Die Religion des Marktes
Die Religion des Marktes
von David R. Loy
Religion ist bekanntermaßen schwer zu definieren. Wenn wir uns jedoch an ihrer Funktion orientieren, und Religion als das verstehen, was uns Halt gibt, indem sie uns lehrt, was die Welt und was unsere Rolle in der Welt ist, wird offensichtlich, dass traditionelle Religionen diese Rolle immer weniger ausfüllen, weil diese Aufgabe von anderen Glaubens- und Wertesystemen übernommen – oder zerstört – wird. Heute ist Wissenschaft die mächtigste andere Welterklärung, und der Konsumismus ist zum verlockendsten Wertesystem geworden. Ihr geistiger Abkömmling ist die Ökonomie, wahrscheinlich die einflussreichste "Sozialwissenschaft". In Erwiderung darauf wird dieser Aufsatz Gründe dafür anführen, unser heutiges Wirtschaftssystem auch als unsere Religion zu verstehen, weil es für uns eine religiöse Aufgabe erfüllt. Das Fach Ökonomie ist weniger eine Wissenschaft, als vielmehr die Theologie dieser Religion, und der Markt (im Original mit großem M, A.B.) als ihr Gott, ist zu einem Teufelskreis aus ständig wachsender Produktion und ständig wachsendem Konsum geworden, indem er scheinbar eine weltliche Form der Erlösung anbot. Der Zusammenbruch des Kommunismus - in dem man am besten eine kapitalistische "Häresie" sieht – macht es noch augenscheinlicher, dass der Markt zur ersten wirklichen Weltreligion wird, die alle Ecken der Welt immer enger an eine Weltsicht und einen Wertekanon bindet, deren religiöse Rolle wir nur deshalb übersehen, weil wir darauf bestehen, sie als "weltlich" zu betrachten.
So ist es kein Zufall, dass unsere von Umweltkatastrophen gekennzeichnete Zeit auch eine Zeit außergewöhnlicher Bedrohung für die eher traditionellen Religionen darstellt. Obwohl es unsere Eitelkeit verletzen könnte, ist es etwas albern, zu glauben, die herkömmlichen religiösen Institutionen, wie wir sie heute kennen, könnten bei der Lösung der Umweltkrise von Bedeutung sein. Näher liegender ist für sie das Problem, ob sie, genau wie die Regenwälder, die wir ängstlich beobachten, den Ansturm dieser neuen Religion in irgendeiner noch erkennbaren Form überstehen. Die großen Religionen liegen noch nicht im Sterben, aber wenn sie nicht schon mit den wirtschaftlich und politisch Herrschenden ins Bett gegangen sind, neigen sie dazu, mit Problemen der Vergangenheit und überholten Perspektiven (z.B. Pronatalismus) dermaßen beschäftigt zu sein, dass sie zunehmend belanglos (z.B. Fundamentalismus) oder banal (z.B. Fernsehevangelismus) sind. Das Ergebnis davon ist, dass sie bisher unfähig dazu waren, anzubieten, was am nötigsten ist, nämlich eine Kampfansage an den aggressiven Bekehrungseifer des Marktkapitalismus, der jetzt schon zur erfolgreichsten Religion aller Zeiten geworden ist und mehr Konvertiten in kürzerer Zeit gewinnt, als jedes vorhergehende Glaubens- oder Wertesystem in der Geschichte der Menschheit.
Heute ist die Lage der Religionen so kritisch geworden, dass sich die Umweltkrise sogar als etwas Positives für sie herausstellen kann, weil die ökologische Katastrophe in uns nicht nur die Erkenntnis der Tatsache weckt, dass wir eine tiefer liegende Quelle für Werte und Bedeutung brauchen, als sie der Marktkapitalismus liefern kann, sondern auch zu der Einsicht führt, dass die heutige Religion diese Bedürfnisse ebenfalls nicht befriedigen kann.
Ökonomie als Theologie
Es ist unerträglich, dass die wichtigsten Fragen des menschlichen Lebensunterhalts allein auf der Basis des Profits transnationaler Unternehmen entschieden werden. (Daly und Cobb:178).(1)
Im Jahr 1960 waren die Länder des Nordens etwa zwanzigmal reicher als die des Südens. 1990 – nach großen Mengen an Hilfsmitteln, Handel, Krediten und nachholender Industrialisierung des Südens – waren die Länder des Nordens fünfzig Mal reicher geworden. Die reichsten zwanzig Prozent der Weltbevölkerung haben jetzt ein Einkommen, das dem Hundertfünfzigfachen der ärmsten zwanzig Prozent entspricht, und die Kluft vergrößert sich (Korten: 107-108). Laut dem Bericht über Entwicklung der UN von 1996 ist der Reichtum der 358 Milliardäre, die es weltweit gibt, größer als das gemeinsame Jahreseinkommen von Ländern, in denen 45 % der Weltbevölkerung leben. Als Ergebnis sterben jede Woche eine Viertel Million Kinder an Unterernährung und Infektionen, während weitere hunderte Millionen in einer Vorhölle aus Hunger und sich verschlechternder Gesundheit überleben. Warum nehmen wir diese soziale Ungerechtigkeit schweigend hin? Welche Rationalisierung erlaubt es uns, nachts friedlich zu schlafen?
Die Erklärung liegt größtenteils darin, dass wir eine speziell europäische oder westliche (heute aber globale) Religion angenommen haben, eine individualistische Religion der Ökonomie und des Marktes, die all diese Folgen zum unausweichlichen Resultat eines objektiven Systems erklärt, in das zu intervenieren kontraproduktiv ist. Beschäftigung ist bloß ein Kostenfaktor beim Geschäftemachen, und die Natur nichts als eine Ressourcenquelle zum Gebrauch bei der Produktion. In dieser Rechnung hat die Welt des Business so eine fundamentale Bedeutung und ist so getrennt von der Umwelt, dass Einmischung in den Verlauf des Wirtschaftssystems eine Bedrohung der natürlichen Ordnung der Dinge darstellt, und damit für die Zukunft des menschlichen Wohlergehens. Bei dieser Denkweise ist dasjenige Ergebnis gerecht (oder zumindest unausweichlich), das sich aus dem natürlichen Wirken dieses Wirtschaftssystems und der "Weisheit des Marktes", auf der es basiert, ergibt. Die Vormachtstellung, die dieses geistige Konstrukt – eine "europäische" Religion oder ökonomische Religion – errungen hat, ist bemerkenswert; es ist zu einem Dogma mit fast universeller Geltung geworden, die vorherrschende Religion unserer Zeit, die stützt und rechtfertigt, was man für einen offenkundig ungerechten Status Quo halten sollte. Sie hat einen ungeheuren Einfluss erlangt, der die menschliche Tätigkeit heute beherrscht (Dobell: 232).
Laut Dobell basiert diese Theologie auf zwei nicht eingängigen, aber weithin akzeptierten Behauptungen: dass sie richtig und gerecht ist (weshalb "der Markt hat mich dazu gezwungen" als Verteidigung für viele moralisch fragwürdige Tätigkeiten akzeptiert wird); und dass Wert angemessen durch Preise angezeigt werden kann. Weil natürliche Rohstoffquellen nicht mit Preisen ausgezeichnet sind, gilt ihre Gewinnung etwa durch Schleppnetze oder Kahlschlag nicht nur als akzeptabel, sondern als notwendig, um wettbewerbsfähig zu sein, trotz der Tatsache, dass "inzwischen ziemlich jeder weiß, dass Marktmechanismen tiefgreifende Mängel aufweisen, weil sie nämlich unausweichlich zu Umweltschäden und der Zerstörung unersetzlicher Ökosysteme führen, wenn man sie bei den derzeitigen Methoden der Preisbestimmung und Handlungsweisen sich selbst überlässt". (237)
Die Grundannahme beider Behauptungen ist, dass solche Systeme "natürlich" sind. Wenn der Marktkapitalismus wirklich nach ökonomischen Gesetzen abläuft, die so natürlich sind, wie diejenigen der Physik oder der Chemie – wenn die Ökonomie also eine wirkliche Wissenschaft wäre -, scheinen seine Folgen unvermeidlich zu sein, ungeachtet der Tatsache, dass sie zu extremer sozialer Ungleichheit und in die Umweltkatastrophe geführt haben und weiter führen. Doch nichts an unseren wirtschaftlichen Beziehungen ist unausweichlich. Genau dieses Missverständnis muss angesprochen werden – und hier kommt auch die Religion ins Spiel, weil es scheint, dass es angesichts von Universitäten und Medien, die sich zunehmend an jene Marktkräfte prostituieren, keine andere moralische Perspektive mehr übrig ist, aus der man sie herausfordern könnte. Glücklicherweise können uns die alternativen Weltsichten, die uns die Religionen bieten, helfen, zu begreifen, dass der weltweite Sieg des Marktkapitalismus etwas anderes ist, als das einfache Erlangen wirtschaftlicher Freiheit: es ist eher die Vorherrschaft einer bestimmten Art und Weise, die Welt zu verstehen und zu bewerten, die nicht als selbstverständlich hingenommen werden muss. Weit davon entfernt, unentrinnbar zu sein, ist dieses Wirtschaftssystem eine historisch bedingte Weise, die Welt zu gestalten/umzugestalten; es ist eine Weltsicht mit einer Ontologie und einer Ethik, die mit anderen Verständnisweisen davon, was die Welt ist und wie wir darin leben sollten, konkurriert.
Was aus religiöser Perspektive an den Werten des Marktes am meisten beeindruckt, ist nicht ihre "Natürlichkeit", sondern wie außerordentlich effektiv und überzeugend ihre Bekehrungstechniken sind. Als Lehrer für Philosophie weiß ich, dass, was auch immer ich während einiger Stunden pro Woche mit meinen Studenten anstellen kann, praktisch nutzlos ist gegen die Einflüsse, die außerhalb des Unterrichts auf sie einstürmen, um sie zu bekehren - die anziehenden (oft hypnotischen) Webebotschaften im Fernsehen und Radio, in Zeitschriften und Bussen, usw., die ständig drängen "kauf mich, wenn du glücklich sein willst". Wenn uns die Unterscheidung, die wir gewöhnlich zwischen dem Profanen und dem Heiligen machen, nicht blind macht, können wir sehen, dass uns hier eine andere Art der Erlösung versprochen wird, d.h. eine andere Art der Lösung für unser Unglücklichsein. Weil das ins Herz der wahren religiösen Perspektive führt – die eine andere Erklärung für unsere Unfähigkeit, glücklich zu sein, und einen ganz anderen Weg, glücklich zu werden, anbietet – erfüllen Religionen nicht ihre Verantwortung, wenn sie diese religiösen Dimensionen des Kapitalismus ignorieren, wenn sie nicht nachdrücklich betonen, dass diese Verlockung trügerisch ist, und weil diese Lösung für unser Unglücklichsein nur zu noch größerer Unzufriedenheit führt.
Anstatt ihre Unausweichlichkeit zu demonstrieren, enthüllt die Geschichte der Wirtschaftssysteme den nicht zwangsläufigen Charakter der Marktbeziehungen, die für uns selbstverständlich sind. Obwohl wir dazu neigen, das Profitmotiv für universell und rational zu halten (die wohltätige "unsichtbare Hand" Adam Smiths), haben Anthropologen entdeckt, dass es in traditionellen Gesellschaften keine Tradition hat. Soweit wir es dort finden, spielt es eine sehr beschränkte Rolle und wird wegen seiner Tendenz, soziale Beziehungen zu zerstören, misstrauisch beäugt. Die meisten vormodernen Gesellschaften trennen nicht scharf zwischen der ökonomischen und der gesellschaftlichen Sphäre, mit dem Ergebnis, dass ökonomische Rollen Teil umfassenderer gesellschaftlicher Rollen sind. Der vorkapitalistische Mensch "ist nicht tätig, um seine individuellen Interessen durch den Besitz materieller Güter zu sichern, sondern er ist tätig, um seine gesellschaftliche Stellung, seine gesellschaftlichen Ansprüche, seine gesellschaftlichen Aktiva zu sichern. Materielle Güter sind für ihn nur insofern von Wert, wie sie diesem Ziel dienen." In der kapitalistischen Gesellschaft hingegen sind "anstatt dass die Ökonomie in gesellschaftliche Beziehungen eingebettet ist, die gesellschaftlichen Beziehungen ins ökonomische System eingebettet". (Polanyi:46,57)
Tawney entdeckte, dass es auch im Westen vor der Renaissance die gleiche Sichtweise auf die Kräfte des Markts gab: "In den Theorien des Mittelalters gibt es keinen Platz für ökonomisches Handeln, das nicht einem sittlichen Zweck dient, und eine Gesellschaftswissenschaft auf die Annahme zu gründen, das Verlangen nach wirtschaftlichem Gewinn sei eine konstante und messbare Kraft, die wie andere Naturkräfte als unvermeidliche und selbstverständliche Gegebenheit hingenommen werden müsse, wäre dem mittelalterlichen Denker kaum weniger irrational und unmoralisch vorgekommen, als das ungehemmte Wirken solch unvermeidlicher menschlicher Eigenschaften wie Streitlust und Sexualtrieb zur Grundlage einer Gesellschaftslehre zu machen" (31).
