Ein neuer "Heiliger Krieg gegen das Böse"?
Eine buddhistische Antwort von David Loy
Der Zen-Buddhist David Loy ist einer der profiliertesten buddhistischen Denker aus den USA und Autor zahlreicher Bücher. Er lebt seit vielen Jahren in Japan und ist dort Dozent an einer Universität.
Wie die meisten Amerikaner hatte ich Probleme, die Ereignisse der letzten Woche zu verdauen. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis ich imstande war zu erkennen, wie psychisch betäubt viele von uns sind. In wenigen Stunden ist unsere Welt eine andere geworden. Wir wissen noch nicht was diese Änderungen im Einzelnen mit sich bringen werden, aber die wichtigsten Langzeitwirkungen könnten die psychologischen sein.
Die Amerikaner haben die USA immer verstanden als einen besonderen und einmalig privilegierten Ort. Die Puritaner sahen in New England das Verheißene Land. Nach Melville sind "wir Amerikaner das einzigartige, das auserwählte Volk". In vielen Teilen der Welt war das zwanzigste Jahrhundert von besonderen Schrecken begleitet, aber die USA waren so abgeschottet von diesen Tragödien, dass wir zu der Meinung kamen, dagegen immun zu sein - obwohl wir nicht selten zu ihnen beigetragen haben. Diese Zuversicht ist jetzt ganz plötzlich zusammengebrochen. Wir mussten entdecken, dass es in der Welt der grenzenlosen Globalisierung für uns keine Zuflucht gibt vor Hass und Gewalt, die in vielen Teilen der Welt dominieren.
Jeder Tod weckt in uns den Gedanken an unseren eigenen; und plötzlicher, unerwarteter Tod in einem so großen Maßstab macht es noch schwieriger, das Bewusstsein unserer eigenen Sterblichkeit zu unterdrücken. Unsere Besessenheit von Dingen wie Geld, Konsum, Leistungssport ist demaskiert worden als das was sie ist: der Beachtung nicht wert, die wir ihnen zuwenden. Es gibt hier etwas Wertvolles zu lernen - aber diese Wahrheit ist uns unbehaglich. Wir wollen nicht an den Tod denken, wir ziehen es üblicherweise vor, abgelenkt zu werden.
Sprüche von Vergeltung und "in die Steinzeit zurückbomben" sind vielen von uns suspekt, aber wir haben von Natur aus ein Bedürfnis zurückzuschlagen. Am Freitag hat Präsident Bush erklärt, dass die USA aufgerufen sind zu einer weltweiten Mission "die Welt vom Bösen zu befreien", und am Sonntag sagte er, die Regierung sei entschlossen "die Welt von Übeltätern zu befreien". Unser Land der Freiheit hat jetzt eine Verantwortung, das Böse in der Welt auszurotten. Wir haben nicht länger ein "Reich des Bösen" zu besiegen, aber wir haben ein noch heilloseres Böses entdeckt, das zu zerstören einen langfristigen totalen Krieg notwendig machen wird.
Wenn irgendetwas böse ist, dann waren diese terroristischen Angriffe böse. Ich teile diese Ansicht, aber ich glaube es wäre nötig, das verwendete Vokabular ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Wenn Präsident Bush sagt, er wolle die Welt vom Bösen befreien, dann schrillen in meinem Kopf die Alarmglocken, denn genau das ist es, was Hitler und Stalin ebenfalls vorhatten.
Ich will keinen von diesen Übeltätern verteidigen, sondern ihre Absichten erklären. Wie hat das Problem mit den Juden ausgesehen, das eine "Endlösung" erforderlich machte? Die Erde konnte für die "arische Rasse" nur gereinigt werden, indem man die Juden, die "unreinen Schädlinge", auslöschte. Stalin musste die Kulaken beseitigen, um seine ideale Gesellschaft von Kollektivbauern zu verwirklichen. Beide versuchten, diese Welt zu vervollkommnen, indem sie ihre Unreinheiten entfernten. Die Welt kann nur gut gemacht werden, indem man ihre schlechten Elemente zerstört. Doch paradoxerweise war einer der Hauptgründe für das Böse in dieser Welt immer der menschliche Versuch, das Böse auszurotten.
Die 'Washington Post' zitierte am Freitag Joshua Teitelbaum, der sich mit einem eher zeitgenössischen Übeltäter beschäftigt hat: "Osama bin Laden sieht die Welt ganz in nackten Schwarz-Weiß-Kontrasten. Für ihn repräsentieren die USA die Kräfte des Bösen, die Korruption und Despotismus über die islamische Welt bringen."
