stammesbewußtsein geprägt. Und auch heute noch sind z.B. das Judentum, der Hinduismus, der Konfuzianismus und der japanische Shintoismus Religionen, denen man nicht beitreten kann, sondern in die man hineingeboren sein muss (wenn sich hier inzwischen auch eine Öffnung vollzieht). Die neue Botschaft der Achsenzeit richtet sich nicht mehr nur an den engen Kreis der Blutsverwandten, der Sippe, des Dorfes, des Stammes, des Volkes sondern richtet sich unterschiedslos an alle Menschen auf diesem Globus. Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Rassismus sind darum bereits seit 2500 Jahren geistesgeschichtlich überholt und rückständig.
Europa
Im abendländischen Kulturkreis setzt die Herausbildung des Geistes der Menschlichkeit mit der griechischen Philosophie ein. In Abkehr von den Göttern, die inzwischen zu irdisch und unglaubwürdig geworden sind, beginnen zuerst die Künstler und dann die Denker, den Menschen zu entdecken. Denn längst kommen die Menschen in den bereits großen Städten des Mittelmeerraums immer mehr mit Menschen, Waren, Kulturen und Ideen anderer Länder und Völker in Kontakt. Die griechische Welt breitet sich in immer neuen Kolonien über fast sämtliche Mittelmeerküsten und selbst ins schwarze Meer hinein aus und es ist kaum Zufall, dass der erste Held der ersten großen abendländischen Literatur der Seefahrer und Abenteurer Odysseus ist.
Die griechische Philosophiegeschichte beginnt, analog zu den Religionen, bekanntlich mit den Naturphilosophen. Heraklit sagt zwar bereits: "Mich selbst habe ich erforscht" doch erst die Philosophenschule der Sophisten lenkt den Blick von der Ergründung der Natur auf die Ergründung des Menschen. Zugleich richtet sie erstmals im Abendland das menschliche Denken auf das Denken selbst und unterzieht die herrschenden moralischen Wertmaßstäbe einer vernunftgemäßen Betrachtung. Protagoras prägt den Satz: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge". Leider wurde er allzu oft missgedeutet.
Sokrates macht den Spruch: "Erkenne dich selbst" (gnothi seauton) über dem Eingang des Apollotempels von Delphi zu seinem Lebensinhalt. Was er zu ergründen sucht, ist der "Daimonion", die innere Stimme im Menschen, sein wahres Wissen. Seine dialogische Philosophie versteht er als "Maieutik", als Hebammentätigkeit für der Geburt des eigentlichen Menschen. Er sagt: "Meine Tätigkeit ist die eines Geburtshelfers und gleicht der der Hebamme: Jene wirken auf die Frauen und ich auf die Männer, sie auf die Körper und ich auf die Seelen." Er versucht die Menschen dazu anzuregen, sich um sich selbst zu kümmern, denn wer dies tue, tue sich selbst Gutes und bringe sich dadurch dem Lebensglück (eudaimonia) näher. Keiner tue willentlich Schlechtes, wo dies doch geschähe, geschähe es durch Nichtwissen. Darum komme es darauf an, sich selbst kennen zu lernen. Sokrates, obwohl - weil unbequem - von etlichen seiner Zeitgenossen angefeindet und schließlich zum Tode verurteilt, hat ein grundlegend positives Menschenbild.
In der griechischen Stadt Sinope geht der weise aber etwas seltsame Diogenes mit einer Lampe bei Tag über den Markplatz und angesprochen darauf, was er denn suche, antwortet er: "einen Menschen". Ein andermal wird er von einem, der ihn nicht kennt, gefragt, wer er sei und er antwortet: "Kosmopolites" "Weltbürger" oder auch "Allbürger". Diese Antworten sind so neu, dass sie bis heute in Erinnerung geblieben sind. Der Kyniker Diogenes lebt die völlige Bedürfnislosigkeit, denn er ist überzeugt, dass Glück nur da gefunden werden kann.
Aristoteles schreibt in seiner "Nikomachischen Ethik": beim Menschen sei das Gefühl für die Stammesverwandtschaft unter Artgenossen am stärksten ausgeprägt. Und er fährt fort: "Daher schätzen wir die Philanthropen (die Menschenfreunde). Gerade wenn es einen in die Irre, in die Fremde verschlagen hat, kann er leicht erkennen, wie eng vertraut jeder Mensch jedem Menschen ist und wie sehr doch ein Freund." Der Philanthropos, der "Freund des Menschen" wird zum kennzeichnenden Begriff des neuen Denkens.
Menander, ein ferner Schüler des Aristoteles schreibt eine Komödie, in der ein Mann einen anderen fragt, was er da gerade tue. Der antwortet unwirsch, dass ihn als Fremden das doch garnichts angehe. Doch der Frager entgegnet: "Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches nenne ich mir fremd." Der Philosoph Epikur singt zur gleichen Zeit: "Die Freundschaft tanzt ihren frohen Reigen um die ganze Welt, durch alle Länder, alle Völker und lädt uns ein, doch endlich aufzuwachen zum Lobpreis des Lebens".
Eine Generationen vor Jesus von Nazareth schreibt der Römer Cicero: "dass ein Mensch einem Menschen allein schon aus dem Grunde, dass er ein Mensch ist, nicht als ein Fremder gelten darf." Und zum ersten Mal spricht hier ein Europäer von der "allumfassenden Gemeinschaft" aller Menschen und zwar nicht nur über alle räumlichen sondern auch zeitlichen Grenzen hinweg. Und er schreibt: "dass wir auch für die Generationen, die in Zukunft einmal leben werden, um ihrer selbst willen Vorsorge treffen müssen." Und fährt fort: "Und nicht schärfer ist zu tadeln, wer sein Vaterland verrät, als wer das Interesse oder das Wohl dieser weltumspannenden Gemeinschaft um seines persönlichen Interesses oder Wohles willen preisgibt." Vor 2000 Jahren hat hier einer bereits die Erkenntnis, dass über die Liebe zum eigenen Volk und Land die Liebe zur Menschheit hinausgeht und dass dies globale Verantwortung verlangt.
Cicero ist es auch, der den Begriff "Humanitas", "Menschlichkeit" prägt und zum Inhalt seines Lebens macht. In der römischen Humanitas kommt die griechische Kultur der "paedaia" (Erziehung) und der "philanthropia" (Menschenliebe) zusammen. Die Menschlichkeit des Menschen ist nicht ursprünglich schon da, sondern muss entwickelt und herausgebildet werden. Der eine, ganze, wahre Mensch ist noch nicht vorhanden, der Mensch ist unvollendet, er muss erst hervortreten.
Dieses Sich-Offenbaren des Menschen geschieht historisch mit dem Auftreten jenes Juden Jesus von Nazareth in der römischen Provinz Palästina. Dessen Liebes- und Friedens-Botschaft, das Wort "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst", ja "Liebet eure Feinde" stellt den Geist der Entfaltung der Menschenliebe in das Zentrum wahren religiösen Lebens. Aber er ist keine völlig neue und nur ihm eigene Botschaft mehr, er ist bereits Ausdruck der Zeit. Wichtiger darum als die Worte Jesu ist sein Handeln, ist sein Personsein. In Jesus, dem Christus inkarniert sich dieses neue Bewußtsein, in ihm "ist" - wie der Evangelist Johannes schreibt - "das Wort Fleisch geworden", das Wort: Mensch. Er ist der Mensch, der Inbegriff des Menschen - "Ecce Homo", ("Seht den Menschen"). Es ist ein Römer (Pilatus) , der es von einem Juden (Jesus) sagt, ein Vertreter des mächtigen Kaisers von einem ohnmächtigen Gefangenen.