Die entscheidende Umgestaltung begann zweifellos im Spätmittelalter – nicht zufällig die Zeit, in der die vorherrschende religiöse Interpretation der Welt langsam ihre Macht über das Leben der Menschen verlor. In dem Ausmaß, in dem der Profit allmählich zum Motor des ökonomischen Prozesses wurde, entstand schrittweise die Neigung, das gesamte Gesellschaftssystem, und nicht nur das wirtschaftliche Element, umzugestalten, weil es keine natürliche Unterscheidung zwischen beidem gibt. (2) "Das Kapital hatte aufgehört, ein Diener zu sein und war zum Herren geworden. Indem es für sich eine abgetrennte und unabhängige Lebenskraft voraussetzte, beanspruchte es für sich das Recht eines überlegenen Partners, die wirtschaftliche Organisation nach seinen strengen Erfordernissen zu bestimmen" (Tawney: 86). Es ist ein weiteres Beispiel für die paradoxe Eigenschaft von Technologien: wir schaffen komplexe Systeme, um unser Leben bequemer zu machen, nur um uns als Gefangene der unerbittlichen Logik ihrer Entwicklung wiederzufinden. Das Monster in Shelleys "Frankenstein" drückt es brutaler aus: "Du bist mein Schöpfer, aber ich bin dein Herr."
Der Gelehrte, der am meisten dazu beitrug, die religiösen Wurzeln des Marktkapitalismus bloßzulegen, war Max Weber. Seine umstrittene Theorie verortet die Ursprünge des Kapitalismus nicht nur in der "diesseitigen Askese" der puritanischen Ethik, sondern legt nahe, dass der Kapitalismus in seiner psychologischen Struktur im Grunde religiös bleibt. Laut "Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" wurde durch den calvinistischen Glauben in die Vorherbestimmung verstärkt, was zu einem unwiderstehlichen Drang wurde, herauszufinden, ob man unter den Auserwählten war; eine solche Vorherbestimmung machte die Sakramente unnötig und führte zu einer Abwertung des Heiligen. An seiner Stelle wurde wirtschaftlicher Erfolg in dieser Welt als Beweis für das Wohlwollen Gottes anerkannt; dies schuf die psychologischen und gesellschaftlichen Bedingungen dafür, die asketischen Werte des Klosters in weltliche Beschäftigungen einzuführen, und man arbeitete, um sich dadurch als gerettet zu erweisen, dass man den Überschuss reinvestierte, statt ihn zu konsumieren. Allmählich verlor dieses ursprüngliche Ziel an Bedeutung, doch der innerweltliche Asketismus verschwand nicht, als Gott weiter weg rückte und der Himmel an Bedeutung verlor. In unserer modernen Welt ist die ursprüngliche Motivation verschwunden, damit aber nicht das Beschäftigtsein mit Kapital und Profit; es ist im Gegenteil zu unserer hauptsächlichen Besessenheit geworden. Weil wir, die wir an keine andere endgültige Erlösung mehr glauben, kein anderes Ziel mehr haben, erlauben wir als Ergebnis den Mitteln zum Zweck zu werden.
Der springende Punkt von Webers Aufsatz zielt darauf ab, wie die ursprüngliche Absicht hinter einer Handlung mit der Zeit zu etwas ganz anderem werden kann: "Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie…jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-materieller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller Einzelnen – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen – mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossiler Brennstoffe verglüht ist. Nur wie ‚ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte’, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die materiellen Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden"(nach Scaff: 88).
Seit Adam Smiths "unsichtbarer Hand" haben wir einen langen Weg zurückgelegt. Webers Metapher ist weniger zuversichtlich: das ursprüngliche calvinistische Berufsethos "schleicht durch unser Leben wie der Geist eines toten religiösen Glaubens", und wurde von einer rationalistischen Zivilisation, die in großem Maßstab produziert und gierig konsumiert, unterworfen, die heute auf rein mechanistischen Grundlagen beruht (nach Scaff: 89).
Webers Religionssoziologie unterscheidet eher ritualistische und legalistische Religionen, die sich der Welt anpassen, von Erlösungsreligionen, die ihr eher feindlich gegenüberstehen. Erlösungsreligionen sind wegen der Prophezeiungen und des Charismas, durch die sie motiviert sind, oft revolutionär und missionarisch, weil sie versuchen, im täglichen Leben eine neue Botschaft oder eine neue Verheißung unterzubringen. Ihre Bemühungen, das Fortbestehen der Gnade in der Welt zu gewährleisten, verlangen letztendlich eine Umordnung des Wirtschaftssystems. Weber stellte fest, dass Anhänger dieses Religionstyps gewöhnlich nicht über innere Gelassenheit verfügen, da sie von inneren Spannungen beherrscht werden.
Dieser letzte Punkt, der nicht nur die in der "Protestantischen Ethik" behandelten Puritaner beschreibt, sondern auch an unsere eigene Situation erinnert, legt nahe, dass der Marktkapitalismus als eine Art Erlösungsreligion begann und auch heute noch so verstanden werden kann: unzufrieden mit der Welt wie sie ist und dazu getrieben, ihr eine neue Verheißung zu verleihen, vom Glauben an die Gnade, die der Profit gewährt, angetrieben (und diese als Rechtfertigung benutzend), mit einem missionarischen Eifer, das Wirtschaftssystem auszudehnen und neu zu ordnen. Webers Argumente laufen darauf hinaus, dass, obwohl wir die moderne Welt für säkularisiert halten, ihre Werte nicht nur von religiösen Werten abgeleitet sind (Errettung dadurch, dass man dem Alltag eine revolutionäre neue Verheißung verleiht), sondern dass es größtenteils die gleichen Werte sind, die allerdings durch den Verlust des Bezugs auf eine jenseitige Dimension verändert wurden. Oder genauer ausgedrückt: diese Werte wurden durch die Tatsache zerstört, dass unser Antrieb, der nicht mehr jenseitig, aber immer noch auf die Zukunft gerichtet ist, unbewusst geworden ist.
Weber betonte, das asketische Berufsethos habe zwar vielleicht seine ursprüngliche Bedeutung verloren, aber das mache es nicht weniger mächtig. Unsere Art der Erlösung verlangt immer noch eine Ausrichtung auf die Zukunft. Norman Brown formulierte es so: "Wir treten unseren Gewinn nicht mehr an Gott ab; der Vorgang, einen immer weiter wachsenden Gewinn zu produzieren ist selbst zu unserem Gott geworden" (261). Im Gegensatz zur zyklischen Zeit der prämodernen Gesellschaften mit ihren jahreszeitlichen Versöhnungsritualen ist die Zeitauffassung unserer Ökonomie linear und auf die Zukunft ausgerichtet, weil sie zwar nach Versöhnung verlangt, diese aber nicht länger erreichbar ist, da sie als bewusster Antrieb verschwunden ist. Unbewusster Antrieb ist sie aber immer noch, weil wir weiterhin einem Ziel nachjagen, das beständig hinausgeschoben wird. Unsere kollektive Reaktion darauf ist das Bedürfnis nach Wachstum geworden: die niemals befriedigte Begierde nach einem immer höheren "Lebensstandard" (weil wir nie zuviel haben können, wenn wir uns erst einmal als Konsumenten definiert haben) und das Evangelium vom zunehmenden wirtschaftlichen Wachstum (weil Unternehmen und das Bruttosozialprodukt nie groß genug sein können). (4)
Die große Transformation
Engels erzählt, wie er gegenüber einem Fabrikanten in Manchester bemerkte, er habe nie eine schlechter gebaute und schmutzigere Stadt gesehen: "Der Mann hörte schweigend bis zum Schluss zu und sagte, als wir uns an einer Ecke trennten: ‚Und trotzdem kann man hier eine Menge Geld machen. Guten Morgen, Sir." (Sale: 58)
Die Entwicklung des Marktkapitalismus trat während der industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert in ein kritisches Stadium ein, als neue Technologien für eine bis dahin unerreichte Verbesserung der Produktionsmittel sorgten. Dies führte zu einer "Freisetzung" einer kritischen Masse von Land, Arbeit und Kapital, die von den meisten Menschen als so nie da gewesene Katastrophe empfunden wurde, weil sie das Gewebe der Gemeinschaft zerstörte – eine Katastrophe, die sich heute in vielen Teilen der "Entwicklungsländer" wiederholt. Karl Polanyis "The Great Transformation" (1944) ist sowohl ein Ausdruck der Empörung über die sozialen Folgen, als auch eine aufschlussreiche Erklärung der Grundlagen dieser zerstörerischen Entwicklung: der Art und Weise, wie aus der Welt ein Markt gegeneinander austauschbarer Waren gemacht wurde. Damit die Kräfte des Marktes frei und rentabel wirken konnten, musste die Natur zu Nutzland, Leben in Arbeitskraft und das Erbe der Väter in Kapital umgewandelt werden. Schon vorher hatte die Kommerzialisierung der englischen Landwirtschaft dazu geführt, dass die Allmende, früher Weideland der ganzen Gemeinschaft, privat angeeignet und eingezäunt wurde. Die Geißel der industriellen Umwandlung aller Dinge in Waren erwies sich als noch viel schlimmer. Die Erde (sowohl unsere Mutter als auch unser Heim) wurde zu einer Sache, zu einer Ansammlung von Rohstoffen, die kommerziell verwertet werden konnten. Das Leben der Menschen wurde verdinglicht zu Arbeitskraft oder Arbeitszeit, deren Wert von Angebot und Nachfrage bestimmt wurde. Das gesellschaftliche Erbe, gehütet, mühsam angesammelt und bewahrt für die Nachkommen, wurde verdinglicht zu austauschbarem Kapital, das ebenfalls ge- und verkauft werden konnte, eine Quelle des unverdienten Reichtums einer vom Glück begünstigten Minderheit und eine Quelle erdrückender Verschuldung für die anderen.
Das Zusammenspiel zwischen diesen unterschiedlichen Formen, alles zu einer Ware zu machen, führte zu einer Akkumulation von Kapital, die fast wie Zauberei wirkte, und zu einem ebenso überraschend einsetzenden Zusammenbruch des Lebens der traditionellen Gemeinschaften, als die Dorfbewohner durch diese neuen ökonomischen Kräfte von ihrem Land vertrieben wurden. "Die Arbeit von anderen Aktivitäten im Leben zu trennen und sie den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen, bedeutete die Auslöschung aller gewachsenen Formen der Existenz und ihre Ersetzung durch ein anderes Organisationsmodell, das atomistisch und individualistisch war," unterstreicht Polanyi. Solch ein System "konnte nicht auf Dauer bestehen, ohne das zu vernichten, was an der Gesellschaft wesenhaft menschlich und naturhaft ist." Das Prinzip des Laissez-faire, das besagt, die Regierung solle sich nicht in das Wirken des ökonomischen Systems einmischen, wurde recht selektiv angewandt: obwohl die Regierung gewarnt wurde, der Industrie nicht im Weg zu stehen, war man darauf angewiesen, mithilfe ihrer Gesetze und Politik die menschliche Arbeitskraft auf eine Ware zu reduzieren. Was Nichteinmischung genannt wurde, war in Wirklichkeit Einmischung, um die "nicht auf formellen Verträgen basierenden Beziehungen zwischen Individuen zu zerstören und ihre erneute Bildung zu verhindern" (163,3).
Ist es Zufall, dass die gleiche Doppelzüngigkeit bis heute anzutreffen ist? Während so genannte Konservative die Befreiung des freien Unternehmertums von der zügelnden Hand der Regierung predigen, sucht man um staatliche Hilfen für unwirtschaftliche Industriezweige (z.B. die Kernenergie) und Haftungsübernahme (z.B. bei Konkursen) nach, wie auch die internationale Politik danach ausgerichtet wird, die Welt für die multinationalen Konzerne sicher zu machen (GATT, NAFTA und der Golfkrieg). Bis vor ein-, zweihundert Jahren gab es wenig wirkliche Trennung zwischen Kirche und Staat, zwischen der geistlichen Autorität und der weltlichen Macht, und ihr behagliches Miteinander ist heute zurückgekehrt: weit davon entfernt, ein wirksames Regulativ zu sein, oder sich wenigstens neutral zu verhalten, ist die U.S.-Regierung zum mächtigsten Verfechter des Marktkapitalismus als Lebensart geworden, und sie hat ja vielleicht auch keine große Wahl, weil sie zum Strichjungen geworden ist, der auf das Abschöpfen der am Markt erzielten Profite angewiesen ist.