Was ist der Unterschied zwischen bin Laden's Ansicht und der von Bush? Sie sind Spiegelbilder. Was bin Laden als gut ansieht - einen Heiligen Krieg gegen einen gottlosen und materialistischen Westen - sieht Bush als böse. Was Bush als gut ansieht - Amerika als Verteidiger der Freiheit - sieht bin Laden als böse. Sie sind zwei entgegengesetzte Versionen des gleichen 'Heiligen Krieges zwischen Gut und Böse'.
Verstehen Sie mich hier bitte nicht falsch - ich will sie nicht moralisch gleichsetzen, ich will in keiner Weise die Schreckensbilder von letztem Dienstag entschuldigen. Nur - unter buddhistischen Perspektive gibt es eine gefährliche Täuschung in den spiegelbildlichen Ansichten beider Seiten. Wir müssen verstehen, wie dieses Schwarzweißdenken nicht nur die islamischen Terroristen verblendet, sondern auch uns selbst, und so das Leid in der Welt vermehrt.
Dieser Dualismus von 'Gut gegen Böse' ist verlockend, weil er eine einfache Weltsicht bietet, und er ist vielen von uns sehr vertraut. Er ist zwar nicht auf die abrahamitischen Religionen beschränkt, Judentum, Christentum und Islam, aber er ist ihnen besonders zentral. Das ist einer der Gründe, warum es immer so schwierig war, Konflikte unter ihnen friedlich zu bereinigen: ihre Anhänger tendieren dazu, ihre eigene Religion mit dem Guten zu identifizieren und die anderen als die Bösen zu sehen. (Historisch scheint dieser Dualismus auf den Zarathustra-Glauben zurückzugehen, der die Welt als Schlachtfeld eines kosmischen Krieges zwischen Gut und Böse sah, und einen apokalyptischen Sieg für die Kräfte des Guten am Ende der Zeiten annahm. Die Juden haben diese Idee vermutlich während der babylonischen Gefangenschaft aufgegriffen, und sowohl das Christentum als auch der Islam haben diesen Dualismus von ihnen übernommen.)
Es ist schwierig die andere Wange hinzuhalten, wenn wir die Welt durch diese Brille betrachten, denn sie rationalisiert das entgegengesetzte Prinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wenn die Welt ein Schlachtfeld zwischen guten und bösen Kräften ist, dann muss das Böse mit allen zur Verfügung stehenden Mittel bekämpft werden. Die Säkularisierung der modernen westlichen Welt hat dieser Tendenz nicht Einhalt geboten, sie hat sie in mancher Hinsicht sogar intensiviert, da wir ja nicht mehr auf einen übernatürlichen deus ex machina warten. Wir müssen uns auf uns selbst verlassen, um den endgültigen Sieg des Guten herbeizuführen - so wie es Hitler und Stalin taten. Es ist unklar, inwieweit bin Laden und Bush Hilfe von Gott erwarten.
Warum betone ich diesen Dualismus? Das grundlegende Problem mit dieser Art von Konfliktverständnis ist, dass sie das Denken ausschließt, weil sie so simplistisch ist. Sie hält uns davon ab, tiefer hineinzusehen, davon, Gründe entdecken zu wollen. Sobald etwas als böse identifiziert ist, gibt es keine Notwendigkeit mehr es zu erklären; dann ist es Zeit, sich auf den Kampf dagegen zu konzentrieren. Hier hat der Buddhismus etwas Wichtiges beizutragen.
Der Buddhismus sieht drei Wurzeln des Übels, bekannt als die Drei Gifte: Gier, Hass und Wahn. Die abrahamitischen Religionen betonen den Kampf zwischen Gut und Böse, weil für sie das Grundproblem in unserem Willen liegt: auf welche Seite stellen wir uns? Im Kontrast dazu betont der Buddhismus Unwissenheit und Erleuchtung, weil das Grundproblem hier in unserer Selbsterkenntnis liegt: verstehen wir wirklich unsere eigenen Motive? Nach dem Buddhismus liegt jedes Geschehen eingebettet in ein Netz von Gründen und Bedingungen - das Gesetz des Karma. Eine Möglichkeit, die zentrale Lehre des Buddhismus zusammenzufassen ist, dass wir leiden und andere leiden machen durch Gier, Hass und Wahn. Karma impliziert, dass, wenn unsere Handlungen gesteuert werden von diesen Wurzeln des Bösen, ihre negativen Folgen dazu tendieren, auf uns zurückzufallen.