Jesus wird damit zum Inhalt und Begründer einer Weltreligion, einer Religion, die sich unterschiedslos an Juden, Griechen, Ägypter, Römer, Gallier und Germanen, an alle Menschen wendet. Vor allem mit dieser Grundhaltung wurde der hellenisierte Jude Paulus von Tarsos dann zum eigentlichen Gründer und Apostel des Christentums. Und diese katholische, wörtlich "allumfassende" Gemeinschaftlichkeit (Ecclesia, Kirche) lässt das Christentum dann auch zur Religion des römischen Weltreiches werden.
Parallel zur geistigen hatte sich auch die erste politische und wirtschaftliche Globalisierung der alten Welt vollzogen. Schon seit Jahrhunderten florierte der weiträumige Warenaustausch auf dem Landweg über die "Seidenstraße" und auf dem Seeweg über die "Gewürzstraße" zwischen dem Mittelmeerraum, Persien, Indien und China. Und über die "Weihrauchstraße" ebenso der zwischen Europa, Arabien und Afrika. Und in der Erbschaft des Griechentums und seiner Ausdehnung war von Rom ausgehend, durch konsequente, effiziente wie auch brutale Eroberungspolitik das römische Weltreich entstanden.
Bereits 300 Jahre vor dem ersten römischen Imperator hatte der Mazedonier Alexander, Schüler des Philosophen und Wissenschaftlers Aristoteles mit forschender Neugier und Rücksichtslosigkeit erstmals alle Grenzen der mittelmeerisch-antiken Welt durchbrochen, hatte sich uralte, mächtige, große Reiche und Kulturen unterworfen (Ägypten, Babylon, das Perserreich) und war bis nach Indien gelangt, in den Raum des dort bereits blühenden Buddhismus. Mit sich trug und verbreitete er den Geist des Hellenismus.
Am Indus zur Umkehr gezwungen, hinterließ Alexander zahlreiche Soldaten und Tross und gründete mehrere asiatisch-hellenistische Königreiche, insbesondere das von Gandhara in Afghanistan und Pakistan. In diesem wurden von griechischen Bildhauern die ersten Buddhadarstellungen der Geschichte angefertigt. Sie wählten dafür als Vorbild die Gestalt des Sonnengottes Apollo, ebenso wie bald darauf auch für Christus im Westen. Auf diese Weise kam es in Afghanistan zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte zu einem lebendigen Ost-West-Dialog, einer kulturellen Synthese von Europa und Asien, von griechischer Ästhetik und buddhistischem Geist, eine frühe großartige Blüte der Globalisierung und des Humanismus.
Es ist sogar ein schriftliches Zeugnis des damaligen interkulturellen und interreligiösen Dialogs erhalten geblieben, nämlich das in Pali-Sprache und in Chinesisch überlieferte "Milindapañha", ein umfangreiches Buch, welches ein intensives philosophisches Gespräch zwischen dem Griechenkönig Milinda (griechisch: Menandros) und dem buddhistischen Mönch Nagasena wiedergibt.
Da vom Gandhara- bzw. Kushan-Reich auch die frühe buddhistische Missionierung Mittel- und Ostasiens und die Spätform des klassischen Buddhismus, der Mahayana ausging, reichte der griechisch-buddhistische Impuls - vor allem in der Kunst - schließlich bis nach China, Korea und Japan. Hellenistischer Geist gelangte so bis an den äussersten Rand des eurasischen Kontinents.
Asien
Besonders ausgeprägt und von großer Tiefe kam das neue Bewußtsein von der wesenhaften Einheit des Menschen wie auch vom verwirklichten Menschsein in der Person und Lehre des Gautama Buddha zum Ausdruck. Er wurde zum Begründer der ersten Weltreligion (im obigen Sinne). Bei ihm steht der Mensch radikal im Mittelpunkt all seiner Lehre und Bemühungen. Es ging ihm um den Menschen hier und jetzt, um die durch ihn selbst verursachten Leiderfahrungen, um die durch ihn selbst zu vollziehende Befreiung von aller Selbsttäuschung, die Verwirklichung der Buddhaschaft.
Wie in Griechenland ist das "Erkenne dich selbst" auch die Übung, Erfahrung und Einsicht, die im Zentrum von Buddhas Leben und Lehre steht, der Inhalt jenes Ereignisses, aus dem der gesamte Buddhismus hervorgeht: jene Nacht der Erleuchtung, die aus dem ehemaligen Prinzen und Asketen Siddhattha Gotama - Buddha, den Erwachten machte.
Der "Erwachte" ist der zu sich selbst und damit zugleich zum Anderen erwachte. Er ist der zum wahren Menschsein erwachte Mensch (Satpuggala). Der Erwachte erfährt und erkennt sein grenzenloses Ungetrenntsein von allen Menschen, ja allen empfindenden Wesen im ganzen Universum, ob längst vergangen oder zukünftig, ob weit entfernt oder nah, ob in Leiden verstrickt oder befreit. Er erkennt sich in allen und alle in sich. Er sieht: ich bin Nicht-Ich, ich bin der Andere, ich bin Du. In einem berühmten Sutra späterer Zeit (der Zeit des Lebens Jesu) wird dies auf einfache und klare Weise ausgesprochen:
"Der Bodhisattva soll in bezug auf alle Wesen die Idee entwickeln:
dies ist meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, meine Tochter, ja dies bin ich selbst.
Wie ich selbst von allen Leiden gänzlich frei sein möchte,
so möchten alle Wesen frei sein."
(Prajnaparamita Sutra)
Und in einem Meditationstext Buddhas, dem sog. Metta-Sutta heisst es:
"Genau so, wie eine Mutter ihr einziges Kind liebt und unter Einsatz ihres Lebens schützt, sollten auch wir grenzenlose, allumfassende Liebe für alle Lebewesen entwickeln, wo immer sie sich auch befinden mögen.Unsere grenzenlose Liebe sollte das ganze Universum durchdringen, nach oben, nach unten und überall hin. Unsere Liebe wird keine Hindernisse kennen, und unsere Herzen werden vollkommen frei von Hass und Feindschaft sein. Ob wir stehen oder gehen, sitzen oder liegen – solange wir wach sind, sollen wir diese liebende Achtsamkeit in unserem Herzen bewahren."
Lehrte der Buddha einerseits, dass es keine Trennung gegenüber den anderen Wesen gibt, so lehrte er dennoch keine allgemeine Gleichmacherei. Er unterschied sehr wohl zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen und ihren Möglichkeiten. Nur den Menschen allein erkannte er als unmittelbar fähig zum Erwachen und zur Befreiung, da nur er Selbstbewusstsein besitzt. Existiert für den Buddha keine Getrenntheit des Menschen von den anderen empfindenden Wesen, so existiert erst recht keine gegenüber den anderen Menschen. Als einer der ersten Lehrer der Menschheitsgeschichte verkündet er die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen. So heißt es in einem der frühen Texte:
"Was Würmer, Schlangen, Fische, Vögel und andere Tiere betrifft, so hat jede Art ihre eigenen Merkmale. Es bestehen Unterschiede zwischen den Wesen, die einen Körper haben, aber dies trifft nicht auf die Menschen zu; die Unterschiede zwischen den menschlichen Wesen existieren nur dem Namen nach."
(Sutta-Nipata 602-611).
Demnach kann es für den Buddha keine Fremdheit, keine Kasten-, Standes-, Sippen-, Stammes- oder Nationenunterschiede mehr geben. Und er begründet er eine Lehre - den Dhamma - und eine Lebensform - den Sangha - die sich unabhängig von Geschlecht, Alter, Klasse oder Rasse an alle Menschen wendet und auch in ihrer konzentrierteren Form, in der Ordensgemeinschaft der Mönche und Nonnen grundsätzlich allen offen steht. Buddha Sakyamuni kannte darum keine Unterschiede und Vorbehalte in seinen Begegnungen mit den Menschen. Er ging auf Könige und Minister ebenso unbefangen zu wie auf einfache Bauern, Kastenlose, Prostituierte oder gar Mörder und nahm solche sogar in den Sangha auf.