Von der Umwandlung von Land, Leben und überkommenem Erbe in Waren während des 18. Jahrhunderts führt eine direkte Linie zu den Ozonlöchern und der globalen Erwärmung von heute, aber diese Vorgänge haben auch zu einer weiteren Art der Umweltzerstörung geführt, die auf ihre Weise genauso problematisch ist: der Auslöschung von "moralischem Kapital", einem entsetzlichen Ausdruck, den nur Ökonomen haben prägen können, um eine zusätzliche schreckliche Wirkung der Kräfte des Marktes zu beschreiben. Wie Adam Smith in seiner "Theorie der ethischen Gefühle" betont, ist der Markt ein gefährliches System, weil er genau die von der Gemeinschaft geteilten Werte zersetzt, die er braucht, um seine Exzesse in Schranken zu halten. "So sehr er auch von Eigeninteressen angetrieben sein mag, hängt der Markt doch völlig von einer Gemeinschaft ab, die, neben anderen Tugenden, Werte wie Ehrlichkeit, Freiheit, Unternehmungsgeist, Sparsamkeit, teilt; deren Autorität wird aber nicht lange weiter bestehen, wenn man sie auf die Ebene des persönlichen Geschmacks reduziert, was ein offensichtliches Ergebnis der positivistischen, individualistischen Anschauung von Werten ist, auf der die moderne ökonomische Theorie beruht" (Daly und Cobb:50). Ein Grundwiderspruch des Marktes ist es, dass er von dem, der effektiv arbeiten will, Charakterzüge wie das Vertrauen in eine verlässliche Ordnung verlangt, seine eigenen Auswirkungen aber die Möglichkeit untergraben, dass andere auf unsere Vertrauenswürdigkeit bauen können. Dieser Widerspruch begünstigt den Zusammenbruch von Beziehungen, der in vielen Unternehmen schon weit fortgeschritten ist. Massiver Stellenabbau und der vermehrte Einsatz von Teilzeit-Beschäftigten zeigen, dass die Belange der Arbeiter für die Unternehmen eine immer geringere Rolle spielen, während an der Spitze astronomische Lohnerhöhungen (und die Möglichkeit zu lukrativen Aktiengeschäften) und andere unappetitliche Praktiken, wie Übernahmen durch das eigene Management, offen legen, dass die mit der Unternehmensführung betrauten leitenden Angestellten immer geschickter darin werden, sich persönlich zu bereichern, indem sie die Firmen ausschlachten. Zwischen 1980 und 1993 haben die fünfhundert vom Wirtschaftsmagazin Fortune gelisteten Firmen ihre Gewinne um das 2,3fache erhöht, während sie 4,4 Millionen Arbeitsplätze vernichtet haben und die Vorstandsgehälter sich mehr als versechsfacht haben. So erhält der durchschnittliche Geschäftsführer oder Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens heute mehr als 3,7 Mio.$ pro Jahr als Vergütung (Korten:218).
Daran erweist sich, dass der Markt kein "moralisches Kapital" vermehrt, sondern Raubbau daran betreibt und sich deshalb darauf verlassen muss, dass die Gemeinschaft für die Regeneration sorgt, genau so, wie er darauf bauen muss, dass die Biosphäre das Kapital an natürlichen Ressourcen erneuert. Es ist keine Überraschung, dass die langfristigen Folgen sich ähneln: ebenso, wie der Punkt erreicht ist, an dem die Fähigkeit der Biosphäre, sich zu erholen, geschädigt ist, ist auch unser moralisches Kapital so verbraucht, dass die Fähigkeit unserer Gemeinschaften (oder besser: unsere Ansammlungen von atomisierten Individuen, die alle an die Spitze streben) abnimmt, für seine Erholung zu sorgen, und wir sehen um uns die erschreckenden sozialen Folgen. Eine Konsequenz ist es auch, dass jetzt den wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen, die geschaffen wurden, um die Fehler des Kapitalismus zu korrigieren, die Schuld an diesen Fehlern gegeben wird. Aber die sozialen Zersetzungserscheinungen, unter denen so viele "entwickelte" Gesellschaften leiden, sind nicht etwas, das durch die gründlichere Anwendung der Werte des Marktes zu beheben ist (indem man etwa Sozialhilfeempfänger zu Arbeit verpflichtet, die der Gesellschaft zugute kommen soll), sondern gerade die Folgen dieser Werte. Die anhaltende Zerstörung der Biosphäre, des Werts menschlichen Lebens und des Erbes, das wir an zukünftige Generationen weitergeben sollten durch den Prozess, alles in Waren zu verwandeln, sorgt auch weiterhin für die Zerstörung der Gemeinschaften vor Ort, die das moralische Rückgrat ihrer Mitglieder bildet. Die Entwertung der Erde und die Entwertung unserer gesellschaftlichen Einrichtungen müssen beide als Ergebnis des gleichen Prozesses gesehen werden, bei dem der Markt alles zur Ware macht und sein Wirken damit rechtfertigt, dass es natürlich und unvermeidbar sei.
Der wachsende Substanzverlust des "moralischen Kapitals" erinnert uns eindringlich daran, dass eine Gemeinschaft mehr ist, als die Summe seiner Teile, dass das Wohlbefinden des Ganzen notwendig für das Wohlbefinden seiner Glieder ist. Das ist allerdings etwas, das sich nicht in die Gleichungen der heutigen ökonomischen Theorie einfügt. Warum nicht? Die Antwort führt uns zurück zu den Ursprüngen ökonomischen Denkens im achtzehnten Jahrhundert, Ursprünge, die in der damals vorherrschenden individualistischen Philosophie des Utilitarismus verankert sind. Die Philosophie hat sich seitdem beträchtlich weiter-entwickelt, aber die ökonomische Theorie bleibt diesen utilitaristischen Werten weiterhin verhaftet und ist sich dieser Erbschaft auch gar nicht bewusst. (5) Dem Utilitarismus zufolge besteht die Gesellschaft aus voneinander getrennten Einzelindividuen, die alle persönliche Zwecke verfolgen. Menschliche Werte werden nur soweit ins Kalkül gezogen, als sie dienlich sind, Freuden (die man nicht weiter nach ihrer Qualität unterscheidet) zu maximieren und Unbehagen zu minimieren. Rationalität wird definiert als intelligentes Verfolgen persönlicher Vorteile. So wie Adam Smith es verstand, "haben Individuen unterschiedliche Möglichkeiten, miteinander in Beziehung zu treten, entweder auf der Grundlage von Wohlwollen oder von Eigenliebe, aber diese oder andere Beziehungen machen sie nicht aus. Sie sind grundlegend getrennt voneinander, und diese Trennung ist die Grundlage, auf der sie sich aufeinander beziehen. Für ihre eigene Identität sind die Beziehungen etwas rein äußerliches" (Daly und Cobb:160). Weil das Fach Ökonomie eine Vorrangstellung unter den Sozialwissenschaften eingenommen zu haben scheint (es gibt keinen Nobelpreis für Soziologie oder Politikwissenschaft oder gar für Philosophie oder Religion), hat sich dieses Menschenbild durchgesetzt, während gleichzeitig seine Grundannahmen von der heutigen Philosophie, der Psychologie und der Soziologie gründlich angezweifelt werden – von der Religion ganz abgesehen, die schon immer ein ganz anderes Verständnis davon hatte, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Nichtsdestoweniger "wird die Gesellschaft mehr zu der Ansammlung von Einzelindividuen, als die sie die ökonomische Theorie beschreibt", indem die Werte des Marktes zu einer Verschlechterung der Qualität unserer sozialen Beziehungen führen. "Das ‚positive’ Modell beginnt, als Norm zu fungieren, an welche die Realität durch genau die Taktiken angepasst wird, die aus diesem Modell abgeleitet sind" (Daly und Cobb:162).
In Anbetracht des Einflusses, den neomalthusianisches Denken heute in Fragen der Bevölkerungspolitik hat, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, das Malthus in dieser Tradition steht. Sein "Essay on the Principle of Population" (1798) trat für ein eisernes Lohngesetz ein: ein Lohn, der gerade das Überleben sichert, ist gerecht, weil höhere Löhne nur zu schnellem Bevölkerungswachstum führen, bis dieses Wachstum durch Armut gebremst wird. Daraus folgt, dass Armut kein Produkt menschlicher Institutionen ist, sondern für die meisten Menschen der naturgegebene Lebenszustand. Der Einfluss dieser Denkweise war umgekehrt proportional zu den dafür erbrachten (oder eher nicht erbrachten) empirischen Beweisen, denn aus der weltweiten Bevölkerungsentwicklung konnte man kaum solche Schlüsse ziehen. Das rasche Bevölkerungswachstum im England des 19. Jahrhunderts, das auftrat, nachdem viele Menschen von ihrem Land vertrieben und zur Fabrikarbeit gezwungen worden waren, stützt den gegenteiligen Schluss, dass nämlich Menschen nicht arm sind, weil sie große Familien haben, sondern dass sie große Familien brauchen, weil sie arm sind (es bestand eine große Nachfrage nach Kinderarbeit). Vom moralischen Standpunkt aus neigt der Malthusianismus dazu, die Frage zu verdecken, wer eigentlich die Ressourcen der Erde verbraucht. Von seiner Theorie her gesehen isolieren seine Hauptannahmen – dass nämlich die Bevölkerung geometrisch wächst, der Bestand an Nahrungsmitteln aber arithmetisch – willkürlich die Auswirkungen zweier Variablen aus der Vielfalt historischer Faktoren, während er die vielleicht wichtigsten Variablen als unveränderlich ansieht: die "Natürlichkeit" eines unbeschränkten Marktes und den damit korrespondierenden Menschentyp – das wettbewerbsorientierte, egoistische, "rationale" Individuum, von dem die neoklassische Ökonomie immer noch ausgeht. (6)
Wie die ganze moderne Philosophie des Westens, war der Utilitarismus, den Smith und Malthus als selbstverständlich hinnahmen, dem Denken Rene Descartes verpflichtet. Sein metaphysischer Dualismus trennte die menschliche Absicht von allen anderen existierenden Dingen, mit dem Ergebnis, dass sie zu reinen Mitteln für die Zwecke des Menschen entwertet wurden. Trotzdem sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts zu einem guten Teil mit der Kritik des cartesianischen Subjekt-Objekt-Dualismus beschäftigt, setzt die zeitgenössische ökonomische Theorie immer noch solch eine subjektivistische Theorie des Werts voraus, die den Wert nur als etwas wahrnehmen kann, das menschliche Wünsche zu befriedigen hat.
Unsere Menschlichkeit reduziert auf eine Quelle der Arbeitskraft und auf unersättliches Verlangen, während sich unsere Gemeinschaften auflösen in Ansammlungen von Einzelindividuen im Wettstreit um das Erreichen persönlicher Ziele…die Erde und all ihre Kreaturen zu Waren in einem Ressourcenpool geworden, den man ausplündern kann, um dieses Verlangen zu befriedigen…lässt dieser radikale Dualismus überhaupt noch Platz für das Heilige? Für Staunen und Ehrfurcht vor den Geheimnissen der Schöpfung? Ob wir an Gott glauben oder nicht, glauben wir trotzdem vielleicht, dass uns etwas fehlt. Hier werden wir an die entscheidende Rolle erinnert, die Religionen spielen können: dieses geschrumpfte Verständnis davon, was die Welt ist und wie unser Leben sein könnte, grundsätzlich in Frage zu stellen.
Der unaufhörliche Hunger… Sind wir schon glücklich?
Heute ist es nicht das Proletariat, durch dessen Bewusstseinswandel die Welt befreit würde, sondern der Konsument. (Miller:19)
Aus religiöser Perspektive ist das Problem mit dem Marktkapitalismus ein zweifaches: Gier und Verblendung. Einerseits verstärkt der Markt und braucht sogar die Gier auf mindestens zwei Arten. Verlangen nach Profit ist notwendig, um den Motor des Wirtschaftssystems anzutreiben, und ein unersättliches Verlangen, immer mehr zu konsumieren muss erzeugt werden, um Märkte für dass zu schaffen, was produziert werden kann. Innerhalb der ökonomischen Theorie und immer mehr auch im durch sie befürworteten Markt, ist kein Platz mehr für die moralischen Dimensionen der Gier; heute scheint es der Religion überlassen geblieben zu sein, eine Idee davon zu bewahren, was an einem menschlichen Charakterzug problematisch ist, der bestenfalls unappetitlich und im schlimmsten Fall eindeutig böse ist. Religiöses Verständnis der Welt hat Gier in der Regel als etwas bis zu einem gewissen Grad natürliches angesehen, sah aber, statt ihr mehr Freiheit zu verschaffen, eher die Notwendigkeit, sie zu kontrollieren. Das spirituelle Problem mit der Gier – sowohl der Gier nach Profit, als auch der Gier nach Konsum – bezieht sich nicht nur auf die daraus folgende ungerechte Verteilung weltlicher Güter (obwohl eine gerechtere Verteilung natürlich dringend erforderlich ist) oder ihre Auswirkungen auf die Biosphäre, sondern noch grundlegender darauf, dass Gier auf Verblendung basiert: der Verblendung, auf diese Weise könne man Glück finden. Der Versuch, durch Profit, oder dadurch, dass man Konsum zum Sinn des Lebens macht, Erfüllung zu finden, läuft auf Götzendienst hinaus, d.h. auf eine dämonische Perversion wahrer Religion; und jede religiöse Institution, die ihren Frieden mit der Vormacht solcher Werte des Marktes macht, verdient nicht den Namen der wahren Religion.