Der buddhistische Lösungsansatz zum Leiden schließt ein, unsere Gier zu Großzügigkeit zu wandeln, unseren Hass zu liebender Güte, und unseren Wahn zu Weisheit.
Wohin bringen uns diese buddhistischen Lehren in der Situation, in der wir uns jetzt konkret finden? Folgendes ist dem heutigen Statement der Buddhist Peace Fellowship entnommen:
"Die Nationen leugnen die Kausalität, indem sie andere schlecht machen als 'Terroristen', 'Schurkenstaaten' u. ä. Indem wir einen Feind aus dem Hintergrund herauslösen, schließen wir die Selbstprüfung kurz, die nötig wäre um unsere eigene karmische Verantwortlichkeit zu sehen für die schrecklichen Dinge, die uns zugestoßen sind... Solange bis wir Gründe sehen, Verantwortung auf uns zu nehmen für (in diesem Fall) den Mittleren Osten, wird die Gewalt der letzten Woche für uns nicht mehr Sinn machen als ein Erdbeben oder ein Wirbelsturm, außer dass es uns durch ihren menschlichen Ursprung zu Wut und Rache verleitet."
Wir dürfen uns nicht konzentrieren auf die zweite Wurzel des Übels, den Hass und die Gewalt, die jetzt gegen die Vereinigten Staaten gerichtet worden sind. Die drei Wurzeln sind miteinander verflochten. Hass kann nicht getrennt werden von Gier und Wahn. Das verlangt von uns die Frage: Warum hassen uns so viele Leute, besonders im Mittleren Osten, so sehr? Was haben wir getan um diesen Hass zu verstärken? Amerikaner sehen Amerika als Verteidiger von Freiheit und Gerechtigkeit, aber ganz offensichtlich sehen sie uns anders. Sind denn nur sie falsch informiert, oder sind wir es, die falsch informiert sind?
"Glaubt denn wirklich jemand, dass wir die USS New Jersey losschicken können, um Volkswagen-große Granaten in Libanesische Dörfer zu schleudern - Reagan, 1983 - oder 'smart bombs' auf Zivilisten zu lenken, die in einem Bunker in Bagdad Schutz gesucht haben - Bush, 1991 - oder cruise missiles in eine Medikamentenfabrik im Sudan - Clinton, 1999 -und dann nicht irgendwann unseren Teil zurückzubekommen?" (Micah Sifry)
Im speziellen - wie sehr war unsere Außenpolitik im Mittleren Osten motiviert von unserer Liebe zu Freiheit und Demokratie, und wie weit von unserem Bedarf - unserer Gier - nach seinem Öl? Wenn unsere hauptsächliche Priorität war, unseren Ölnachschub zu sichern, heißt das dann, dass unsere auf Öl basierende Wirtschaft eine der Gründe war für die Angriffe der letzten Woche?
Und schließlich führen uns die buddhistischen Lehren auch dazu, die Rolle der Verblendung im Schaffen dieser Situation zu betrachten. Verblendung hat im Buddhismus eine besondere Bedeutung. Die grundlegende Verblendung ist das Bild unserer Abgetrenntheit von der Welt, in der wir uns befinden - einschließlich der anderen Menschen. Insofern wir uns von anderen getrennt fühlen, sind wir mehr geneigt sie zu manipulieren, 'um zu bekommen was wir wollen. Das schafft natürlich Unwillen - sowohl in den anderen, die nicht benützt werden wollen, als auch in uns selbst, wenn wir nicht bekommen was wir wollen... Trifft das auch im Kollektiv zu?
Verblendung wandelt sich zu Weisheit, sobald wir erkennen, dass "niemand eine Insel ist". Wir sind voneinander abhängig, denn wir sind alle Teil voneinander, verschiedene Facetten des einen Juwels, das wir 'die Erde' nennen. Diese Welt ist nicht eine Ansammlung von Objekten, sondern eine Gemeinschaft von Subjekten. Diese Interdependenz bedeutet, dass wir der Verantwortung füreinander gar nicht entkommen können. Das trifft nicht nur für die Bewohner von Lower Manhattan zu, die sich jetzt vereinigen in ihrer Reaktion auf diese Katastrophe, sondern für alle Menschen der Welt, so verblendet sie sein mögen - ja, einschließlich der Terroristen, die diese entsetzlichen Akte gesetzt haben, und jene die sie unterstützen.