Indien war damals schon eine ausgeprägte Kastengesellschaft und die herrschende Religion, der Brahmanismus war die Religion der herrschenden Kaste, der Brahmanen, einer erblichen Priesteraristokratie. Sie fühlten sich durch Buddhas Lehre und Verhalten erheblich provoziert. Dementsprechend finden sich in der umfangreichen Sammlung frühbuddhistischer Lehrtexte zahlreiche Stellen, die schildern, wie aufgebrachte Brahmanen den Buddha aufsuchen, um ihn wegen seiner Ablehnung der für sie religiös offenbarten vedischen Lehre von der unterschiedlichen Reinheit der Kasten zur Rede zu stellen. In einem der Suttas, das teilweise in Versform abgefasst ist, antwortet Buddha z.B. auf die Auffassung, Priester sei man nur durch Geburt, folgendermaßen (auszugsweise):
"Gemeinsam ist ein jeder Mensch
Mit seinem Leibe so begabt.
Was Menschen unterschieden macht,
Es ist der Name, den man gibt.
Nur Name ist es in der Welt,
Den Stand und Titel darzutun,
Von alters überkommen uns,
Gegeben weiter fort und fort.
Was lange Zeiten man geglaubt,
Das Wort Unweiser, ihr Gebot,
Man spricht es also noch uns vor:
'Ein Priester ist man durch Geburt.'
Geburt macht nicht den Priester aus,
Geburt läßt nicht Nichtpriester sein:
Die Tat macht einen Priester aus,
Die Tat läßt ihn Nichtpriester sein.
Getreu der Wahrheit, wohlbewährt,
Betrachten Denker so die Tat;
Wie eines aus dem andern folgt
Verstehn sie, was die Tat erwirkt.
Durch Taten ist die Welt bedingt,
Bedingt durch Taten ist das Volk;
Um Taten dreht sich alles um,
Wie um die Achse rollt das Rad."
(Majjhima Nikaya 98, Vasettha Sutta,
nach der Übersetzung von Karl Eugen Neumann,1865-1915)
Die alle Menschen in ihrer Gleichwertigkeit sehende Menschenliebe der Buddhalehre findet sogar einen Ausdruck, der zeitgleich - obwohl Kontinente voneinander entfernt, Buddhismus und Christentum zu fast wörtlich gleichen Formulierungen kommen lässt. So heisst es in der Bergpredigt Jesu:
"Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte." (Matthäus 5, 43-45)
In einem bedeutenden, aus gleicher Zeit stammenden Sutra des Mahayana-Buddhismus, dem Lotus-Sutra heisst es:
"Ich bin der Tathagata,
geehrt unter den Menschen;
Erscheine in der Welt
Wie eine grosse Wolke,
Um Segen auf alle
Ausgedörrten Lebewesen auszugiessen,
Um sie von allem Elend zu befreien,
Auf daß sie die Freude des Friedens,
Freude in der Welt
Und die Freude des Nirvana erlangen.
...
Um allen Wesen Frieden zu geben,
Erscheine ich in der Welt,
Und für die Scharen von Lebewesen
Lehre ich das Dharma, rein wie süßer Tau:
Das eine und einzige Dharma
Von Befreiung und Nirvana.
...
Ich blicke auf alle Lebewesen
Überall mit gleichen Augen,
Ohne zu unterscheiden,
Ohne Anhaftung oder Abwehr.
Ich habe keine Vorlieben,
Noch Begrenzungen oder Voreingenommenheit;
Stets lehre ich allen Wesen
Das Dharma in gleicher Weise;
So wie ich es einem Menschen lehre,
So lehre ich es für alle.
...
Gleich einem Regen, der alles befruchtet.
Beachtete und Bescheidene, hoch und niedrig gestellt,
Gesetzestreue und Gesetzesbrecher,
Menschen mit vollkommenem
Und unvollkomenem Charakter,
Gläubige und Irrgläubige,
Scharfsinnige und Schwerfällige;
Auf alle gieße ich unermüdlich
Und in gleichem Maße
Den Regen des Dharma."
(Das Dreifache Lotos Sutra, Kap.5)
Einer der Schüler Buddhas, der dessen humanitären Geist in besonderer Weise aufgriff und in die Tat umsetzte, war der indische Kaiser Ashoka im 3. Jh. vor unserer Zeitrechnung. Nach etlichen verheerenden Kriegen zur Einigung des Landes hatte er sich zur Lehre des Buddha bekehrt, sagte öffentlich aller Gewalt und Despotie ab und errichtete in seinem Reich den ersten Sozialstaat der Menschheitsgeschichte. In diesem wurden nicht nur Menschen sondern auch Tiere geschützt, hier genossen alle Religionen Glaubensfreiheit, hier war Krieg als Mittel der Politik geächtet, hier fühlte sich der Staat nicht dafür zuständig, den Reichtum der Reichen zu mehren, sondern wirtschaftliches Wohlergehen und soziale Gerechtigkeit unter allen seinen Bewohnern herzustellen. Zwar wurden viele Errungenschaften Ashokas von seinen Nachfolgern wieder rückgängig gemacht, aber sein Beispiel war von damals bis heute in ganz Asien Vorbild für gutes Regieren und wirkt auch heute noch nach.
Kaiser Ashoka hatte seine berühmten ethischen Leitsätze und Verfügungen (Edikte) in mehreren Sprachen und Schriften anfertigen lassen, auch in Griechisch. Und er sandte Missionare in alle Himmelsrichtungen aus, um die Lehre des Buddha und seine politischen Einsichten und Beschlüsse allen mitzuteilen. Einige davon wurden auch nach Westen in den Mittelmeerraum geschickt und es ist anzunehmen, dass sie dort auch ankamen, wovon wir jedoch leider keine Zeugnisse nur einige Indizien haben.
Bereits Alexander brachte bei seiner Rückkehr aus Indien Wissen und Ideen mit, so dass es durchaus naheliegend ist, dass die ab dieser Zeit - dem 3. Jh. vor Christus - im griechischen und später römischen Kulturraum existierende Philosophenschule der Stoa (insb. mit Zenon aus Kition, Seneca und Marcus Aurelius) letztlich buddhistischer Anregung zu verdanken ist. Wer denkt bei den Stoikern nicht an "stoische Ruhe"? Lässt sich darin nicht die Kenntnis von buddhistischer Meditation vermuten? Die Stoiker lehrten die vernunftgemäße Beherrschung der Begierden und Leidenschaften, die heitere Gelassenheit, die läuternde Ethik und die allgemeine Menschenliebe. Sie waren die ersten, die die Gleichwertigkeit der Sklaven und der "Barbaren", der Fremden verkündeten. Die Stoiker hatten einen bedeutenden Anteil an der Herausbildung des antiken Humanismus. Und die Ähnlichkeiten mit den Lehren des Buddha sind unübersehbar. So gelangte in der Antike sehr wahrscheinlich nicht nur griechischer Geist nach Asien sondern auch buddhistischer Geist nach Europa und gestaltet dieses tiefgreifend mit.