Gier ist, in anderen Worten, Teil eines schadhaften Wertesystems (der Art und Weise, in der Welt zu leben) und basiert auf einem fehlerhaften Glaubenssystem (was die Welt ist). Der extreme Subjektivismus des Cartesianismus und der atomistische Individualismus des Utilitarismus, die solche Gier "natürlich machen" müssen herausgefordert und widerlegt werden – nicht nur intellektuell, sondern vor allem mit der Art, wie wir unsere Leben leben. Die große Sensibilität für soziale Gerechtigkeit in den semitischen Religionen (wo Sünde ein moralisches Versagen des Willens ist) muss ergänzt werden durch die Betonung, die die asiatischen Erleuchtungsreligionen auf das Durch-Schauen und Auflösen der Verblendung (Unwissenheit als Unfähigkeit, zu verstehen). Ich fürchte auch, dass ersteres ohne das letztere in unserem zynischen Zeitalter wirkungslos bleiben wird. Es ist unwahrscheinlich, dass wir jemals das Problem der sozialen Gerechtigkeit bei der Verteilung lösen, ohne dass wir die trügerische Ansicht überwinden, individualistische Akkumulation und Konsum machten uns glücklich, schon alleine deshalb, weil diejenigen, welche die weltweiten Ressourcen kontrollieren, die Dinge in eine Richtung, die sie für vorteilhaft halten, beeinflussen können; und solche Eliten durch gewaltsame Revolutionen zu stürzen, hat, wie das 20. Jahrhundert zeigte, nur dazu geführt, sie durch andere zu ersetzen.
Folgt man dem französischen Historiker Fernand Braudel, dann war die industrielle Revolution "letztendlich eine Revolution der Nachfrage" – oder genauer: "eine Transformation des Verlangens" (183) Weil wir inzwischen unser eigenes unersättliches Verlangen als "natürlich" ansehen, ist es notwendig, sich daran zu erinnern, wie sehr die heutige Erscheinungsform unseres Verlangens auch ein bestimmtes, historisch bedingtes Wertesystem ist – Angewohnheiten, die ebenso gemacht sind, wie die Güter, die zu ihrer Befriedigung dienen sollen.
Laut der Fachzeitschrift "Advertising Age", die es wissen sollte, wurde in den USA 1994 147 Mrd.$ für Werbung ausgegeben – weit mehr, als für die gesamte weiterführende Bildung ausgegeben wurde. Anders ausgedrückt: eine Flut aus 21.000 Fernsehwerbespots, einer Million Seiten Zeitungsanzeigen, 14 Milliarden Versandkataloge, 38 Milliarden Postwurfsendungen und einer weiteren Milliarde Reklameschilder, Plakate und Werbeflächen. Darin nicht enthalten sind weitere 100 Mrd.$ jährlich für mehrere verwandte Unternehmenszweige, die sich mit dem Geschmack und dem Kaufverhalten der Konsumenten befassen, also Verkaufsförderung, Public Relations, Vermarktung, Design und vor allem Mode (nicht nur Kleidung) (Durning:122). Zusammengenommen ist das wahrscheinlich der größte Versuch geistiger Beeinflussung in der Geschichte der Menschheit – alles nur zu dem Zweck, die Bedürfnisse der Konsumenten zu definieren und zu schaffen. Kein Wunder, dass ein Kind in den entwickelten Ländern die Umwelt dreißig Mal stärker belastet, als ein Kind in der Dritten Welt.
Wenn der Markt einfach nur die effektivste Weise ist, unsere ökonomischen Bedürfnisse zu befriedigen, warum brauchen wir dann solch gewaltige Industriezweige? Die ökonomische Theorie, genau wie der Markt selbst, unterscheidet nicht zwischen echten Bedürfnissen und noch so zweifelhaftem, künstlich erzeugtem Verlangen. Beiden wird normative Gültigkeit zugesprochen. Es ist nicht von Bedeutung, warum jemand etwas will. Die Folgen dieser Haltung sind aber bedeutend für die Zukunft. Der Zusammenhang zwischen der raschen Zerstörung unserer Ökosysteme während des letzten halben Jahrhunderts und dem Konsumverhalten, das wir inzwischen für natürlich halten, ist ernüchternd: dem Worldwatch Institute zufolge haben die Menschen, die zwischen 1950 und 1990 lebten, mehr Güter und Dienstleistungen verbraucht (…), als alle vorangegangenen Generationen in der Geschichte der Menschheit zusammen (Durning:38).
Wenn das noch nicht erschreckend genug ist, braucht man nur die sozialen Folgen, die sich daraus ergaben, dass unsere Werte jetzt über den Konsum definiert werden, zu berücksich-tigen, was – zumindest in den USA – die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, völlig umgestaltet hat. "Mit dem Zusammenbruch der Gemeinschaft auf allen Ebenen ist der Mensch der üblichen Beschreibung des Homo Öconomicus ähnlicher geworden. Einkaufen ist zum vorrangigen nationalen Zeitvertreib geworden…Aufgrund massiver Anleihen und dem massiven Ausverkauf nationaler Vermögenswerte haben die Amerikaner ihr Erbe verschleudert und ihre Kinder arm gemacht" (Daly und Cobb:373)…Unser außerordentlicher Reichtum war uns nicht genug, und so haben wir ihn erhöht, indem wir einen außerordent-lichen Schuldenberg angehäuft haben. Wie erfindungsreich war es doch, ein Wirtschaftssys- tem zu ersinnen, das es uns erlaubt, vom zukünftigen Vermögen unserer Nachkommen zu stehlen! Die Errichtung unserer Warenwelt hat uns etwas für unmöglich gehaltenes ermöglicht: Zeitreisen. Wir können jetzt die Zukunft kolonisieren und ausplündern.
Für denjenigen, der mit dem damit bei 59 Millionen Amerikanern ausgelösten Suchtverhalten vertraut ist, kommt die entscheidende Ironie dieser fast vollständigen Unterwerfung der Welt unter Ware und Markt nicht überraschend (Dominguez und Robin:171). Vergleiche über einen gewissen Zeitraum und zwischen verschiedenen Gesellschaften ergaben, dass die Auswirkungen darauf, als wie glücklich man sich selbst einschätzt, gering sind. Die Tatsache, dass wir in der entwickelten Welt jetzt so viel mehr konsumieren, scheint wenig Auswirkungen darauf zu haben, wie glücklich wir sind.
Das ist kaum überraschend für diejenigen mit einer eher religiösen Ausrichtung auf die Welt. Die beste Kritik an dieser Gier nach Konsum kommt nach wie vor von den traditionellen religiösen Lehren, die uns nicht nur Halt bieten, sondern auch zeigen, wie unser Leben verwandelt werden kann. Im Buddhismus, um ein Beispiel aus meiner eigenen Religion zu bringen, ist das unersättliche Verlangen des auf sich fixierten Selbst die Quelle der Frustration und des Mangels an Frieden in unserem Alltag. Zuviel an Konsum, der uns ablenkt und vergiftet, ist eines der hauptsächlichen Symptome dieses Problems. Unglücklicherweise lindert dieses zwanghafte Verhalten unsere Angst nicht, sondern verstärkt sie. Die Antwort des Buddhismus heißt Verzicht und Freigebigkeit. Shunryu Suzuki Roshi drückte es folgendermaßen aus: Verzicht bedeutet nicht, die Dinge dieser Welt aufzugeben, sondern zu akzeptieren, dass sie vergänglich sind. Einzusehen und zu akzeptieren, dass alles vergänglich ist – wir selbst eingeschlossen - , ist notwendig für ein Leben in Gelassenheit. Nur jemand, dessen Identität nicht gefesselt ist an Erwerb und Konsum, kann auf die Dinge der Welt auch verzichten. Das Kennzeichen des Verzichts ist Freigebigkeit, die im Buddhismus und in allen bedeutenden Religionen tiefe Wertschätzung genießt. (7) Wahre Freigebigkeit ist nicht nur ein Zeichen moralischer Entwicklung, sondern auch von Einsicht: "Wenn die Notwendigkeit, uns zu definieren und darzustellen schwindet, schwindet auch unsere Besitzgier und unsere Gewinnsucht. Schließlich sehen wir vielleicht sogar ein, das unser Erleben der Besitzgier selbst auf einer Täuschung beruht. Etwas gehört mir nur dann, wenn es nicht dir gehört. Wenn wir aber einsehen, dass es kein Ich gibt, das von einem Du getrennt werden kann, und genauso wenig ein Wir, das getrennt von den anderen Erscheinungsformen der Welt existiert, beginnt die Vorstellung von Besitz ihre Bedeutung zu verlieren. Im Grunde gibt es keinen Mangel, der durch Besitzenwollen behoben werden könnte" (Jeffrey:12). Konsumismus ignoriert nicht nur die große Freude, anderen zu geben, er verhindert auch, mit unserem ganzen Wesen die Nichtdualität von "Mir" und "den anderen" zu erkennen. Diese Erkenntnis führt zur uns verwandelnden Einsicht, dass es unnötig ist, besitzen zu wollen, wo uns eigentlich gar nichts fehlt.
Andere Religionen drücken die Bedeutung der Freigebigkeit auf andere Weise aus, aber ich glaube, dass ihre unterschiedlichen Wege auf eine ähnliche Verwirklichung unserer Verbundenheit hinauslaufen. Die Fronten sind klar, wenn wir diesem Ansatz gegenüberstellen, wie der Markt uns indoktriniert, um uns von der Wichtigkeit von Kaufen und Konsumieren zu überzeugen – eine Indoktrination, die notwendig ist, damit der Markt wachsen und gedeihen kann.(…)
Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass der Markt nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern eine Religion ist – und keine sehr gute, weil sie nur gedeihen kann, indem sie eine säkulare Form der Erlösung verspricht, dieses Versprechen aber nicht einhalten kann. Als akademische Fachrichtung, der "Sozialwissenschaft" Ökonomie, versteht man unter ihr besser eine Theologie, die behauptet, Wissenschaft zu sein.
Das bedeutet, dass jede Lösung der so geschaffenen Probleme auch eine religiöse Dimension haben muss. Das bedeutet nicht, uns von weltlichen Werten ab- und religiösen Werten zuzuwenden, sondern, dass es notwendig ist, zu erkennen, wie unsere säkularen Obsessionen zu Symptomen eines spirituellen Mangels geworden sind, der durch sie nicht befriedigt werden kann. Dadurch, dass wir uns bewusst oder unbewusst von einem religiösen Verständnis der Welt abgewandt haben, verfolgen wir jetzt weltliche Ziele mit religiösem Eifer, der umso größer ist, umso weniger sie erreicht werden können. (8) Die Lösungen für die Umweltkatastrophe, die schon begonnen hat, und für den gesellschaftlichen Verfall, unter dem wir schon leiden, wird sich daraus ergeben, dass wir dieses unterdrückte spirituelle Verlangen wieder auf den richtigen Pfad bringen. Einstweilen gehört dazu der Kampf gegen die falsche Religion unseres Zeitalters.
Journal of the American Academy of Religion, Vol. 65, Nr. 2, Sommer 1997
David Loy ist Professor an der Fakultät für Internationale Studien an der Bunkyo University, Chigasaki, Japan
Anmerkungen:
Literatur:
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1995 Rebels Against the Future: the Luddites and their War on the Industrial Revolution. Reading, Massachusetts: Addison-Wellesley.
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Tawney, R. H.
1926 Religion and the Rise of Capitalism. New York: Harcourt, Brace.
Copyright © by BuddhaNetz [Stand: Juli 2005]
von David R. Loy
Religion ist bekanntermaßen schwer zu definieren. Wenn wir uns jedoch an ihrer Funktion orientieren, und Religion als das verstehen, was uns Halt gibt, indem sie uns lehrt, was die Welt und was unsere Rolle in der Welt ist, wird offensichtlich, dass traditionelle Religionen diese Rolle immer weniger ausfüllen, weil diese Aufgabe von anderen Glaubens- und Wertesystemen übernommen – oder zerstört – wird. Heute ist Wissenschaft die mächtigste andere Welterklärung, und der Konsumismus ist zum verlockendsten Wertesystem geworden. Ihr geistiger Abkömmling ist die Ökonomie, wahrscheinlich die einflussreichste "Sozialwissenschaft". In Erwiderung darauf wird dieser Aufsatz Gründe dafür anführen, unser heutiges Wirtschaftssystem auch als unsere Religion zu verstehen, weil es für uns eine religiöse Aufgabe erfüllt. Das Fach Ökonomie ist weniger eine Wissenschaft, als vielmehr die Theologie dieser Religion, und der Markt (im Original mit großem M, A.B.) als ihr Gott, ist zu einem Teufelskreis aus ständig wachsender Produktion und ständig wachsendem Konsum geworden, indem er scheinbar eine weltliche Form der Erlösung anbot. Der Zusammenbruch des Kommunismus - in dem man am besten eine kapitalistische "Häresie" sieht – macht es noch augenscheinlicher, dass der Markt zur ersten wirklichen Weltreligion wird, die alle Ecken der Welt immer enger an eine Weltsicht und einen Wertekanon bindet, deren religiöse Rolle wir nur deshalb übersehen, weil wir darauf bestehen, sie als "weltlich" zu betrachten.