Bitte verstehen Sie mich hier nicht falsch. Jene, die für diese Angriffe verantwortlich sind, müssen sicherlich ergriffen und dem Gesetz überantwortet werden. Das ist unsere Verantwortung all jenen gegenüber, die gelitten haben; und das ist auch unsere Verantwortung gegenüber den verblendeten und hasserfüllten Terroristen, denen Einhalt geboten werden muss. Aber wenn wir diesen Kreislauf aus Hass und Gewalt durchbrechen wollen, dann müssen wir uns darüber klar werden, dass unsere Verantwortung damit nicht beendet ist.
Unsere Interdependenz und gegenseitige Verantwortung füreinander zu erkennen, heißt mehr als das. Wenn wir diese Interdependenz leben, dann heißt sie Liebe. Liebe ist mehr als ein Gefühl, sie ist eine Seinsweise in der Welt. Im Buddhismus sprechen wir meist von Mitgefühl, Großherzigkeit und liebender Güte, aber all das reflektiert ebendiese Seinsweise. Eine solche Liebe wird manchmal mißachtet als schwächlich und nutzlos, sie kann sich aber, wie Gandhi gezeigt hat, als sehr mächtig erweisen. Und sie verkörpert eine tiefe Weisheit darüber, wie der Kreislauf von Hass und Gewalt funktioniert und wie er beendet werden kann. 'Auge um Auge' macht die ganze Welt blind, aber es gibt eine Alternative. Vor 25 Jahrhunderten hat der Buddha gesagt:
"Er hat mich mißbraucht, er hat mich geschlagen,
er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" -
wo solche Gedanken gehegt werden, wird nie der Hass enden.
"Er hat mich mißbraucht, er hat mich geschlagen,
er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" -
wo solche Gedanken nicht gehegt werden, wird der Hass enden.
Noch nie in dieser Welt,
Hat Hass gestillt den Hass.
Nur liebende Güte stillt den Hass.
Dies ist ein ewiges Gesetz.
(Dhammapada, 3-5)
Selbstverständlich ist diese verwandelnde Einsicht nicht dem Buddhismus allein vorbehalten, schließlich war es nicht der Buddha, der uns das Bild vom Hinhalten der anderen Wange gegeben hat. In den abrahamitischen Religionen koexistiert die Tradition des heiligen Krieges zwischen Gut und Böse mit diesem 'ewigen Gesetz' über die Kraft der Liebe. Das heißt nicht, dass alle Religionen der Welt dieses Gesetz im gleichen Maß verwirklichen. Tatsächlich frage ich mich, ob das nicht ein Maßstab der Reife einer Religion ist, oder zumindest ihrer heutigen Relevanz für uns: wie weit die befreiende Wahrheit dieses Gesetzes erkannt und unterstützt wird. Ich weiß für einen Vergleich nicht genug über den Islam, aber z.B. im Fall von Buddhismus und Christentum ist es so, dass in den Zeiten wo diese Wahrheit nicht betont wurde, beide Religionen am stärksten von weltlichen Herrschern und nationalistischen Leidenschaften untergraben worden sind.
Wo führt uns all das an diesem Tag hin? Wir stehen an einem Wendepunkt. Das Verlangen nach Rache und gewaltsamer Vergeltung wird stärker, und es wird noch angefacht von einem Führer, der in seiner eigenen Rhetorik von einem Heiligen Krieg gefangen ist, um die Welt vom Bösen zu reinigen. Überlegen Sie: beschreibt dieser Satz bin Laden oder Präsident Bush? Wenn wir dem Pfad der Gewalt in einem großen Maßstab folgen, dann werden bin Laden's und Bush's heiliger Krieg zu zwei Seiten desselben Krieges.
Niemand kann alle Konsequenzen eines solche Krieges vorhersehen. Es ist durchaus möglich, dass er außer Kontrolle gerät und sich verselbständigt. Jedenfalls bringt das 'ewige Gesetz' einen ernüchternden Effekt eindeutig mit sich: eine massive Vergeltung der USA im Mittleren Osten wird den Samen einer neuen Generation von selbstmörderischen Terroristen hervorbringen, begierig darauf, ihren Platz in diesem heiligen Krieg einzunehmen.
Aber breit gestreute Gewalt ist nicht die einzige Möglichkeit. Wenn diese Zeit der Krise uns ermutigt, die Rhetorik des Krieges zur Ausrottung des Bösen zu durchschauen, wenn wir die verflochtenen Wurzeln des Übels zu verstehen beginnen, einschließlich unserer eigenen Verantwortung, dann mag vielleicht aus dieser katastrophalen Tragödie doch etwas Gutes erwachsen.