Dass es enge wirtschaftliche Verbindungen zwischen Indien und dem Mittelmeerraum gab, wurde bereits erwähnt. Alexandria, von Alexander dem Großen in Ägypten gegründete Stadt, kann wohl eine der ersten Weltstädte (Global Cities) der Geschichte genannt werden. Sie wurde nicht nur in kurzer Zeit zur größten Stadt des Mittelmeerraums, sondern war der Dreh- und Angelpunkt des gesamten Ost-Westhandels, war Bankenmetropole, Treffpunkt der Völker und Hochburg der Bildung und Wissenschaft. Die tragisch verlorengegangene Bibliothek von Alexandria ist noch immer berühmt. Bis heute erhaltene antike Beschreibungen und Karten aus Alexandria geben uns detaillierte Auskunft darüber, welche Waren in welchen Mengen zu welchen Preisen zwischen Rom und Indien und dann auch China auf dem Schiffswege gehandelt wurden. Und so hat man in unseren Tagen in Benares (Varanasi), der heiligsten Stadt Indiens am Ganges eine römische Frauenstatue gefunden, in Südindien Töpferware aus der etruskischen Toskana, chinesische Seide im antiken Rom und im Grab eines Wikingerfürsten in Schweden eine kleine sitzende Buddhafigur.
Es ist überliefert, dass zur römischen Zeit auch Inder nach Alexandria gelangt waren und es wird von mindestens einem Gelehrten aus Indien berichtet, der höchstwahrscheinlich buddhistischer Mönch war. Kaum verwunderlich, dass es dann auch der frühchristliche Kirchenvater Clemens von Alexandria war, der im 2. Jahrhundert nach Christus als erster Abendländer den Buddha namentlich als Menschen außergewöhnlicher Heiligkeit erwähnte.
Nicht das hellenistisch-römische Reich, sondern der buddhistische Einflussbereich war für viele Jahrhunderte der größte Kulturraum der Geschichte. Über 1400 Jahre lang - von ca. 200 vor unserer Zeitrechnung bis ca. 1200 danach - war der Buddhismus an Flächenausdehnung und Zahl der Anhänger die größte Religion der Erde (vom Osten Persiens bis Japan, von Sibirien bis Indonesien). Er verband so viele verschiedene und weit auseinander liegende Völker, Länder und Kulturen miteinander, wie es dies bis dahin in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben hatte. Es war seine Offenheit, Menschenfreundlichkeit und Gewaltlosigkeit sowie seiner Integrationsfähigkeit gegenüber den jeweils schon vorhandenen Religionen, kurz – es war seine Humanität, die es ihm ermöglichte, sich ganz ohne Krieg und Eroberungen über diesen gewaltigen geografischen Raum auszubreiten.
Europa und die Welt
In den letzten 800 Jahren (seit dem 13. Jahrhundert) wurde der Buddhismus von den sich nun ebenfalls global, doch gewalttätig ausbreitenden Weltreligionen des Islam und des Christentums zurückgedrängt. Die Ursachen für den Niedergang ja das Verschwinden des Buddhismus in zahlreichen Ländern Asiens, vor allem im Ursprungsland Indien selber sind allerdings vielfältig und haben auch mit inneren Entwicklungen zu tun.
Mit der Entdeckung und Eroberung Amerikas, Afrikas und großer Teile Asiens durch die europäischen Kolonialmächte beginnt schließlich eine Phase der Menschheitsgeschichte, in der europäischer Geist, westliche Macht, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik die Vorherrschaft über den gesamten Globus erringt.
Seltsamer- oder bezeichnenderweise ist dies die Zeit, in der in Europa die Philosophie des Humanismus ihren eigentlichen Höhepunkt hat (Pico della Mirandola, Petrarca, Erasmus von Rotterdam, Ulrich von Hutten, Melanchthon u.a.). Diesmal jedoch in Abkehr vom Christentum als Rückkehr zur Kultur der Antike – zur Menschenbildung des Griechentums wie auch zur römischen Welteroberung. Mit diesem neuen Humanismus begründet das Abendland seinen Anspruch auf geistig-kulturelle Überlegenheit über alle anderen Völker, Kulturen und Religionen – und das bis heute.
Noch wirkt diese westliche Übermacht weiter fort – derzeit wieder ausgeprägt militaristisch – doch sind wir mitten in einem gewaltigen Prozess der Veränderung, wo Europa längst seine Oberherrschaft verloren hat und andere Staaten und Zivilisationen dominieren oder an Bedeutung gewinnen und wo sich die Völker, Kulturen und Religionen auf eine neue, erstmals ganz direkte und gleichzeitig grenzenlose, nachbarschaftliche und zugleich globale Weise begegnen.
Angesichts dessen – wo die menschlichen Begegnungen wie auch die Spannungen auf unserem Globus auf eine bisher ungekannte Weise zunehmen – wird Humanität zu einer Überlebensfrage für die Menschheit. Die Menschheit muss menschlich werden, will sie sich nicht selbst vernichten. Die einzige Zukunft des Menschen ist die menschliche Zukunft.
Copyright © Buddhanetz [Stand: Dezember 2004]
von Franz-Johannes Litsch
Täglich werden wir heute mit Nachrichten von entsetzlichen Bombenanschlägen und verheerenden Militäreinsätzen konfrontiert. Wir erleben globale eine ansteigende Spirale der Gewalt, der Angst, der Verunsicherung. Dem überheblichen und völlig ungeeigneten "Kampf gegen den Terror" steht ein ebenso blinder und fanatischer "heiliger Krieg" gegen die Ungläubigen, die "Kreuzfahrer, Freimaurer und Juden" gegenüber. Es ist längst abzusehen, dass keine der beiden Seiten diesen Krieg gewinnen wird. Und der Hauptverlierer steht von Anfang an fest, es ist die Menschlichkeit, die Humanität.
Seit einigen Jahren kündigt der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington den globalen "Kampf der Kulturen" an, wo wir doch zugleich jeden Tag beobachten können, wie die Menschen und Kulturen unserer gemeinsamen Erde immer dichter zusammentreffen, immer intensiver miteinander Handel treiben, sich geistig und kulturell austauschen, durch Reisen und Medien einander kennenlernen und auf vielfache Weise miteinander verknüpft sind und voneinander abhängig werden.
Ein anderes Wort, das darum in den letzten 10 Jahren zum zentralen politischen Begriffe geworden ist, heisst: Globalisierung. Zumeist ist damit die wirtschaftliche Globalisierung gemeint und bezeichnet die nach der Auflösung des sozialistischen Lagers endgültige globale Ausbreitung der im modernen Westen entstandenen, ungehinderten und alles beherrschenden industriellen kapitalistischen Marktwirtschaft. Während diese einerseits alle Völker und Menschen unter ein und derselben industriellen und konsumistischen Lebensform vereinheitlicht, brechen zugleich innerhalb dessen immer größere Gegensätze und Gräben sozialer Ungleichheit und politischer, kultureller, religiöser, ethnischer Differenzen auf.
Wohin geht also die Entwicklung der Menschheit? Zum Krieg aller gegen alle oder zum friedlichen und fruchtbaren Zusammenwachsen der Menschen und Völker? Und welche Rolle spielen die Religionen dabei oder könnten sie spielen?
All jene Begriffe: Humanismus, Globalisierung, Kampf der Kulturen haben auch - und nicht erst seit heute - viel mit den Religionen und ihrer Geschichte zu tun. Ja, die Entstehung der grossen Weltreligionen der Menschheit sind unmittelbar mit der Herausbildung dieser Erscheinungen verbunden. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers wies vor einigen Jahrzehnten erstmals auf ein bedeutendes kulturgeschichtliches Phänomen hin, das er "Achsenzeit" nannte. Mit jenem Begriff kennzeichnete er den einzigartigen historischen Zeitraum um das 5. Jahrhundert vor Christus. In jener Zeit traten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte gleichzeitig und fast rund um den Globus eine Reihe herausragender Persönlichkeiten auf, deren Lehre und Wirken bis zu uns heute grundlegende geistesgeschichtliche Bedeutung hat. Noch die heutigen vorherrschenden Kulturen und Denkweisen der Menschheit beruhen fast durchweg auf dem, was in jener Zeit an neuer geistigen Basis entstanden war.