So ist es kein Zufall, dass unsere von Umweltkatastrophen gekennzeichnete Zeit auch eine Zeit außergewöhnlicher Bedrohung für die eher traditionellen Religionen darstellt. Obwohl es unsere Eitelkeit verletzen könnte, ist es etwas albern, zu glauben, die herkömmlichen religiösen Institutionen, wie wir sie heute kennen, könnten bei der Lösung der Umweltkrise von Bedeutung sein. Näher liegender ist für sie das Problem, ob sie, genau wie die Regenwälder, die wir ängstlich beobachten, den Ansturm dieser neuen Religion in irgendeiner noch erkennbaren Form überstehen. Die großen Religionen liegen noch nicht im Sterben, aber wenn sie nicht schon mit den wirtschaftlich und politisch Herrschenden ins Bett gegangen sind, neigen sie dazu, mit Problemen der Vergangenheit und überholten Perspektiven (z.B. Pronatalismus) dermaßen beschäftigt zu sein, dass sie zunehmend belanglos (z.B. Fundamentalismus) oder banal (z.B. Fernsehevangelismus) sind. Das Ergebnis davon ist, dass sie bisher unfähig dazu waren, anzubieten, was am nötigsten ist, nämlich eine Kampfansage an den aggressiven Bekehrungseifer des Marktkapitalismus, der jetzt schon zur erfolgreichsten Religion aller Zeiten geworden ist und mehr Konvertiten in kürzerer Zeit gewinnt, als jedes vorhergehende Glaubens- oder Wertesystem in der Geschichte der Menschheit.
Heute ist die Lage der Religionen so kritisch geworden, dass sich die Umweltkrise sogar als etwas Positives für sie herausstellen kann, weil die ökologische Katastrophe in uns nicht nur die Erkenntnis der Tatsache weckt, dass wir eine tiefer liegende Quelle für Werte und Bedeutung brauchen, als sie der Marktkapitalismus liefern kann, sondern auch zu der Einsicht führt, dass die heutige Religion diese Bedürfnisse ebenfalls nicht befriedigen kann.
Ökonomie als Theologie
Es ist unerträglich, dass die wichtigsten Fragen des menschlichen Lebensunterhalts allein auf der Basis des Profits transnationaler Unternehmen entschieden werden. (Daly und Cobb:178).(1)
Im Jahr 1960 waren die Länder des Nordens etwa zwanzigmal reicher als die des Südens. 1990 – nach großen Mengen an Hilfsmitteln, Handel, Krediten und nachholender Industrialisierung des Südens – waren die Länder des Nordens fünfzig Mal reicher geworden. Die reichsten zwanzig Prozent der Weltbevölkerung haben jetzt ein Einkommen, das dem Hundertfünfzigfachen der ärmsten zwanzig Prozent entspricht, und die Kluft vergrößert sich (Korten: 107-108). Laut dem Bericht über Entwicklung der UN von 1996 ist der Reichtum der 358 Milliardäre, die es weltweit gibt, größer als das gemeinsame Jahreseinkommen von Ländern, in denen 45 % der Weltbevölkerung leben. Als Ergebnis sterben jede Woche eine Viertel Million Kinder an Unterernährung und Infektionen, während weitere hunderte Millionen in einer Vorhölle aus Hunger und sich verschlechternder Gesundheit überleben. Warum nehmen wir diese soziale Ungerechtigkeit schweigend hin? Welche Rationalisierung erlaubt es uns, nachts friedlich zu schlafen?
Die Erklärung liegt größtenteils darin, dass wir eine speziell europäische oder westliche (heute aber globale) Religion angenommen haben, eine individualistische Religion der Ökonomie und des Marktes, die all diese Folgen zum unausweichlichen Resultat eines objektiven Systems erklärt, in das zu intervenieren kontraproduktiv ist. Beschäftigung ist bloß ein Kostenfaktor beim Geschäftemachen, und die Natur nichts als eine Ressourcenquelle zum Gebrauch bei der Produktion. In dieser Rechnung hat die Welt des Business so eine fundamentale Bedeutung und ist so getrennt von der Umwelt, dass Einmischung in den Verlauf des Wirtschaftssystems eine Bedrohung der natürlichen Ordnung der Dinge darstellt, und damit für die Zukunft des menschlichen Wohlergehens. Bei dieser Denkweise ist dasjenige Ergebnis gerecht (oder zumindest unausweichlich), das sich aus dem natürlichen Wirken dieses Wirtschaftssystems und der "Weisheit des Marktes", auf der es basiert, ergibt. Die Vormachtstellung, die dieses geistige Konstrukt – eine "europäische" Religion oder ökonomische Religion – errungen hat, ist bemerkenswert; es ist zu einem Dogma mit fast universeller Geltung geworden, die vorherrschende Religion unserer Zeit, die stützt und rechtfertigt, was man für einen offenkundig ungerechten Status Quo halten sollte. Sie hat einen ungeheuren Einfluss erlangt, der die menschliche Tätigkeit heute beherrscht (Dobell: 232).
Laut Dobell basiert diese Theologie auf zwei nicht eingängigen, aber weithin akzeptierten Behauptungen: dass sie richtig und gerecht ist (weshalb "der Markt hat mich dazu gezwungen" als Verteidigung für viele moralisch fragwürdige Tätigkeiten akzeptiert wird); und dass Wert angemessen durch Preise angezeigt werden kann. Weil natürliche Rohstoffquellen nicht mit Preisen ausgezeichnet sind, gilt ihre Gewinnung etwa durch Schleppnetze oder Kahlschlag nicht nur als akzeptabel, sondern als notwendig, um wettbewerbsfähig zu sein, trotz der Tatsache, dass "inzwischen ziemlich jeder weiß, dass Marktmechanismen tiefgreifende Mängel aufweisen, weil sie nämlich unausweichlich zu Umweltschäden und der Zerstörung unersetzlicher Ökosysteme führen, wenn man sie bei den derzeitigen Methoden der Preisbestimmung und Handlungsweisen sich selbst überlässt". (237)
Die Grundannahme beider Behauptungen ist, dass solche Systeme "natürlich" sind. Wenn der Marktkapitalismus wirklich nach ökonomischen Gesetzen abläuft, die so natürlich sind, wie diejenigen der Physik oder der Chemie – wenn die Ökonomie also eine wirkliche Wissenschaft wäre -, scheinen seine Folgen unvermeidlich zu sein, ungeachtet der Tatsache, dass sie zu extremer sozialer Ungleichheit und in die Umweltkatastrophe geführt haben und weiter führen. Doch nichts an unseren wirtschaftlichen Beziehungen ist unausweichlich. Genau dieses Missverständnis muss angesprochen werden – und hier kommt auch die Religion ins Spiel, weil es scheint, dass es angesichts von Universitäten und Medien, die sich zunehmend an jene Marktkräfte prostituieren, keine andere moralische Perspektive mehr übrig ist, aus der man sie herausfordern könnte. Glücklicherweise können uns die alternativen Weltsichten, die uns die Religionen bieten, helfen, zu begreifen, dass der weltweite Sieg des Marktkapitalismus etwas anderes ist, als das einfache Erlangen wirtschaftlicher Freiheit: es ist eher die Vorherrschaft einer bestimmten Art und Weise, die Welt zu verstehen und zu bewerten, die nicht als selbstverständlich hingenommen werden muss. Weit davon entfernt, unentrinnbar zu sein, ist dieses Wirtschaftssystem eine historisch bedingte Weise, die Welt zu gestalten/umzugestalten; es ist eine Weltsicht mit einer Ontologie und einer Ethik, die mit anderen Verständnisweisen davon, was die Welt ist und wie wir darin leben sollten, konkurriert.
Was aus religiöser Perspektive an den Werten des Marktes am meisten beeindruckt, ist nicht ihre "Natürlichkeit", sondern wie außerordentlich effektiv und überzeugend ihre Bekehrungstechniken sind. Als Lehrer für Philosophie weiß ich, dass, was auch immer ich während einiger Stunden pro Woche mit meinen Studenten anstellen kann, praktisch nutzlos ist gegen die Einflüsse, die außerhalb des Unterrichts auf sie einstürmen, um sie zu bekehren - die anziehenden (oft hypnotischen) Webebotschaften im Fernsehen und Radio, in Zeitschriften und Bussen, usw., die ständig drängen "kauf mich, wenn du glücklich sein willst". Wenn uns die Unterscheidung, die wir gewöhnlich zwischen dem Profanen und dem Heiligen machen, nicht blind macht, können wir sehen, dass uns hier eine andere Art der Erlösung versprochen wird, d.h. eine andere Art der Lösung für unser Unglücklichsein. Weil das ins Herz der wahren religiösen Perspektive führt – die eine andere Erklärung für unsere Unfähigkeit, glücklich zu sein, und einen ganz anderen Weg, glücklich zu werden, anbietet – erfüllen Religionen nicht ihre Verantwortung, wenn sie diese religiösen Dimensionen des Kapitalismus ignorieren, wenn sie nicht nachdrücklich betonen, dass diese Verlockung trügerisch ist, und weil diese Lösung für unser Unglücklichsein nur zu noch größerer Unzufriedenheit führt.
Anstatt ihre Unausweichlichkeit zu demonstrieren, enthüllt die Geschichte der Wirtschaftssysteme den nicht zwangsläufigen Charakter der Marktbeziehungen, die für uns selbstverständlich sind. Obwohl wir dazu neigen, das Profitmotiv für universell und rational zu halten (die wohltätige "unsichtbare Hand" Adam Smiths), haben Anthropologen entdeckt, dass es in traditionellen Gesellschaften keine Tradition hat. Soweit wir es dort finden, spielt es eine sehr beschränkte Rolle und wird wegen seiner Tendenz, soziale Beziehungen zu zerstören, misstrauisch beäugt. Die meisten vormodernen Gesellschaften trennen nicht scharf zwischen der ökonomischen und der gesellschaftlichen Sphäre, mit dem Ergebnis, dass ökonomische Rollen Teil umfassenderer gesellschaftlicher Rollen sind. Der vorkapitalistische Mensch "ist nicht tätig, um seine individuellen Interessen durch den Besitz materieller Güter zu sichern, sondern er ist tätig, um seine gesellschaftliche Stellung, seine gesellschaftlichen Ansprüche, seine gesellschaftlichen Aktiva zu sichern. Materielle Güter sind für ihn nur insofern von Wert, wie sie diesem Ziel dienen." In der kapitalistischen Gesellschaft hingegen sind "anstatt dass die Ökonomie in gesellschaftliche Beziehungen eingebettet ist, die gesellschaftlichen Beziehungen ins ökonomische System eingebettet". (Polanyi:46,57)
Tawney entdeckte, dass es auch im Westen vor der Renaissance die gleiche Sichtweise auf die Kräfte des Markts gab: "In den Theorien des Mittelalters gibt es keinen Platz für ökonomisches Handeln, das nicht einem sittlichen Zweck dient, und eine Gesellschaftswissenschaft auf die Annahme zu gründen, das Verlangen nach wirtschaftlichem Gewinn sei eine konstante und messbare Kraft, die wie andere Naturkräfte als unvermeidliche und selbstverständliche Gegebenheit hingenommen werden müsse, wäre dem mittelalterlichen Denker kaum weniger irrational und unmoralisch vorgekommen, als das ungehemmte Wirken solch unvermeidlicher menschlicher Eigenschaften wie Streitlust und Sexualtrieb zur Grundlage einer Gesellschaftslehre zu machen" (31).
Die entscheidende Umgestaltung begann zweifellos im Spätmittelalter – nicht zufällig die Zeit, in der die vorherrschende religiöse Interpretation der Welt langsam ihre Macht über das Leben der Menschen verlor. In dem Ausmaß, in dem der Profit allmählich zum Motor des ökonomischen Prozesses wurde, entstand schrittweise die Neigung, das gesamte Gesellschaftssystem, und nicht nur das wirtschaftliche Element, umzugestalten, weil es keine natürliche Unterscheidung zwischen beidem gibt. (2) "Das Kapital hatte aufgehört, ein Diener zu sein und war zum Herren geworden. Indem es für sich eine abgetrennte und unabhängige Lebenskraft voraussetzte, beanspruchte es für sich das Recht eines überlegenen Partners, die wirtschaftliche Organisation nach seinen strengen Erfordernissen zu bestimmen" (Tawney: 86). Es ist ein weiteres Beispiel für die paradoxe Eigenschaft von Technologien: wir schaffen komplexe Systeme, um unser Leben bequemer zu machen, nur um uns als Gefangene der unerbittlichen Logik ihrer Entwicklung wiederzufinden. Das Monster in Shelleys "Frankenstein" drückt es brutaler aus: "Du bist mein Schöpfer, aber ich bin dein Herr."