18. September 2001
Übersetzung aus dem Englischen von Wolfgang Waas
Copyright 2004 © by Netzwerk engagierter Buddhisten
Der Zen-Buddhist David Loy ist einer der profiliertesten buddhistischen Denker aus den USA und Autor zahlreicher Bücher. Er lebt seit vielen Jahren in Japan und ist dort Dozent an einer Universität.
Wie die meisten Amerikaner hatte ich Probleme, die Ereignisse der letzten Woche zu verdauen. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis ich imstande war zu erkennen, wie psychisch betäubt viele von uns sind. In wenigen Stunden ist unsere Welt eine andere geworden. Wir wissen noch nicht was diese Änderungen im Einzelnen mit sich bringen werden, aber die wichtigsten Langzeitwirkungen könnten die psychologischen sein.
Die Amerikaner haben die USA immer verstanden als einen besonderen und einmalig privilegierten Ort. Die Puritaner sahen in New England das Verheißene Land. Nach Melville sind "wir Amerikaner das einzigartige, das auserwählte Volk". In vielen Teilen der Welt war das zwanzigste Jahrhundert von besonderen Schrecken begleitet, aber die USA waren so abgeschottet von diesen Tragödien, dass wir zu der Meinung kamen, dagegen immun zu sein - obwohl wir nicht selten zu ihnen beigetragen haben. Diese Zuversicht ist jetzt ganz plötzlich zusammengebrochen. Wir mussten entdecken, dass es in der Welt der grenzenlosen Globalisierung für uns keine Zuflucht gibt vor Hass und Gewalt, die in vielen Teilen der Welt dominieren.
Jeder Tod weckt in uns den Gedanken an unseren eigenen; und plötzlicher, unerwarteter Tod in einem so großen Maßstab macht es noch schwieriger, das Bewusstsein unserer eigenen Sterblichkeit zu unterdrücken. Unsere Besessenheit von Dingen wie Geld, Konsum, Leistungssport ist demaskiert worden als das was sie ist: der Beachtung nicht wert, die wir ihnen zuwenden. Es gibt hier etwas Wertvolles zu lernen - aber diese Wahrheit ist uns unbehaglich. Wir wollen nicht an den Tod denken, wir ziehen es üblicherweise vor, abgelenkt zu werden.
Sprüche von Vergeltung und "in die Steinzeit zurückbomben" sind vielen von uns suspekt, aber wir haben von Natur aus ein Bedürfnis zurückzuschlagen. Am Freitag hat Präsident Bush erklärt, dass die USA aufgerufen sind zu einer weltweiten Mission "die Welt vom Bösen zu befreien", und am Sonntag sagte er, die Regierung sei entschlossen "die Welt von Übeltätern zu befreien". Unser Land der Freiheit hat jetzt eine Verantwortung, das Böse in der Welt auszurotten. Wir haben nicht länger ein "Reich des Bösen" zu besiegen, aber wir haben ein noch heilloseres Böses entdeckt, das zu zerstören einen langfristigen totalen Krieg notwendig machen wird.
Wenn irgendetwas böse ist, dann waren diese terroristischen Angriffe böse. Ich teile diese Ansicht, aber ich glaube es wäre nötig, das verwendete Vokabular ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Wenn Präsident Bush sagt, er wolle die Welt vom Bösen befreien, dann schrillen in meinem Kopf die Alarmglocken, denn genau das ist es, was Hitler und Stalin ebenfalls vorhatten.
Ich will keinen von diesen Übeltätern verteidigen, sondern ihre Absichten erklären. Wie hat das Problem mit den Juden ausgesehen, das eine "Endlösung" erforderlich machte? Die Erde konnte für die "arische Rasse" nur gereinigt werden, indem man die Juden, die "unreinen Schädlinge", auslöschte. Stalin musste die Kulaken beseitigen, um seine ideale Gesellschaft von Kollektivbauern zu verwirklichen. Beide versuchten, diese Welt zu vervollkommnen, indem sie ihre Unreinheiten entfernten. Die Welt kann nur gut gemacht werden, indem man ihre schlechten Elemente zerstört. Doch paradoxerweise war einer der Hauptgründe für das Böse in dieser Welt immer der menschliche Versuch, das Böse auszurotten.
Die 'Washington Post' zitierte am Freitag Joshua Teitelbaum, der sich mit einem eher zeitgenössischen Übeltäter beschäftigt hat: "Osama bin Laden sieht die Welt ganz in nackten Schwarz-Weiß-Kontrasten. Für ihn repräsentieren die USA die Kräfte des Bösen, die Korruption und Despotismus über die islamische Welt bringen."