Es ist es dies die Zeit des Beginns der abendländischen Philosophie in Griechenland mit Thales von Milet, Heraklit, Pythagoras, Parmenides, Demokrit, Sokrates, Platon, Aristoteles usw. Zeitgleich hören wir von den großen Propheten Elias, Jesaja, Jeremias und Daniel in Palästina (Israel). In Indien entstehen gleichzeitig die Upanischaden (heilige Schriften des Hinduismus) und wirken die Weisheitslehrer und Religionsstifter Gotama Buddha und Mahavira (der Begründer der Jaina-Religion). Und in China treten die großen Meister Kungfutse, Laotse und Tschuangtse auf.
Jaspers zählte noch den persischen Religionslehrer Zarathustra dazu, doch nach neueren Forschungen gehört dieser in eine frühere Zeit (ca. 1000 v. Chr.), in dieselbe Zeit wie Moses, mit dem er wiederum einiges inhaltlich gemein hat, eine Sichtweise, die sich von der der Achsenzeit deutlich unterscheidet. Von den Hochkulturen Amerikas haben wir aus dieser Zeit leider keine schriftlichen Zeugnisse.
Zu keiner Phase der Menschheitsgeschichte gab es einen Zeitraum, wo so viele, so hervorragende und nachhaltig wirkende Geister nahezu gleichzeitig in Erscheinung traten. Bis heute leiten und beschäftigen uns diese Lehrer, bis heute prägt ihr Denken die Unterschiede unter den Weltkulturen.
Das wirklich Bedeutsame daran ist aber mehr als die historische Wirkung und das zeitliche Zusammentreffen, es ist der neue und gemeinsame Geist, der bei ihnen zu erkennen ist. Denn alle diese Lehrer waren nicht nur Menschheitslehrer im historischen Sinne, sondern Menschheitslehrer im Sinne ihrer Lehre selber. Was sie lehrten, war der Mensch, war die Menschheit, war die Menschlichkeit. Es war die Botschaft, dass der Mensch in seiner Grundnatur überall gleich ist, dass es wesenhaft nur den einen Menschen gibt, dass alle Menschen untereinander verwandt, ja Brüder und Schwestern sind. Und zugleich, dass der Mensch - so wie er sich zeigt - noch nicht zu seinem wahren Menschsein gekommen ist, noch nicht erwacht, noch nicht verwirklicht ist. Dass zwischen seiner Möglichkeit und seiner Wirklichkeit eine tiefe Kluft besteht und dass es darauf ankommt, diese zu überwinden. All dies war das Neue, das den Menschen jener Achsenzeit erstmals bewußt wurde. Und es war diese Botschaft, die aus den daraus hervorgehenden Religionen und Philosophien Weltreligionen und Weltphilosophien machte.
Alle vorausgegangenen Religionen waren Stammesreligionen und ihre Götter und Geister waren Stammesgötter oder lokale Naturgeister. Trotz bereits hochentwickelter Kultur waren das alte Babylon, Ägypten, Griechenland, das alte Indien und China noch von Stammesbewußtsein geprägt. Und auch heute noch sind z.B. das Judentum, der Hinduismus, der Konfuzianismus und der japanische Shintoismus Religionen, denen man nicht beitreten kann, sondern in die man hineingeboren sein muss (wenn sich hier inzwischen auch eine Öffnung vollzieht). Die neue Botschaft der Achsenzeit richtet sich nicht mehr nur an den engen Kreis der Blutsverwandten, der Sippe, des Dorfes, des Stammes, des Volkes sondern richtet sich unterschiedslos an alle Menschen auf diesem Globus. Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Rassismus sind darum bereits seit 2500 Jahren geistesgeschichtlich überholt und rückständig.
Europa
Im abendländischen Kulturkreis setzt die Herausbildung des Geistes der Menschlichkeit mit der griechischen Philosophie ein. In Abkehr von den Göttern, die inzwischen zu irdisch und unglaubwürdig geworden sind, beginnen zuerst die Künstler und dann die Denker, den Menschen zu entdecken. Denn längst kommen die Menschen in den bereits großen Städten des Mittelmeerraums immer mehr mit Menschen, Waren, Kulturen und Ideen anderer Länder und Völker in Kontakt. Die griechische Welt breitet sich in immer neuen Kolonien über fast sämtliche Mittelmeerküsten und selbst ins schwarze Meer hinein aus und es ist kaum Zufall, dass der erste Held der ersten großen abendländischen Literatur der Seefahrer und Abenteurer Odysseus ist.
Die griechische Philosophiegeschichte beginnt, analog zu den Religionen, bekanntlich mit den Naturphilosophen. Heraklit sagt zwar bereits: "Mich selbst habe ich erforscht" doch erst die Philosophenschule der Sophisten lenkt den Blick von der Ergründung der Natur auf die Ergründung des Menschen. Zugleich richtet sie erstmals im Abendland das menschliche Denken auf das Denken selbst und unterzieht die herrschenden moralischen Wertmaßstäbe einer vernunftgemäßen Betrachtung. Protagoras prägt den Satz: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge". Leider wurde er allzu oft missgedeutet.
Sokrates macht den Spruch: "Erkenne dich selbst" (gnothi seauton) über dem Eingang des Apollotempels von Delphi zu seinem Lebensinhalt. Was er zu ergründen sucht, ist der "Daimonion", die innere Stimme im Menschen, sein wahres Wissen. Seine dialogische Philosophie versteht er als "Maieutik", als Hebammentätigkeit für der Geburt des eigentlichen Menschen. Er sagt: "Meine Tätigkeit ist die eines Geburtshelfers und gleicht der der Hebamme: Jene wirken auf die Frauen und ich auf die Männer, sie auf die Körper und ich auf die Seelen." Er versucht die Menschen dazu anzuregen, sich um sich selbst zu kümmern, denn wer dies tue, tue sich selbst Gutes und bringe sich dadurch dem Lebensglück (eudaimonia) näher. Keiner tue willentlich Schlechtes, wo dies doch geschähe, geschähe es durch Nichtwissen. Darum komme es darauf an, sich selbst kennen zu lernen. Sokrates, obwohl - weil unbequem - von etlichen seiner Zeitgenossen angefeindet und schließlich zum Tode verurteilt, hat ein grundlegend positives Menschenbild.
In der griechischen Stadt Sinope geht der weise aber etwas seltsame Diogenes mit einer Lampe bei Tag über den Markplatz und angesprochen darauf, was er denn suche, antwortet er: "einen Menschen". Ein andermal wird er von einem, der ihn nicht kennt, gefragt, wer er sei und er antwortet: "Kosmopolites" "Weltbürger" oder auch "Allbürger". Diese Antworten sind so neu, dass sie bis heute in Erinnerung geblieben sind. Der Kyniker Diogenes lebt die völlige Bedürfnislosigkeit, denn er ist überzeugt, dass Glück nur da gefunden werden kann.
Aristoteles schreibt in seiner "Nikomachischen Ethik": beim Menschen sei das Gefühl für die Stammesverwandtschaft unter Artgenossen am stärksten ausgeprägt. Und er fährt fort: "Daher schätzen wir die Philanthropen (die Menschenfreunde). Gerade wenn es einen in die Irre, in die Fremde verschlagen hat, kann er leicht erkennen, wie eng vertraut jeder Mensch jedem Menschen ist und wie sehr doch ein Freund." Der Philanthropos, der "Freund des Menschen" wird zum kennzeichnenden Begriff des neuen Denkens.