Der Gelehrte, der am meisten dazu beitrug, die religiösen Wurzeln des Marktkapitalismus bloßzulegen, war Max Weber. Seine umstrittene Theorie verortet die Ursprünge des Kapitalismus nicht nur in der "diesseitigen Askese" der puritanischen Ethik, sondern legt nahe, dass der Kapitalismus in seiner psychologischen Struktur im Grunde religiös bleibt. Laut "Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" wurde durch den calvinistischen Glauben in die Vorherbestimmung verstärkt, was zu einem unwiderstehlichen Drang wurde, herauszufinden, ob man unter den Auserwählten war; eine solche Vorherbestimmung machte die Sakramente unnötig und führte zu einer Abwertung des Heiligen. An seiner Stelle wurde wirtschaftlicher Erfolg in dieser Welt als Beweis für das Wohlwollen Gottes anerkannt; dies schuf die psychologischen und gesellschaftlichen Bedingungen dafür, die asketischen Werte des Klosters in weltliche Beschäftigungen einzuführen, und man arbeitete, um sich dadurch als gerettet zu erweisen, dass man den Überschuss reinvestierte, statt ihn zu konsumieren. Allmählich verlor dieses ursprüngliche Ziel an Bedeutung, doch der innerweltliche Asketismus verschwand nicht, als Gott weiter weg rückte und der Himmel an Bedeutung verlor. In unserer modernen Welt ist die ursprüngliche Motivation verschwunden, damit aber nicht das Beschäftigtsein mit Kapital und Profit; es ist im Gegenteil zu unserer hauptsächlichen Besessenheit geworden. Weil wir, die wir an keine andere endgültige Erlösung mehr glauben, kein anderes Ziel mehr haben, erlauben wir als Ergebnis den Mitteln zum Zweck zu werden.
Der springende Punkt von Webers Aufsatz zielt darauf ab, wie die ursprüngliche Absicht hinter einer Handlung mit der Zeit zu etwas ganz anderem werden kann: "Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie…jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-materieller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller Einzelnen – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen – mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossiler Brennstoffe verglüht ist. Nur wie ‚ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte’, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die materiellen Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden"(nach Scaff: 88).
Seit Adam Smiths "unsichtbarer Hand" haben wir einen langen Weg zurückgelegt. Webers Metapher ist weniger zuversichtlich: das ursprüngliche calvinistische Berufsethos "schleicht durch unser Leben wie der Geist eines toten religiösen Glaubens", und wurde von einer rationalistischen Zivilisation, die in großem Maßstab produziert und gierig konsumiert, unterworfen, die heute auf rein mechanistischen Grundlagen beruht (nach Scaff: 89).
Webers Religionssoziologie unterscheidet eher ritualistische und legalistische Religionen, die sich der Welt anpassen, von Erlösungsreligionen, die ihr eher feindlich gegenüberstehen. Erlösungsreligionen sind wegen der Prophezeiungen und des Charismas, durch die sie motiviert sind, oft revolutionär und missionarisch, weil sie versuchen, im täglichen Leben eine neue Botschaft oder eine neue Verheißung unterzubringen. Ihre Bemühungen, das Fortbestehen der Gnade in der Welt zu gewährleisten, verlangen letztendlich eine Umordnung des Wirtschaftssystems. Weber stellte fest, dass Anhänger dieses Religionstyps gewöhnlich nicht über innere Gelassenheit verfügen, da sie von inneren Spannungen beherrscht werden.
Dieser letzte Punkt, der nicht nur die in der "Protestantischen Ethik" behandelten Puritaner beschreibt, sondern auch an unsere eigene Situation erinnert, legt nahe, dass der Marktkapitalismus als eine Art Erlösungsreligion begann und auch heute noch so verstanden werden kann: unzufrieden mit der Welt wie sie ist und dazu getrieben, ihr eine neue Verheißung zu verleihen, vom Glauben an die Gnade, die der Profit gewährt, angetrieben (und diese als Rechtfertigung benutzend), mit einem missionarischen Eifer, das Wirtschaftssystem auszudehnen und neu zu ordnen. Webers Argumente laufen darauf hinaus, dass, obwohl wir die moderne Welt für säkularisiert halten, ihre Werte nicht nur von religiösen Werten abgeleitet sind (Errettung dadurch, dass man dem Alltag eine revolutionäre neue Verheißung verleiht), sondern dass es größtenteils die gleichen Werte sind, die allerdings durch den Verlust des Bezugs auf eine jenseitige Dimension verändert wurden. Oder genauer ausgedrückt: diese Werte wurden durch die Tatsache zerstört, dass unser Antrieb, der nicht mehr jenseitig, aber immer noch auf die Zukunft gerichtet ist, unbewusst geworden ist.
Weber betonte, das asketische Berufsethos habe zwar vielleicht seine ursprüngliche Bedeutung verloren, aber das mache es nicht weniger mächtig. Unsere Art der Erlösung verlangt immer noch eine Ausrichtung auf die Zukunft. Norman Brown formulierte es so: "Wir treten unseren Gewinn nicht mehr an Gott ab; der Vorgang, einen immer weiter wachsenden Gewinn zu produzieren ist selbst zu unserem Gott geworden" (261). Im Gegensatz zur zyklischen Zeit der prämodernen Gesellschaften mit ihren jahreszeitlichen Versöhnungsritualen ist die Zeitauffassung unserer Ökonomie linear und auf die Zukunft ausgerichtet, weil sie zwar nach Versöhnung verlangt, diese aber nicht länger erreichbar ist, da sie als bewusster Antrieb verschwunden ist. Unbewusster Antrieb ist sie aber immer noch, weil wir weiterhin einem Ziel nachjagen, das beständig hinausgeschoben wird. Unsere kollektive Reaktion darauf ist das Bedürfnis nach Wachstum geworden: die niemals befriedigte Begierde nach einem immer höheren "Lebensstandard" (weil wir nie zuviel haben können, wenn wir uns erst einmal als Konsumenten definiert haben) und das Evangelium vom zunehmenden wirtschaftlichen Wachstum (weil Unternehmen und das Bruttosozialprodukt nie groß genug sein können). (4)
Die große Transformation
Engels erzählt, wie er gegenüber einem Fabrikanten in Manchester bemerkte, er habe nie eine schlechter gebaute und schmutzigere Stadt gesehen: "Der Mann hörte schweigend bis zum Schluss zu und sagte, als wir uns an einer Ecke trennten: ‚Und trotzdem kann man hier eine Menge Geld machen. Guten Morgen, Sir." (Sale: 58)
Die Entwicklung des Marktkapitalismus trat während der industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert in ein kritisches Stadium ein, als neue Technologien für eine bis dahin unerreichte Verbesserung der Produktionsmittel sorgten. Dies führte zu einer "Freisetzung" einer kritischen Masse von Land, Arbeit und Kapital, die von den meisten Menschen als so nie da gewesene Katastrophe empfunden wurde, weil sie das Gewebe der Gemeinschaft zerstörte – eine Katastrophe, die sich heute in vielen Teilen der "Entwicklungsländer" wiederholt. Karl Polanyis "The Great Transformation" (1944) ist sowohl ein Ausdruck der Empörung über die sozialen Folgen, als auch eine aufschlussreiche Erklärung der Grundlagen dieser zerstörerischen Entwicklung: der Art und Weise, wie aus der Welt ein Markt gegeneinander austauschbarer Waren gemacht wurde. Damit die Kräfte des Marktes frei und rentabel wirken konnten, musste die Natur zu Nutzland, Leben in Arbeitskraft und das Erbe der Väter in Kapital umgewandelt werden. Schon vorher hatte die Kommerzialisierung der englischen Landwirtschaft dazu geführt, dass die Allmende, früher Weideland der ganzen Gemeinschaft, privat angeeignet und eingezäunt wurde. Die Geißel der industriellen Umwandlung aller Dinge in Waren erwies sich als noch viel schlimmer. Die Erde (sowohl unsere Mutter als auch unser Heim) wurde zu einer Sache, zu einer Ansammlung von Rohstoffen, die kommerziell verwertet werden konnten. Das Leben der Menschen wurde verdinglicht zu Arbeitskraft oder Arbeitszeit, deren Wert von Angebot und Nachfrage bestimmt wurde. Das gesellschaftliche Erbe, gehütet, mühsam angesammelt und bewahrt für die Nachkommen, wurde verdinglicht zu austauschbarem Kapital, das ebenfalls ge- und verkauft werden konnte, eine Quelle des unverdienten Reichtums einer vom Glück begünstigten Minderheit und eine Quelle erdrückender Verschuldung für die anderen.
Das Zusammenspiel zwischen diesen unterschiedlichen Formen, alles zu einer Ware zu machen, führte zu einer Akkumulation von Kapital, die fast wie Zauberei wirkte, und zu einem ebenso überraschend einsetzenden Zusammenbruch des Lebens der traditionellen Gemeinschaften, als die Dorfbewohner durch diese neuen ökonomischen Kräfte von ihrem Land vertrieben wurden. "Die Arbeit von anderen Aktivitäten im Leben zu trennen und sie den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen, bedeutete die Auslöschung aller gewachsenen Formen der Existenz und ihre Ersetzung durch ein anderes Organisationsmodell, das atomistisch und individualistisch war," unterstreicht Polanyi. Solch ein System "konnte nicht auf Dauer bestehen, ohne das zu vernichten, was an der Gesellschaft wesenhaft menschlich und naturhaft ist." Das Prinzip des Laissez-faire, das besagt, die Regierung solle sich nicht in das Wirken des ökonomischen Systems einmischen, wurde recht selektiv angewandt: obwohl die Regierung gewarnt wurde, der Industrie nicht im Weg zu stehen, war man darauf angewiesen, mithilfe ihrer Gesetze und Politik die menschliche Arbeitskraft auf eine Ware zu reduzieren. Was Nichteinmischung genannt wurde, war in Wirklichkeit Einmischung, um die "nicht auf formellen Verträgen basierenden Beziehungen zwischen Individuen zu zerstören und ihre erneute Bildung zu verhindern" (163,3).
Ist es Zufall, dass die gleiche Doppelzüngigkeit bis heute anzutreffen ist? Während so genannte Konservative die Befreiung des freien Unternehmertums von der zügelnden Hand der Regierung predigen, sucht man um staatliche Hilfen für unwirtschaftliche Industriezweige (z.B. die Kernenergie) und Haftungsübernahme (z.B. bei Konkursen) nach, wie auch die internationale Politik danach ausgerichtet wird, die Welt für die multinationalen Konzerne sicher zu machen (GATT, NAFTA und der Golfkrieg). Bis vor ein-, zweihundert Jahren gab es wenig wirkliche Trennung zwischen Kirche und Staat, zwischen der geistlichen Autorität und der weltlichen Macht, und ihr behagliches Miteinander ist heute zurückgekehrt: weit davon entfernt, ein wirksames Regulativ zu sein, oder sich wenigstens neutral zu verhalten, ist die U.S.-Regierung zum mächtigsten Verfechter des Marktkapitalismus als Lebensart geworden, und sie hat ja vielleicht auch keine große Wahl, weil sie zum Strichjungen geworden ist, der auf das Abschöpfen der am Markt erzielten Profite angewiesen ist.
Von der Umwandlung von Land, Leben und überkommenem Erbe in Waren während des 18. Jahrhunderts führt eine direkte Linie zu den Ozonlöchern und der globalen Erwärmung von heute, aber diese Vorgänge haben auch zu einer weiteren Art der Umweltzerstörung geführt, die auf ihre Weise genauso problematisch ist: der Auslöschung von "moralischem Kapital", einem entsetzlichen Ausdruck, den nur Ökonomen haben prägen können, um eine zusätzliche schreckliche Wirkung der Kräfte des Marktes zu beschreiben. Wie Adam Smith in seiner "Theorie der ethischen Gefühle" betont, ist der Markt ein gefährliches System, weil er genau die von der Gemeinschaft geteilten Werte zersetzt, die er braucht, um seine Exzesse in Schranken zu halten. "So sehr er auch von Eigeninteressen angetrieben sein mag, hängt der Markt doch völlig von einer Gemeinschaft ab, die, neben anderen Tugenden, Werte wie Ehrlichkeit, Freiheit, Unternehmungsgeist, Sparsamkeit, teilt; deren Autorität wird aber nicht lange weiter bestehen, wenn man sie auf die Ebene des persönlichen Geschmacks reduziert, was ein offensichtliches Ergebnis der positivistischen, individualistischen Anschauung von Werten ist, auf der die moderne ökonomische Theorie beruht" (Daly und Cobb:50). Ein Grundwiderspruch des Marktes ist es, dass er von dem, der effektiv arbeiten will, Charakterzüge wie das Vertrauen in eine verlässliche Ordnung verlangt, seine eigenen Auswirkungen aber die Möglichkeit untergraben, dass andere auf unsere Vertrauenswürdigkeit bauen können. Dieser Widerspruch begünstigt den Zusammenbruch von Beziehungen, der in vielen Unternehmen schon weit fortgeschritten ist. Massiver Stellenabbau und der vermehrte Einsatz von Teilzeit-Beschäftigten zeigen, dass die Belange der Arbeiter für die Unternehmen eine immer geringere Rolle spielen, während an der Spitze astronomische Lohnerhöhungen (und die Möglichkeit zu lukrativen Aktiengeschäften) und andere unappetitliche Praktiken, wie Übernahmen durch das eigene Management, offen legen, dass die mit der Unternehmensführung betrauten leitenden Angestellten immer geschickter darin werden, sich persönlich zu bereichern, indem sie die Firmen ausschlachten. Zwischen 1980 und 1993 haben die fünfhundert vom Wirtschaftsmagazin Fortune gelisteten Firmen ihre Gewinne um das 2,3fache erhöht, während sie 4,4 Millionen Arbeitsplätze vernichtet haben und die Vorstandsgehälter sich mehr als versechsfacht haben. So erhält der durchschnittliche Geschäftsführer oder Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens heute mehr als 3,7 Mio.$ pro Jahr als Vergütung (Korten:218).