Was ist der Unterschied zwischen bin Laden's Ansicht und der von Bush? Sie sind Spiegelbilder. Was bin Laden als gut ansieht - einen Heiligen Krieg gegen einen gottlosen und materialistischen Westen - sieht Bush als böse. Was Bush als gut ansieht - Amerika als Verteidiger der Freiheit - sieht bin Laden als böse. Sie sind zwei entgegengesetzte Versionen des gleichen 'Heiligen Krieges zwischen Gut und Böse'.
Verstehen Sie mich hier bitte nicht falsch - ich will sie nicht moralisch gleichsetzen, ich will in keiner Weise die Schreckensbilder von letztem Dienstag entschuldigen. Nur - unter buddhistischen Perspektive gibt es eine gefährliche Täuschung in den spiegelbildlichen Ansichten beider Seiten. Wir müssen verstehen, wie dieses Schwarzweißdenken nicht nur die islamischen Terroristen verblendet, sondern auch uns selbst, und so das Leid in der Welt vermehrt.
Dieser Dualismus von 'Gut gegen Böse' ist verlockend, weil er eine einfache Weltsicht bietet, und er ist vielen von uns sehr vertraut. Er ist zwar nicht auf die abrahamitischen Religionen beschränkt, Judentum, Christentum und Islam, aber er ist ihnen besonders zentral. Das ist einer der Gründe, warum es immer so schwierig war, Konflikte unter ihnen friedlich zu bereinigen: ihre Anhänger tendieren dazu, ihre eigene Religion mit dem Guten zu identifizieren und die anderen als die Bösen zu sehen. (Historisch scheint dieser Dualismus auf den Zarathustra-Glauben zurückzugehen, der die Welt als Schlachtfeld eines kosmischen Krieges zwischen Gut und Böse sah, und einen apokalyptischen Sieg für die Kräfte des Guten am Ende der Zeiten annahm. Die Juden haben diese Idee vermutlich während der babylonischen Gefangenschaft aufgegriffen, und sowohl das Christentum als auch der Islam haben diesen Dualismus von ihnen übernommen.)
Es ist schwierig die andere Wange hinzuhalten, wenn wir die Welt durch diese Brille betrachten, denn sie rationalisiert das entgegengesetzte Prinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wenn die Welt ein Schlachtfeld zwischen guten und bösen Kräften ist, dann muss das Böse mit allen zur Verfügung stehenden Mittel bekämpft werden. Die Säkularisierung der modernen westlichen Welt hat dieser Tendenz nicht Einhalt geboten, sie hat sie in mancher Hinsicht sogar intensiviert, da wir ja nicht mehr auf einen übernatürlichen deus ex machina warten. Wir müssen uns auf uns selbst verlassen, um den endgültigen Sieg des Guten herbeizuführen - so wie es Hitler und Stalin taten. Es ist unklar, inwieweit bin Laden und Bush Hilfe von Gott erwarten.
Warum betone ich diesen Dualismus? Das grundlegende Problem mit dieser Art von Konfliktverständnis ist, dass sie das Denken ausschließt, weil sie so simplistisch ist. Sie hält uns davon ab, tiefer hineinzusehen, davon, Gründe entdecken zu wollen. Sobald etwas als böse identifiziert ist, gibt es keine Notwendigkeit mehr es zu erklären; dann ist es Zeit, sich auf den Kampf dagegen zu konzentrieren. Hier hat der Buddhismus etwas Wichtiges beizutragen.
Der Buddhismus sieht drei Wurzeln des Übels, bekannt als die Drei Gifte: Gier, Hass und Wahn. Die abrahamitischen Religionen betonen den Kampf zwischen Gut und Böse, weil für sie das Grundproblem in unserem Willen liegt: auf welche Seite stellen wir uns? Im Kontrast dazu betont der Buddhismus Unwissenheit und Erleuchtung, weil das Grundproblem hier in unserer Selbsterkenntnis liegt: verstehen wir wirklich unsere eigenen Motive? Nach dem Buddhismus liegt jedes Geschehen eingebettet in ein Netz von Gründen und Bedingungen - das Gesetz des Karma. Eine Möglichkeit, die zentrale Lehre des Buddhismus zusammenzufassen ist, dass wir leiden und andere leiden machen durch Gier, Hass und Wahn. Karma impliziert, dass, wenn unsere Handlungen gesteuert werden von diesen Wurzeln des Bösen, ihre negativen Folgen dazu tendieren, auf uns zurückzufallen.