Menander, ein ferner Schüler des Aristoteles schreibt eine Komödie, in der ein Mann einen anderen fragt, was er da gerade tue. Der antwortet unwirsch, dass ihn als Fremden das doch garnichts angehe. Doch der Frager entgegnet: "Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches nenne ich mir fremd." Der Philosoph Epikur singt zur gleichen Zeit: "Die Freundschaft tanzt ihren frohen Reigen um die ganze Welt, durch alle Länder, alle Völker und lädt uns ein, doch endlich aufzuwachen zum Lobpreis des Lebens".
Eine Generationen vor Jesus von Nazareth schreibt der Römer Cicero: "dass ein Mensch einem Menschen allein schon aus dem Grunde, dass er ein Mensch ist, nicht als ein Fremder gelten darf." Und zum ersten Mal spricht hier ein Europäer von der "allumfassenden Gemeinschaft" aller Menschen und zwar nicht nur über alle räumlichen sondern auch zeitlichen Grenzen hinweg. Und er schreibt: "dass wir auch für die Generationen, die in Zukunft einmal leben werden, um ihrer selbst willen Vorsorge treffen müssen." Und fährt fort: "Und nicht schärfer ist zu tadeln, wer sein Vaterland verrät, als wer das Interesse oder das Wohl dieser weltumspannenden Gemeinschaft um seines persönlichen Interesses oder Wohles willen preisgibt." Vor 2000 Jahren hat hier einer bereits die Erkenntnis, dass über die Liebe zum eigenen Volk und Land die Liebe zur Menschheit hinausgeht und dass dies globale Verantwortung verlangt.
Cicero ist es auch, der den Begriff "Humanitas", "Menschlichkeit" prägt und zum Inhalt seines Lebens macht. In der römischen Humanitas kommt die griechische Kultur der "paedaia" (Erziehung) und der "philanthropia" (Menschenliebe) zusammen. Die Menschlichkeit des Menschen ist nicht ursprünglich schon da, sondern muss entwickelt und herausgebildet werden. Der eine, ganze, wahre Mensch ist noch nicht vorhanden, der Mensch ist unvollendet, er muss erst hervortreten.
Dieses Sich-Offenbaren des Menschen geschieht historisch mit dem Auftreten jenes Juden Jesus von Nazareth in der römischen Provinz Palästina. Dessen Liebes- und Friedens-Botschaft, das Wort "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst", ja "Liebet eure Feinde" stellt den Geist der Entfaltung der Menschenliebe in das Zentrum wahren religiösen Lebens. Aber er ist keine völlig neue und nur ihm eigene Botschaft mehr, er ist bereits Ausdruck der Zeit. Wichtiger darum als die Worte Jesu ist sein Handeln, ist sein Personsein. In Jesus, dem Christus inkarniert sich dieses neue Bewußtsein, in ihm "ist" - wie der Evangelist Johannes schreibt - "das Wort Fleisch geworden", das Wort: Mensch. Er ist der Mensch, der Inbegriff des Menschen - "Ecce Homo", ("Seht den Menschen"). Es ist ein Römer (Pilatus) , der es von einem Juden (Jesus) sagt, ein Vertreter des mächtigen Kaisers von einem ohnmächtigen Gefangenen.
Jesus wird damit zum Inhalt und Begründer einer Weltreligion, einer Religion, die sich unterschiedslos an Juden, Griechen, Ägypter, Römer, Gallier und Germanen, an alle Menschen wendet. Vor allem mit dieser Grundhaltung wurde der hellenisierte Jude Paulus von Tarsos dann zum eigentlichen Gründer und Apostel des Christentums. Und diese katholische, wörtlich "allumfassende" Gemeinschaftlichkeit (Ecclesia, Kirche) lässt das Christentum dann auch zur Religion des römischen Weltreiches werden.
Parallel zur geistigen hatte sich auch die erste politische und wirtschaftliche Globalisierung der alten Welt vollzogen. Schon seit Jahrhunderten florierte der weiträumige Warenaustausch auf dem Landweg über die "Seidenstraße" und auf dem Seeweg über die "Gewürzstraße" zwischen dem Mittelmeerraum, Persien, Indien und China. Und über die "Weihrauchstraße" ebenso der zwischen Europa, Arabien und Afrika. Und in der Erbschaft des Griechentums und seiner Ausdehnung war von Rom ausgehend, durch konsequente, effiziente wie auch brutale Eroberungspolitik das römische Weltreich entstanden.
Bereits 300 Jahre vor dem ersten römischen Imperator hatte der Mazedonier Alexander, Schüler des Philosophen und Wissenschaftlers Aristoteles mit forschender Neugier und Rücksichtslosigkeit erstmals alle Grenzen der mittelmeerisch-antiken Welt durchbrochen, hatte sich uralte, mächtige, große Reiche und Kulturen unterworfen (Ägypten, Babylon, das Perserreich) und war bis nach Indien gelangt, in den Raum des dort bereits blühenden Buddhismus. Mit sich trug und verbreitete er den Geist des Hellenismus.
Am Indus zur Umkehr gezwungen, hinterließ Alexander zahlreiche Soldaten und Tross und gründete mehrere asiatisch-hellenistische Königreiche, insbesondere das von Gandhara in Afghanistan und Pakistan. In diesem wurden von griechischen Bildhauern die ersten Buddhadarstellungen der Geschichte angefertigt. Sie wählten dafür als Vorbild die Gestalt des Sonnengottes Apollo, ebenso wie bald darauf auch für Christus im Westen. Auf diese Weise kam es in Afghanistan zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte zu einem lebendigen Ost-West-Dialog, einer kulturellen Synthese von Europa und Asien, von griechischer Ästhetik und buddhistischem Geist, eine frühe großartige Blüte der Globalisierung und des Humanismus.
Es ist sogar ein schriftliches Zeugnis des damaligen interkulturellen und interreligiösen Dialogs erhalten geblieben, nämlich das in Pali-Sprache und in Chinesisch überlieferte "Milindapañha", ein umfangreiches Buch, welches ein intensives philosophisches Gespräch zwischen dem Griechenkönig Milinda (griechisch: Menandros) und dem buddhistischen Mönch Nagasena wiedergibt.
Da vom Gandhara- bzw. Kushan-Reich auch die frühe buddhistische Missionierung Mittel- und Ostasiens und die Spätform des klassischen Buddhismus, der Mahayana ausging, reichte der griechisch-buddhistische Impuls - vor allem in der Kunst - schließlich bis nach China, Korea und Japan. Hellenistischer Geist gelangte so bis an den äussersten Rand des eurasischen Kontinents.
Asien
Besonders ausgeprägt und von großer Tiefe kam das neue Bewußtsein von der wesenhaften Einheit des Menschen wie auch vom verwirklichten Menschsein in der Person und Lehre des Gautama Buddha zum Ausdruck. Er wurde zum Begründer der ersten Weltreligion (im obigen Sinne). Bei ihm steht der Mensch radikal im Mittelpunkt all seiner Lehre und Bemühungen. Es ging ihm um den Menschen hier und jetzt, um die durch ihn selbst verursachten Leiderfahrungen, um die durch ihn selbst zu vollziehende Befreiung von aller Selbsttäuschung, die Verwirklichung der Buddhaschaft.
Wie in Griechenland ist das "Erkenne dich selbst" auch die Übung, Erfahrung und Einsicht, die im Zentrum von Buddhas Leben und Lehre steht, der Inhalt jenes Ereignisses, aus dem der gesamte Buddhismus hervorgeht: jene Nacht der Erleuchtung, die aus dem ehemaligen Prinzen und Asketen Siddhattha Gotama - Buddha, den Erwachten machte.