Daran erweist sich, dass der Markt kein "moralisches Kapital" vermehrt, sondern Raubbau daran betreibt und sich deshalb darauf verlassen muss, dass die Gemeinschaft für die Regeneration sorgt, genau so, wie er darauf bauen muss, dass die Biosphäre das Kapital an natürlichen Ressourcen erneuert. Es ist keine Überraschung, dass die langfristigen Folgen sich ähneln: ebenso, wie der Punkt erreicht ist, an dem die Fähigkeit der Biosphäre, sich zu erholen, geschädigt ist, ist auch unser moralisches Kapital so verbraucht, dass die Fähigkeit unserer Gemeinschaften (oder besser: unsere Ansammlungen von atomisierten Individuen, die alle an die Spitze streben) abnimmt, für seine Erholung zu sorgen, und wir sehen um uns die erschreckenden sozialen Folgen. Eine Konsequenz ist es auch, dass jetzt den wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen, die geschaffen wurden, um die Fehler des Kapitalismus zu korrigieren, die Schuld an diesen Fehlern gegeben wird. Aber die sozialen Zersetzungserscheinungen, unter denen so viele "entwickelte" Gesellschaften leiden, sind nicht etwas, das durch die gründlichere Anwendung der Werte des Marktes zu beheben ist (indem man etwa Sozialhilfeempfänger zu Arbeit verpflichtet, die der Gesellschaft zugute kommen soll), sondern gerade die Folgen dieser Werte. Die anhaltende Zerstörung der Biosphäre, des Werts menschlichen Lebens und des Erbes, das wir an zukünftige Generationen weitergeben sollten durch den Prozess, alles in Waren zu verwandeln, sorgt auch weiterhin für die Zerstörung der Gemeinschaften vor Ort, die das moralische Rückgrat ihrer Mitglieder bildet. Die Entwertung der Erde und die Entwertung unserer gesellschaftlichen Einrichtungen müssen beide als Ergebnis des gleichen Prozesses gesehen werden, bei dem der Markt alles zur Ware macht und sein Wirken damit rechtfertigt, dass es natürlich und unvermeidbar sei.
Der wachsende Substanzverlust des "moralischen Kapitals" erinnert uns eindringlich daran, dass eine Gemeinschaft mehr ist, als die Summe seiner Teile, dass das Wohlbefinden des Ganzen notwendig für das Wohlbefinden seiner Glieder ist. Das ist allerdings etwas, das sich nicht in die Gleichungen der heutigen ökonomischen Theorie einfügt. Warum nicht? Die Antwort führt uns zurück zu den Ursprüngen ökonomischen Denkens im achtzehnten Jahrhundert, Ursprünge, die in der damals vorherrschenden individualistischen Philosophie des Utilitarismus verankert sind. Die Philosophie hat sich seitdem beträchtlich weiter-entwickelt, aber die ökonomische Theorie bleibt diesen utilitaristischen Werten weiterhin verhaftet und ist sich dieser Erbschaft auch gar nicht bewusst. (5) Dem Utilitarismus zufolge besteht die Gesellschaft aus voneinander getrennten Einzelindividuen, die alle persönliche Zwecke verfolgen. Menschliche Werte werden nur soweit ins Kalkül gezogen, als sie dienlich sind, Freuden (die man nicht weiter nach ihrer Qualität unterscheidet) zu maximieren und Unbehagen zu minimieren. Rationalität wird definiert als intelligentes Verfolgen persönlicher Vorteile. So wie Adam Smith es verstand, "haben Individuen unterschiedliche Möglichkeiten, miteinander in Beziehung zu treten, entweder auf der Grundlage von Wohlwollen oder von Eigenliebe, aber diese oder andere Beziehungen machen sie nicht aus. Sie sind grundlegend getrennt voneinander, und diese Trennung ist die Grundlage, auf der sie sich aufeinander beziehen. Für ihre eigene Identität sind die Beziehungen etwas rein äußerliches" (Daly und Cobb:160). Weil das Fach Ökonomie eine Vorrangstellung unter den Sozialwissenschaften eingenommen zu haben scheint (es gibt keinen Nobelpreis für Soziologie oder Politikwissenschaft oder gar für Philosophie oder Religion), hat sich dieses Menschenbild durchgesetzt, während gleichzeitig seine Grundannahmen von der heutigen Philosophie, der Psychologie und der Soziologie gründlich angezweifelt werden – von der Religion ganz abgesehen, die schon immer ein ganz anderes Verständnis davon hatte, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Nichtsdestoweniger "wird die Gesellschaft mehr zu der Ansammlung von Einzelindividuen, als die sie die ökonomische Theorie beschreibt", indem die Werte des Marktes zu einer Verschlechterung der Qualität unserer sozialen Beziehungen führen. "Das ‚positive’ Modell beginnt, als Norm zu fungieren, an welche die Realität durch genau die Taktiken angepasst wird, die aus diesem Modell abgeleitet sind" (Daly und Cobb:162).
In Anbetracht des Einflusses, den neomalthusianisches Denken heute in Fragen der Bevölkerungspolitik hat, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, das Malthus in dieser Tradition steht. Sein "Essay on the Principle of Population" (1798) trat für ein eisernes Lohngesetz ein: ein Lohn, der gerade das Überleben sichert, ist gerecht, weil höhere Löhne nur zu schnellem Bevölkerungswachstum führen, bis dieses Wachstum durch Armut gebremst wird. Daraus folgt, dass Armut kein Produkt menschlicher Institutionen ist, sondern für die meisten Menschen der naturgegebene Lebenszustand. Der Einfluss dieser Denkweise war umgekehrt proportional zu den dafür erbrachten (oder eher nicht erbrachten) empirischen Beweisen, denn aus der weltweiten Bevölkerungsentwicklung konnte man kaum solche Schlüsse ziehen. Das rasche Bevölkerungswachstum im England des 19. Jahrhunderts, das auftrat, nachdem viele Menschen von ihrem Land vertrieben und zur Fabrikarbeit gezwungen worden waren, stützt den gegenteiligen Schluss, dass nämlich Menschen nicht arm sind, weil sie große Familien haben, sondern dass sie große Familien brauchen, weil sie arm sind (es bestand eine große Nachfrage nach Kinderarbeit). Vom moralischen Standpunkt aus neigt der Malthusianismus dazu, die Frage zu verdecken, wer eigentlich die Ressourcen der Erde verbraucht. Von seiner Theorie her gesehen isolieren seine Hauptannahmen – dass nämlich die Bevölkerung geometrisch wächst, der Bestand an Nahrungsmitteln aber arithmetisch – willkürlich die Auswirkungen zweier Variablen aus der Vielfalt historischer Faktoren, während er die vielleicht wichtigsten Variablen als unveränderlich ansieht: die "Natürlichkeit" eines unbeschränkten Marktes und den damit korrespondierenden Menschentyp – das wettbewerbsorientierte, egoistische, "rationale" Individuum, von dem die neoklassische Ökonomie immer noch ausgeht. (6)
Wie die ganze moderne Philosophie des Westens, war der Utilitarismus, den Smith und Malthus als selbstverständlich hinnahmen, dem Denken Rene Descartes verpflichtet. Sein metaphysischer Dualismus trennte die menschliche Absicht von allen anderen existierenden Dingen, mit dem Ergebnis, dass sie zu reinen Mitteln für die Zwecke des Menschen entwertet wurden. Trotzdem sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts zu einem guten Teil mit der Kritik des cartesianischen Subjekt-Objekt-Dualismus beschäftigt, setzt die zeitgenössische ökonomische Theorie immer noch solch eine subjektivistische Theorie des Werts voraus, die den Wert nur als etwas wahrnehmen kann, das menschliche Wünsche zu befriedigen hat.
Unsere Menschlichkeit reduziert auf eine Quelle der Arbeitskraft und auf unersättliches Verlangen, während sich unsere Gemeinschaften auflösen in Ansammlungen von Einzelindividuen im Wettstreit um das Erreichen persönlicher Ziele…die Erde und all ihre Kreaturen zu Waren in einem Ressourcenpool geworden, den man ausplündern kann, um dieses Verlangen zu befriedigen…lässt dieser radikale Dualismus überhaupt noch Platz für das Heilige? Für Staunen und Ehrfurcht vor den Geheimnissen der Schöpfung? Ob wir an Gott glauben oder nicht, glauben wir trotzdem vielleicht, dass uns etwas fehlt. Hier werden wir an die entscheidende Rolle erinnert, die Religionen spielen können: dieses geschrumpfte Verständnis davon, was die Welt ist und wie unser Leben sein könnte, grundsätzlich in Frage zu stellen.
Der unaufhörliche Hunger… Sind wir schon glücklich?
Heute ist es nicht das Proletariat, durch dessen Bewusstseinswandel die Welt befreit würde, sondern der Konsument. (Miller:19)
Aus religiöser Perspektive ist das Problem mit dem Marktkapitalismus ein zweifaches: Gier und Verblendung. Einerseits verstärkt der Markt und braucht sogar die Gier auf mindestens zwei Arten. Verlangen nach Profit ist notwendig, um den Motor des Wirtschaftssystems anzutreiben, und ein unersättliches Verlangen, immer mehr zu konsumieren muss erzeugt werden, um Märkte für dass zu schaffen, was produziert werden kann. Innerhalb der ökonomischen Theorie und immer mehr auch im durch sie befürworteten Markt, ist kein Platz mehr für die moralischen Dimensionen der Gier; heute scheint es der Religion überlassen geblieben zu sein, eine Idee davon zu bewahren, was an einem menschlichen Charakterzug problematisch ist, der bestenfalls unappetitlich und im schlimmsten Fall eindeutig böse ist. Religiöses Verständnis der Welt hat Gier in der Regel als etwas bis zu einem gewissen Grad natürliches angesehen, sah aber, statt ihr mehr Freiheit zu verschaffen, eher die Notwendigkeit, sie zu kontrollieren. Das spirituelle Problem mit der Gier – sowohl der Gier nach Profit, als auch der Gier nach Konsum – bezieht sich nicht nur auf die daraus folgende ungerechte Verteilung weltlicher Güter (obwohl eine gerechtere Verteilung natürlich dringend erforderlich ist) oder ihre Auswirkungen auf die Biosphäre, sondern noch grundlegender darauf, dass Gier auf Verblendung basiert: der Verblendung, auf diese Weise könne man Glück finden. Der Versuch, durch Profit, oder dadurch, dass man Konsum zum Sinn des Lebens macht, Erfüllung zu finden, läuft auf Götzendienst hinaus, d.h. auf eine dämonische Perversion wahrer Religion; und jede religiöse Institution, die ihren Frieden mit der Vormacht solcher Werte des Marktes macht, verdient nicht den Namen der wahren Religion.
Gier ist, in anderen Worten, Teil eines schadhaften Wertesystems (der Art und Weise, in der Welt zu leben) und basiert auf einem fehlerhaften Glaubenssystem (was die Welt ist). Der extreme Subjektivismus des Cartesianismus und der atomistische Individualismus des Utilitarismus, die solche Gier "natürlich machen" müssen herausgefordert und widerlegt werden – nicht nur intellektuell, sondern vor allem mit der Art, wie wir unsere Leben leben. Die große Sensibilität für soziale Gerechtigkeit in den semitischen Religionen (wo Sünde ein moralisches Versagen des Willens ist) muss ergänzt werden durch die Betonung, die die asiatischen Erleuchtungsreligionen auf das Durch-Schauen und Auflösen der Verblendung (Unwissenheit als Unfähigkeit, zu verstehen). Ich fürchte auch, dass ersteres ohne das letztere in unserem zynischen Zeitalter wirkungslos bleiben wird. Es ist unwahrscheinlich, dass wir jemals das Problem der sozialen Gerechtigkeit bei der Verteilung lösen, ohne dass wir die trügerische Ansicht überwinden, individualistische Akkumulation und Konsum machten uns glücklich, schon alleine deshalb, weil diejenigen, welche die weltweiten Ressourcen kontrollieren, die Dinge in eine Richtung, die sie für vorteilhaft halten, beeinflussen können; und solche Eliten durch gewaltsame Revolutionen zu stürzen, hat, wie das 20. Jahrhundert zeigte, nur dazu geführt, sie durch andere zu ersetzen.
Folgt man dem französischen Historiker Fernand Braudel, dann war die industrielle Revolution "letztendlich eine Revolution der Nachfrage" – oder genauer: "eine Transformation des Verlangens" (183) Weil wir inzwischen unser eigenes unersättliches Verlangen als "natürlich" ansehen, ist es notwendig, sich daran zu erinnern, wie sehr die heutige Erscheinungsform unseres Verlangens auch ein bestimmtes, historisch bedingtes Wertesystem ist – Angewohnheiten, die ebenso gemacht sind, wie die Güter, die zu ihrer Befriedigung dienen sollen.