Der buddhistische Lösungsansatz zum Leiden schließt ein, unsere Gier zu Großzügigkeit zu wandeln, unseren Hass zu liebender Güte, und unseren Wahn zu Weisheit.
Wohin bringen uns diese buddhistischen Lehren in der Situation, in der wir uns jetzt konkret finden? Folgendes ist dem heutigen Statement der Buddhist Peace Fellowship entnommen:
"Die Nationen leugnen die Kausalität, indem sie andere schlecht machen als 'Terroristen', 'Schurkenstaaten' u. ä. Indem wir einen Feind aus dem Hintergrund herauslösen, schließen wir die Selbstprüfung kurz, die nötig wäre um unsere eigene karmische Verantwortlichkeit zu sehen für die schrecklichen Dinge, die uns zugestoßen sind... Solange bis wir Gründe sehen, Verantwortung auf uns zu nehmen für (in diesem Fall) den Mittleren Osten, wird die Gewalt der letzten Woche für uns nicht mehr Sinn machen als ein Erdbeben oder ein Wirbelsturm, außer dass es uns durch ihren menschlichen Ursprung zu Wut und Rache verleitet."
Wir dürfen uns nicht konzentrieren auf die zweite Wurzel des Übels, den Hass und die Gewalt, die jetzt gegen die Vereinigten Staaten gerichtet worden sind. Die drei Wurzeln sind miteinander verflochten. Hass kann nicht getrennt werden von Gier und Wahn. Das verlangt von uns die Frage: Warum hassen uns so viele Leute, besonders im Mittleren Osten, so sehr? Was haben wir getan um diesen Hass zu verstärken? Amerikaner sehen Amerika als Verteidiger von Freiheit und Gerechtigkeit, aber ganz offensichtlich sehen sie uns anders. Sind denn nur sie falsch informiert, oder sind wir es, die falsch informiert sind?
"Glaubt denn wirklich jemand, dass wir die USS New Jersey losschicken können, um Volkswagen-große Granaten in Libanesische Dörfer zu schleudern - Reagan, 1983 - oder 'smart bombs' auf Zivilisten zu lenken, die in einem Bunker in Bagdad Schutz gesucht haben - Bush, 1991 - oder cruise missiles in eine Medikamentenfabrik im Sudan - Clinton, 1999 -und dann nicht irgendwann unseren Teil zurückzubekommen?" (Micah Sifry)
Im speziellen - wie sehr war unsere Außenpolitik im Mittleren Osten motiviert von unserer Liebe zu Freiheit und Demokratie, und wie weit von unserem Bedarf - unserer Gier - nach seinem Öl? Wenn unsere hauptsächliche Priorität war, unseren Ölnachschub zu sichern, heißt das dann, dass unsere auf Öl basierende Wirtschaft eine der Gründe war für die Angriffe der letzten Woche?
Und schließlich führen uns die buddhistischen Lehren auch dazu, die Rolle der Verblendung im Schaffen dieser Situation zu betrachten. Verblendung hat im Buddhismus eine besondere Bedeutung. Die grundlegende Verblendung ist das Bild unserer Abgetrenntheit von der Welt, in der wir uns befinden - einschließlich der anderen Menschen. Insofern wir uns von anderen getrennt fühlen, sind wir mehr geneigt sie zu manipulieren, 'um zu bekommen was wir wollen. Das schafft natürlich Unwillen - sowohl in den anderen, die nicht benützt werden wollen, als auch in uns selbst, wenn wir nicht bekommen was wir wollen... Trifft das auch im Kollektiv zu?
Verblendung wandelt sich zu Weisheit, sobald wir erkennen, dass "niemand eine Insel ist". Wir sind voneinander abhängig, denn wir sind alle Teil voneinander, verschiedene Facetten des einen Juwels, das wir 'die Erde' nennen. Diese Welt ist nicht eine Ansammlung von Objekten, sondern eine Gemeinschaft von Subjekten. Diese Interdependenz bedeutet, dass wir der Verantwortung füreinander gar nicht entkommen können. Das trifft nicht nur für die Bewohner von Lower Manhattan zu, die sich jetzt vereinigen in ihrer Reaktion auf diese Katastrophe, sondern für alle Menschen der Welt, so verblendet sie sein mögen - ja, einschließlich der Terroristen, die diese entsetzlichen Akte gesetzt haben, und jene die sie unterstützen.