Der "Erwachte" ist der zu sich selbst und damit zugleich zum Anderen erwachte. Er ist der zum wahren Menschsein erwachte Mensch (Satpuggala). Der Erwachte erfährt und erkennt sein grenzenloses Ungetrenntsein von allen Menschen, ja allen empfindenden Wesen im ganzen Universum, ob längst vergangen oder zukünftig, ob weit entfernt oder nah, ob in Leiden verstrickt oder befreit. Er erkennt sich in allen und alle in sich. Er sieht: ich bin Nicht-Ich, ich bin der Andere, ich bin Du. In einem berühmten Sutra späterer Zeit (der Zeit des Lebens Jesu) wird dies auf einfache und klare Weise ausgesprochen:
"Der Bodhisattva soll in bezug auf alle Wesen die Idee entwickeln:
dies ist meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, meine Tochter, ja dies bin ich selbst.
Wie ich selbst von allen Leiden gänzlich frei sein möchte,
so möchten alle Wesen frei sein."
(Prajnaparamita Sutra)
Und in einem Meditationstext Buddhas, dem sog. Metta-Sutta heisst es:
"Genau so, wie eine Mutter ihr einziges Kind liebt und unter Einsatz ihres Lebens schützt, sollten auch wir grenzenlose, allumfassende Liebe für alle Lebewesen entwickeln, wo immer sie sich auch befinden mögen.Unsere grenzenlose Liebe sollte das ganze Universum durchdringen, nach oben, nach unten und überall hin. Unsere Liebe wird keine Hindernisse kennen, und unsere Herzen werden vollkommen frei von Hass und Feindschaft sein. Ob wir stehen oder gehen, sitzen oder liegen – solange wir wach sind, sollen wir diese liebende Achtsamkeit in unserem Herzen bewahren."
Lehrte der Buddha einerseits, dass es keine Trennung gegenüber den anderen Wesen gibt, so lehrte er dennoch keine allgemeine Gleichmacherei. Er unterschied sehr wohl zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen und ihren Möglichkeiten. Nur den Menschen allein erkannte er als unmittelbar fähig zum Erwachen und zur Befreiung, da nur er Selbstbewusstsein besitzt. Existiert für den Buddha keine Getrenntheit des Menschen von den anderen empfindenden Wesen, so existiert erst recht keine gegenüber den anderen Menschen. Als einer der ersten Lehrer der Menschheitsgeschichte verkündet er die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen. So heißt es in einem der frühen Texte:
"Was Würmer, Schlangen, Fische, Vögel und andere Tiere betrifft, so hat jede Art ihre eigenen Merkmale. Es bestehen Unterschiede zwischen den Wesen, die einen Körper haben, aber dies trifft nicht auf die Menschen zu; die Unterschiede zwischen den menschlichen Wesen existieren nur dem Namen nach."
(Sutta-Nipata 602-611).
Demnach kann es für den Buddha keine Fremdheit, keine Kasten-, Standes-, Sippen-, Stammes- oder Nationenunterschiede mehr geben. Und er begründet er eine Lehre - den Dhamma - und eine Lebensform - den Sangha - die sich unabhängig von Geschlecht, Alter, Klasse oder Rasse an alle Menschen wendet und auch in ihrer konzentrierteren Form, in der Ordensgemeinschaft der Mönche und Nonnen grundsätzlich allen offen steht. Buddha Sakyamuni kannte darum keine Unterschiede und Vorbehalte in seinen Begegnungen mit den Menschen. Er ging auf Könige und Minister ebenso unbefangen zu wie auf einfache Bauern, Kastenlose, Prostituierte oder gar Mörder und nahm solche sogar in den Sangha auf.
Indien war damals schon eine ausgeprägte Kastengesellschaft und die herrschende Religion, der Brahmanismus war die Religion der herrschenden Kaste, der Brahmanen, einer erblichen Priesteraristokratie. Sie fühlten sich durch Buddhas Lehre und Verhalten erheblich provoziert. Dementsprechend finden sich in der umfangreichen Sammlung frühbuddhistischer Lehrtexte zahlreiche Stellen, die schildern, wie aufgebrachte Brahmanen den Buddha aufsuchen, um ihn wegen seiner Ablehnung der für sie religiös offenbarten vedischen Lehre von der unterschiedlichen Reinheit der Kasten zur Rede zu stellen. In einem der Suttas, das teilweise in Versform abgefasst ist, antwortet Buddha z.B. auf die Auffassung, Priester sei man nur durch Geburt, folgendermaßen (auszugsweise):
"Gemeinsam ist ein jeder Mensch
Mit seinem Leibe so begabt.
Was Menschen unterschieden macht,
Es ist der Name, den man gibt.
Nur Name ist es in der Welt,
Den Stand und Titel darzutun,
Von alters überkommen uns,
Gegeben weiter fort und fort.
Was lange Zeiten man geglaubt,
Das Wort Unweiser, ihr Gebot,
Man spricht es also noch uns vor:
'Ein Priester ist man durch Geburt.'
Geburt macht nicht den Priester aus,
Geburt läßt nicht Nichtpriester sein:
Die Tat macht einen Priester aus,
Die Tat läßt ihn Nichtpriester sein.
Getreu der Wahrheit, wohlbewährt,
Betrachten Denker so die Tat;
Wie eines aus dem andern folgt
Verstehn sie, was die Tat erwirkt.
Durch Taten ist die Welt bedingt,
Bedingt durch Taten ist das Volk;
Um Taten dreht sich alles um,
Wie um die Achse rollt das Rad."
(Majjhima Nikaya 98, Vasettha Sutta,
nach der Übersetzung von Karl Eugen Neumann,1865-1915)
Die alle Menschen in ihrer Gleichwertigkeit sehende Menschenliebe der Buddhalehre findet sogar einen Ausdruck, der zeitgleich - obwohl Kontinente voneinander entfernt, Buddhismus und Christentum zu fast wörtlich gleichen Formulierungen kommen lässt. So heisst es in der Bergpredigt Jesu:
"Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte." (Matthäus 5, 43-45)
In einem bedeutenden, aus gleicher Zeit stammenden Sutra des Mahayana-Buddhismus, dem Lotus-Sutra heisst es:
"Ich bin der Tathagata,
geehrt unter den Menschen;
Erscheine in der Welt
Wie eine grosse Wolke,
Um Segen auf alle
Ausgedörrten Lebewesen auszugiessen,
Um sie von allem Elend zu befreien,
Auf daß sie die Freude des Friedens,
Freude in der Welt
Und die Freude des Nirvana erlangen.
...
Um allen Wesen Frieden zu geben,
Erscheine ich in der Welt,
Und für die Scharen von Lebewesen
Lehre ich das Dharma, rein wie süßer Tau:
Das eine und einzige Dharma
Von Befreiung und Nirvana.
...
Ich blicke auf alle Lebewesen
Überall mit gleichen Augen,
Ohne zu unterscheiden,
Ohne Anhaftung oder Abwehr.
Ich habe keine Vorlieben,
Noch Begrenzungen oder Voreingenommenheit;
Stets lehre ich allen Wesen
Das Dharma in gleicher Weise;
So wie ich es einem Menschen lehre,
So lehre ich es für alle.
...
Gleich einem Regen, der alles befruchtet.
Beachtete und Bescheidene, hoch und niedrig gestellt,
Gesetzestreue und Gesetzesbrecher,
Menschen mit vollkommenem
Und unvollkomenem Charakter,
Gläubige und Irrgläubige,
Scharfsinnige und Schwerfällige;
Auf alle gieße ich unermüdlich
Und in gleichem Maße
Den Regen des Dharma."