Laut der Fachzeitschrift "Advertising Age", die es wissen sollte, wurde in den USA 1994 147 Mrd.$ für Werbung ausgegeben – weit mehr, als für die gesamte weiterführende Bildung ausgegeben wurde. Anders ausgedrückt: eine Flut aus 21.000 Fernsehwerbespots, einer Million Seiten Zeitungsanzeigen, 14 Milliarden Versandkataloge, 38 Milliarden Postwurfsendungen und einer weiteren Milliarde Reklameschilder, Plakate und Werbeflächen. Darin nicht enthalten sind weitere 100 Mrd.$ jährlich für mehrere verwandte Unternehmenszweige, die sich mit dem Geschmack und dem Kaufverhalten der Konsumenten befassen, also Verkaufsförderung, Public Relations, Vermarktung, Design und vor allem Mode (nicht nur Kleidung) (Durning:122). Zusammengenommen ist das wahrscheinlich der größte Versuch geistiger Beeinflussung in der Geschichte der Menschheit – alles nur zu dem Zweck, die Bedürfnisse der Konsumenten zu definieren und zu schaffen. Kein Wunder, dass ein Kind in den entwickelten Ländern die Umwelt dreißig Mal stärker belastet, als ein Kind in der Dritten Welt.
Wenn der Markt einfach nur die effektivste Weise ist, unsere ökonomischen Bedürfnisse zu befriedigen, warum brauchen wir dann solch gewaltige Industriezweige? Die ökonomische Theorie, genau wie der Markt selbst, unterscheidet nicht zwischen echten Bedürfnissen und noch so zweifelhaftem, künstlich erzeugtem Verlangen. Beiden wird normative Gültigkeit zugesprochen. Es ist nicht von Bedeutung, warum jemand etwas will. Die Folgen dieser Haltung sind aber bedeutend für die Zukunft. Der Zusammenhang zwischen der raschen Zerstörung unserer Ökosysteme während des letzten halben Jahrhunderts und dem Konsumverhalten, das wir inzwischen für natürlich halten, ist ernüchternd: dem Worldwatch Institute zufolge haben die Menschen, die zwischen 1950 und 1990 lebten, mehr Güter und Dienstleistungen verbraucht (…), als alle vorangegangenen Generationen in der Geschichte der Menschheit zusammen (Durning:38).
Wenn das noch nicht erschreckend genug ist, braucht man nur die sozialen Folgen, die sich daraus ergaben, dass unsere Werte jetzt über den Konsum definiert werden, zu berücksich-tigen, was – zumindest in den USA – die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, völlig umgestaltet hat. "Mit dem Zusammenbruch der Gemeinschaft auf allen Ebenen ist der Mensch der üblichen Beschreibung des Homo Öconomicus ähnlicher geworden. Einkaufen ist zum vorrangigen nationalen Zeitvertreib geworden…Aufgrund massiver Anleihen und dem massiven Ausverkauf nationaler Vermögenswerte haben die Amerikaner ihr Erbe verschleudert und ihre Kinder arm gemacht" (Daly und Cobb:373)…Unser außerordentlicher Reichtum war uns nicht genug, und so haben wir ihn erhöht, indem wir einen außerordent-lichen Schuldenberg angehäuft haben. Wie erfindungsreich war es doch, ein Wirtschaftssys- tem zu ersinnen, das es uns erlaubt, vom zukünftigen Vermögen unserer Nachkommen zu stehlen! Die Errichtung unserer Warenwelt hat uns etwas für unmöglich gehaltenes ermöglicht: Zeitreisen. Wir können jetzt die Zukunft kolonisieren und ausplündern.
Für denjenigen, der mit dem damit bei 59 Millionen Amerikanern ausgelösten Suchtverhalten vertraut ist, kommt die entscheidende Ironie dieser fast vollständigen Unterwerfung der Welt unter Ware und Markt nicht überraschend (Dominguez und Robin:171). Vergleiche über einen gewissen Zeitraum und zwischen verschiedenen Gesellschaften ergaben, dass die Auswirkungen darauf, als wie glücklich man sich selbst einschätzt, gering sind. Die Tatsache, dass wir in der entwickelten Welt jetzt so viel mehr konsumieren, scheint wenig Auswirkungen darauf zu haben, wie glücklich wir sind.
Das ist kaum überraschend für diejenigen mit einer eher religiösen Ausrichtung auf die Welt. Die beste Kritik an dieser Gier nach Konsum kommt nach wie vor von den traditionellen religiösen Lehren, die uns nicht nur Halt bieten, sondern auch zeigen, wie unser Leben verwandelt werden kann. Im Buddhismus, um ein Beispiel aus meiner eigenen Religion zu bringen, ist das unersättliche Verlangen des auf sich fixierten Selbst die Quelle der Frustration und des Mangels an Frieden in unserem Alltag. Zuviel an Konsum, der uns ablenkt und vergiftet, ist eines der hauptsächlichen Symptome dieses Problems. Unglücklicherweise lindert dieses zwanghafte Verhalten unsere Angst nicht, sondern verstärkt sie. Die Antwort des Buddhismus heißt Verzicht und Freigebigkeit. Shunryu Suzuki Roshi drückte es folgendermaßen aus: Verzicht bedeutet nicht, die Dinge dieser Welt aufzugeben, sondern zu akzeptieren, dass sie vergänglich sind. Einzusehen und zu akzeptieren, dass alles vergänglich ist – wir selbst eingeschlossen - , ist notwendig für ein Leben in Gelassenheit. Nur jemand, dessen Identität nicht gefesselt ist an Erwerb und Konsum, kann auf die Dinge der Welt auch verzichten. Das Kennzeichen des Verzichts ist Freigebigkeit, die im Buddhismus und in allen bedeutenden Religionen tiefe Wertschätzung genießt. (7) Wahre Freigebigkeit ist nicht nur ein Zeichen moralischer Entwicklung, sondern auch von Einsicht: "Wenn die Notwendigkeit, uns zu definieren und darzustellen schwindet, schwindet auch unsere Besitzgier und unsere Gewinnsucht. Schließlich sehen wir vielleicht sogar ein, das unser Erleben der Besitzgier selbst auf einer Täuschung beruht. Etwas gehört mir nur dann, wenn es nicht dir gehört. Wenn wir aber einsehen, dass es kein Ich gibt, das von einem Du getrennt werden kann, und genauso wenig ein Wir, das getrennt von den anderen Erscheinungsformen der Welt existiert, beginnt die Vorstellung von Besitz ihre Bedeutung zu verlieren. Im Grunde gibt es keinen Mangel, der durch Besitzenwollen behoben werden könnte" (Jeffrey:12). Konsumismus ignoriert nicht nur die große Freude, anderen zu geben, er verhindert auch, mit unserem ganzen Wesen die Nichtdualität von "Mir" und "den anderen" zu erkennen. Diese Erkenntnis führt zur uns verwandelnden Einsicht, dass es unnötig ist, besitzen zu wollen, wo uns eigentlich gar nichts fehlt.
Andere Religionen drücken die Bedeutung der Freigebigkeit auf andere Weise aus, aber ich glaube, dass ihre unterschiedlichen Wege auf eine ähnliche Verwirklichung unserer Verbundenheit hinauslaufen. Die Fronten sind klar, wenn wir diesem Ansatz gegenüberstellen, wie der Markt uns indoktriniert, um uns von der Wichtigkeit von Kaufen und Konsumieren zu überzeugen – eine Indoktrination, die notwendig ist, damit der Markt wachsen und gedeihen kann.(…)
Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass der Markt nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern eine Religion ist – und keine sehr gute, weil sie nur gedeihen kann, indem sie eine säkulare Form der Erlösung verspricht, dieses Versprechen aber nicht einhalten kann. Als akademische Fachrichtung, der "Sozialwissenschaft" Ökonomie, versteht man unter ihr besser eine Theologie, die behauptet, Wissenschaft zu sein.
Das bedeutet, dass jede Lösung der so geschaffenen Probleme auch eine religiöse Dimension haben muss. Das bedeutet nicht, uns von weltlichen Werten ab- und religiösen Werten zuzuwenden, sondern, dass es notwendig ist, zu erkennen, wie unsere säkularen Obsessionen zu Symptomen eines spirituellen Mangels geworden sind, der durch sie nicht befriedigt werden kann. Dadurch, dass wir uns bewusst oder unbewusst von einem religiösen Verständnis der Welt abgewandt haben, verfolgen wir jetzt weltliche Ziele mit religiösem Eifer, der umso größer ist, umso weniger sie erreicht werden können. (8) Die Lösungen für die Umweltkatastrophe, die schon begonnen hat, und für den gesellschaftlichen Verfall, unter dem wir schon leiden, wird sich daraus ergeben, dass wir dieses unterdrückte spirituelle Verlangen wieder auf den richtigen Pfad bringen. Einstweilen gehört dazu der Kampf gegen die falsche Religion unseres Zeitalters.
Journal of the American Academy of Religion, Vol. 65, Nr. 2, Sommer 1997
David Loy ist Professor an der Fakultät für Internationale Studien an der Bunkyo University, Chigasaki, Japan
Anmerkungen:
- Dieser Aufsatz verdankt der Arbeit von Daly und Cobb (1994) viel, die eine detaillierte Kritik der modernen ökonomischen Theorie bietet und zeigt, wie unsere gesellschaftlichen und ökologischen Probleme gelöst werden können, wenn wir es nur wollen.
- Das impliziert, dass eine Alternative zur Religion des Marktes nicht den Markt beseitigen muss (und das Scheitern des Sozialismus im 20. Jahrhundert legt nahe, dass er nicht beseitigt werden sollte), sondern den Kräfte des Marktes wieder ihren begrenzten Platz innerhalb der sozialen Beziehungen der Gemeinschaft zuweist.
- Ich bin nicht in der Lage, die gelehrte Debatte, die Webers These ausgelöst hat, zu bewerten; für eine frühe Übersicht vgl. Eisenstadt (1968), vor allem 67-86
- Weil jeder Gott einen Teufel braucht und jede Religion eine Theorie des Bösen, finden die Anhänger der Religion des Marktes das Böse darin, was das ständige Wachstum der Gewinne bedroht: vor allem Steuern, Inflation und von der Regierung auferlegte Beschränkungen, z.B. Handelsbeschränkungen.
- "Die Wirtschaftwissenschaft entsprang dem Kopf von Adam Smith mindestens schon zur Hälfte ausgebildet, und man kann ihn durchaus als Begründer der Wirtschaftswissenschaft als einheitliches, abstraktes Fachgebiet ansehen, das noch immer, fast ohne es zu wissen, die Luft des Rationalismus und des Deismus des 18. Jahrhunderts atmet."(Boulding: 187)
- Für eine prägnante Kritik des Malthusianismus siehe Rao (1994)
- Freigebigkeit (Sanskrit: dana) gilt im Mahayana-Buddhismus als erste und wichtigste der Paramitas ("transzendenter Tugenden"), weil sie alle anderen einschließt.
- Das wird weiter diskutiert in Loy (1996)
Literatur:
Boulding, Kenneth E.
1968 Beyond Economics. Ann Arbor: University of Michigan Press.
Braudel, Fernand
1982 The Wheels of Commerce. Trans. by Sian Reynolds. New York: Harper and Row.
Brown, Norman O.
1961 Life Against Death: The Psychoanalytic Meaning of History. New York: Vintage.
Daly, Herman E., and Cobb, Jr., John B.
1994 For the Common Good. 2d edition. Boston: Beacon Press.
Dobell, A. Rodney
1995 "Environmental Degradation and the Religion of the Market." In Population, Consumption, and the Environment, [pages]. Ed. by Harold Coward. Albany: State University of New York Press.
Dominguez, Joe, and Robin, Vicki
1993 Your Money Or Your Life. Harmonsworth: Penguin.
Durning, Alan
1992 How Much is Enough. New York: Norton.
Eisenstadt, S. N., ed.
1968 The Protestant Ethic and Modernization: A Comparative View. New York: Basic Books.
Jeffrey, Meg
1995 "Consumerism in the Monastery." Turning Wheel Summer 1995: 11-13.
Korten, David
1995 When Corporations Rule the World. West Hartford, CT: Kumarian Press
Loy, David
1996 Lack and Transcendence: The Problem of Death and Life in Psychotherapy, Existentialism, and Buddhism. Atlantic-Highlands, NJ: Humanities Press.
Miller, Daniel
1995 "Consumption as the Vanguard of History" In Acknowledging Consumption: A Review of New Studies, 1 - 57. London: Routledge.
Polanyi, Karl
1957 The Great Transformation. Boston: Beacon.
Rao, Mohan
1994 "An Imagined Reality: Malthusianism, Neo-Malthusianism and Population Myth." In Economic and Political Weekly January 29, 1994: 40 - 52.
Sale, Kirkpatrick
1995 Rebels Against the Future: the Luddites and their War on the Industrial Revolution. Reading, Massachusetts: Addison-Wellesley.
Scaff, Lawrence
1989 Fleeing the Iron Cage: Culture, Politics, and Modernity in the Thought of Max Weber. Berkeley: University of California Press.
Tawney, R. H.
1926 Religion and the Rise of Capitalism. New York: Harcourt, Brace.
Copyright © by BuddhaNetz [Stand: Juli 2005]
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