Bitte verstehen Sie mich hier nicht falsch. Jene, die für diese Angriffe verantwortlich sind, müssen sicherlich ergriffen und dem Gesetz überantwortet werden. Das ist unsere Verantwortung all jenen gegenüber, die gelitten haben; und das ist auch unsere Verantwortung gegenüber den verblendeten und hasserfüllten Terroristen, denen Einhalt geboten werden muss. Aber wenn wir diesen Kreislauf aus Hass und Gewalt durchbrechen wollen, dann müssen wir uns darüber klar werden, dass unsere Verantwortung damit nicht beendet ist.
Unsere Interdependenz und gegenseitige Verantwortung füreinander zu erkennen, heißt mehr als das. Wenn wir diese Interdependenz leben, dann heißt sie Liebe. Liebe ist mehr als ein Gefühl, sie ist eine Seinsweise in der Welt. Im Buddhismus sprechen wir meist von Mitgefühl, Großherzigkeit und liebender Güte, aber all das reflektiert ebendiese Seinsweise. Eine solche Liebe wird manchmal mißachtet als schwächlich und nutzlos, sie kann sich aber, wie Gandhi gezeigt hat, als sehr mächtig erweisen. Und sie verkörpert eine tiefe Weisheit darüber, wie der Kreislauf von Hass und Gewalt funktioniert und wie er beendet werden kann. 'Auge um Auge' macht die ganze Welt blind, aber es gibt eine Alternative. Vor 25 Jahrhunderten hat der Buddha gesagt:
"Er hat mich mißbraucht, er hat mich geschlagen,
er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" -
wo solche Gedanken gehegt werden, wird nie der Hass enden.
"Er hat mich mißbraucht, er hat mich geschlagen,
er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" -
wo solche Gedanken nicht gehegt werden, wird der Hass enden.
Noch nie in dieser Welt,
Hat Hass gestillt den Hass.
Nur liebende Güte stillt den Hass.
Dies ist ein ewiges Gesetz.
(Dhammapada, 3-5)
Selbstverständlich ist diese verwandelnde Einsicht nicht dem Buddhismus allein vorbehalten, schließlich war es nicht der Buddha, der uns das Bild vom Hinhalten der anderen Wange gegeben hat. In den abrahamitischen Religionen koexistiert die Tradition des heiligen Krieges zwischen Gut und Böse mit diesem 'ewigen Gesetz' über die Kraft der Liebe. Das heißt nicht, dass alle Religionen der Welt dieses Gesetz im gleichen Maß verwirklichen. Tatsächlich frage ich mich, ob das nicht ein Maßstab der Reife einer Religion ist, oder zumindest ihrer heutigen Relevanz für uns: wie weit die befreiende Wahrheit dieses Gesetzes erkannt und unterstützt wird. Ich weiß für einen Vergleich nicht genug über den Islam, aber z.B. im Fall von Buddhismus und Christentum ist es so, dass in den Zeiten wo diese Wahrheit nicht betont wurde, beide Religionen am stärksten von weltlichen Herrschern und nationalistischen Leidenschaften untergraben worden sind.
Wo führt uns all das an diesem Tag hin? Wir stehen an einem Wendepunkt. Das Verlangen nach Rache und gewaltsamer Vergeltung wird stärker, und es wird noch angefacht von einem Führer, der in seiner eigenen Rhetorik von einem Heiligen Krieg gefangen ist, um die Welt vom Bösen zu reinigen. Überlegen Sie: beschreibt dieser Satz bin Laden oder Präsident Bush? Wenn wir dem Pfad der Gewalt in einem großen Maßstab folgen, dann werden bin Laden's und Bush's heiliger Krieg zu zwei Seiten desselben Krieges.
Niemand kann alle Konsequenzen eines solche Krieges vorhersehen. Es ist durchaus möglich, dass er außer Kontrolle gerät und sich verselbständigt. Jedenfalls bringt das 'ewige Gesetz' einen ernüchternden Effekt eindeutig mit sich: eine massive Vergeltung der USA im Mittleren Osten wird den Samen einer neuen Generation von selbstmörderischen Terroristen hervorbringen, begierig darauf, ihren Platz in diesem heiligen Krieg einzunehmen.
Aber breit gestreute Gewalt ist nicht die einzige Möglichkeit. Wenn diese Zeit der Krise uns ermutigt, die Rhetorik des Krieges zur Ausrottung des Bösen zu durchschauen, wenn wir die verflochtenen Wurzeln des Übels zu verstehen beginnen, einschließlich unserer eigenen Verantwortung, dann mag vielleicht aus dieser katastrophalen Tragödie doch etwas Gutes erwachsen.
18. September 2001
Übersetzung aus dem Englischen von Wolfgang Waas
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