(Das Dreifache Lotos Sutra, Kap.5)
Einer der Schüler Buddhas, der dessen humanitären Geist in besonderer Weise aufgriff und in die Tat umsetzte, war der indische Kaiser Ashoka im 3. Jh. vor unserer Zeitrechnung. Nach etlichen verheerenden Kriegen zur Einigung des Landes hatte er sich zur Lehre des Buddha bekehrt, sagte öffentlich aller Gewalt und Despotie ab und errichtete in seinem Reich den ersten Sozialstaat der Menschheitsgeschichte. In diesem wurden nicht nur Menschen sondern auch Tiere geschützt, hier genossen alle Religionen Glaubensfreiheit, hier war Krieg als Mittel der Politik geächtet, hier fühlte sich der Staat nicht dafür zuständig, den Reichtum der Reichen zu mehren, sondern wirtschaftliches Wohlergehen und soziale Gerechtigkeit unter allen seinen Bewohnern herzustellen. Zwar wurden viele Errungenschaften Ashokas von seinen Nachfolgern wieder rückgängig gemacht, aber sein Beispiel war von damals bis heute in ganz Asien Vorbild für gutes Regieren und wirkt auch heute noch nach.
Kaiser Ashoka hatte seine berühmten ethischen Leitsätze und Verfügungen (Edikte) in mehreren Sprachen und Schriften anfertigen lassen, auch in Griechisch. Und er sandte Missionare in alle Himmelsrichtungen aus, um die Lehre des Buddha und seine politischen Einsichten und Beschlüsse allen mitzuteilen. Einige davon wurden auch nach Westen in den Mittelmeerraum geschickt und es ist anzunehmen, dass sie dort auch ankamen, wovon wir jedoch leider keine Zeugnisse nur einige Indizien haben.
Bereits Alexander brachte bei seiner Rückkehr aus Indien Wissen und Ideen mit, so dass es durchaus naheliegend ist, dass die ab dieser Zeit - dem 3. Jh. vor Christus - im griechischen und später römischen Kulturraum existierende Philosophenschule der Stoa (insb. mit Zenon aus Kition, Seneca und Marcus Aurelius) letztlich buddhistischer Anregung zu verdanken ist. Wer denkt bei den Stoikern nicht an "stoische Ruhe"? Lässt sich darin nicht die Kenntnis von buddhistischer Meditation vermuten? Die Stoiker lehrten die vernunftgemäße Beherrschung der Begierden und Leidenschaften, die heitere Gelassenheit, die läuternde Ethik und die allgemeine Menschenliebe. Sie waren die ersten, die die Gleichwertigkeit der Sklaven und der "Barbaren", der Fremden verkündeten. Die Stoiker hatten einen bedeutenden Anteil an der Herausbildung des antiken Humanismus. Und die Ähnlichkeiten mit den Lehren des Buddha sind unübersehbar. So gelangte in der Antike sehr wahrscheinlich nicht nur griechischer Geist nach Asien sondern auch buddhistischer Geist nach Europa und gestaltet dieses tiefgreifend mit.
Dass es enge wirtschaftliche Verbindungen zwischen Indien und dem Mittelmeerraum gab, wurde bereits erwähnt. Alexandria, von Alexander dem Großen in Ägypten gegründete Stadt, kann wohl eine der ersten Weltstädte (Global Cities) der Geschichte genannt werden. Sie wurde nicht nur in kurzer Zeit zur größten Stadt des Mittelmeerraums, sondern war der Dreh- und Angelpunkt des gesamten Ost-Westhandels, war Bankenmetropole, Treffpunkt der Völker und Hochburg der Bildung und Wissenschaft. Die tragisch verlorengegangene Bibliothek von Alexandria ist noch immer berühmt. Bis heute erhaltene antike Beschreibungen und Karten aus Alexandria geben uns detaillierte Auskunft darüber, welche Waren in welchen Mengen zu welchen Preisen zwischen Rom und Indien und dann auch China auf dem Schiffswege gehandelt wurden. Und so hat man in unseren Tagen in Benares (Varanasi), der heiligsten Stadt Indiens am Ganges eine römische Frauenstatue gefunden, in Südindien Töpferware aus der etruskischen Toskana, chinesische Seide im antiken Rom und im Grab eines Wikingerfürsten in Schweden eine kleine sitzende Buddhafigur.
Es ist überliefert, dass zur römischen Zeit auch Inder nach Alexandria gelangt waren und es wird von mindestens einem Gelehrten aus Indien berichtet, der höchstwahrscheinlich buddhistischer Mönch war. Kaum verwunderlich, dass es dann auch der frühchristliche Kirchenvater Clemens von Alexandria war, der im 2. Jahrhundert nach Christus als erster Abendländer den Buddha namentlich als Menschen außergewöhnlicher Heiligkeit erwähnte.
Nicht das hellenistisch-römische Reich, sondern der buddhistische Einflussbereich war für viele Jahrhunderte der größte Kulturraum der Geschichte. Über 1400 Jahre lang - von ca. 200 vor unserer Zeitrechnung bis ca. 1200 danach - war der Buddhismus an Flächenausdehnung und Zahl der Anhänger die größte Religion der Erde (vom Osten Persiens bis Japan, von Sibirien bis Indonesien). Er verband so viele verschiedene und weit auseinander liegende Völker, Länder und Kulturen miteinander, wie es dies bis dahin in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben hatte. Es war seine Offenheit, Menschenfreundlichkeit und Gewaltlosigkeit sowie seiner Integrationsfähigkeit gegenüber den jeweils schon vorhandenen Religionen, kurz – es war seine Humanität, die es ihm ermöglichte, sich ganz ohne Krieg und Eroberungen über diesen gewaltigen geografischen Raum auszubreiten.
Europa und die Welt
In den letzten 800 Jahren (seit dem 13. Jahrhundert) wurde der Buddhismus von den sich nun ebenfalls global, doch gewalttätig ausbreitenden Weltreligionen des Islam und des Christentums zurückgedrängt. Die Ursachen für den Niedergang ja das Verschwinden des Buddhismus in zahlreichen Ländern Asiens, vor allem im Ursprungsland Indien selber sind allerdings vielfältig und haben auch mit inneren Entwicklungen zu tun.
Mit der Entdeckung und Eroberung Amerikas, Afrikas und großer Teile Asiens durch die europäischen Kolonialmächte beginnt schließlich eine Phase der Menschheitsgeschichte, in der europäischer Geist, westliche Macht, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik die Vorherrschaft über den gesamten Globus erringt.
Seltsamer- oder bezeichnenderweise ist dies die Zeit, in der in Europa die Philosophie des Humanismus ihren eigentlichen Höhepunkt hat (Pico della Mirandola, Petrarca, Erasmus von Rotterdam, Ulrich von Hutten, Melanchthon u.a.). Diesmal jedoch in Abkehr vom Christentum als Rückkehr zur Kultur der Antike – zur Menschenbildung des Griechentums wie auch zur römischen Welteroberung. Mit diesem neuen Humanismus begründet das Abendland seinen Anspruch auf geistig-kulturelle Überlegenheit über alle anderen Völker, Kulturen und Religionen – und das bis heute.
Noch wirkt diese westliche Übermacht weiter fort – derzeit wieder ausgeprägt militaristisch – doch sind wir mitten in einem gewaltigen Prozess der Veränderung, wo Europa längst seine Oberherrschaft verloren hat und andere Staaten und Zivilisationen dominieren oder an Bedeutung gewinnen und wo sich die Völker, Kulturen und Religionen auf eine neue, erstmals ganz direkte und gleichzeitig grenzenlose, nachbarschaftliche und zugleich globale Weise begegnen.
Angesichts dessen – wo die menschlichen Begegnungen wie auch die Spannungen auf unserem Globus auf eine bisher ungekannte Weise zunehmen – wird Humanität zu einer Überlebensfrage für die Menschheit. Die Menschheit muss menschlich werden, will sie sich nicht selbst vernichten. Die einzige Zukunft des Menschen ist die menschliche Zukunft.
Copyright © Buddhanetz [Stand: Dezember 2004]
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