Ich und die Welt - Mitwelt
Buddhas Aktualität heute
von Franz-Johannes Litsch
Die Welt in der wir leben, ist tiefgreifend und global von Unheil geprägt. Täglich erreichen uns neue erschreckende Meldungen und Erkenntnisse, die jeweils die des Vortages bereits wieder verdrängen und vergessen lassen. Unüberschaubar summiert sich die Vielzahl und Dimension der Probleme, das Ausmaß an Gefährdung, Zerstörung und Verlust. Gewaltig ist das Maß an Schmerz und Elend, das zahllose Menschen und andere lebende Wesen gegenwärtig erfahren. Doch - all dies ist vom Menschen selbst verursacht und könnte vom Menschen überwunden und verhindert werden. Und wir alle sind daran beteiligt, als Opfer und als Täter.
Doch tun wir fast alle so, als ginge uns dies nichts an, als lebten wir gar nicht in dieser Welt sondern außerhalb, als seien wir eigentlich nur Zuschauer gegenüber einem Geschehen, das sich vor uns abspielt, uns mehr oder weniger anspricht, langweilt, interessiert oder abschreckt, aber nichts wirklich und unmittelbar mit uns zu tun hat. Die Wirklichkeit, sie ist ein Fernsehschirm! Wir sitzen vor ihm im Sessel, sicher und weich bei Bier und Chips. Alles ist außerhalb, alles ist weit weg! Zwischen mir und der Welt ist eine Mattscheibe, die klar trennt! "Die Hölle, das sind die Anderen!", so spricht in Sartres Schauspiel "Geschlossene Gesellschaft" einer, der selbst in der Hölle ist, ja selbst die Hölle ist. Und es sind immer die Anderen, die böse, schuld, lieblos oder zuständig sind.
Vor 2500 Jahren hat ein Mensch in Indien, Gautama Buddha, auf jahrelanger Suche nach den Ursachen des Leidens unter den Menschen, in einer tiefen Erfahrung folgende Einsicht erlangt: Die Ursache allen Leids ist die Abspaltung unserer Existenz von der Wirklichkeit! Es ist unser Glaube, unsere Ideologie, unsere Illusion, wir seien ein abtrennbares, eigenständiges Ding, ein Wesen, eine Person, ein Individuum, ein 'Ich'. Wir glauben dieses Ich abtrennbar vom Anderen, abtrennbar von der Welt, abtrennbar von der Natur, abtrennbar vom eigenen Körper, abtrennbar von allem Nicht-Ich. "Nur ich bin ich!" Ich bin mit nichts identisch! Aber ein Ich, das nur aus sich selbst besteht, mit nichts identisch ist, ist letztlich ein Nichts! Ja, es existiert nicht! Denn es besteht aus Nichts! Ein Ich ohne Welt, ohne Natur, ohne die Anderen, ohne Körper, ohne Nicht-Ich kann nicht existieren. Dieses Ich ist eine Illusion, ein Wahn! In Wahrheit sind wir mit diesem 'Ich' (diesem Ich-Konzept) von uns selbst getrennt!
Eben dieses leiderzeugende Denken in Extremform ist aber das Grundkonzept der modernen, westlichen, individualistischen Kultur! Unser Weltbild ist das der geschlossenen Gesellschaft, das des geschlossenen Ichs. Oder auch, es ist das Selbstbild des abgetrennten, autonomen, isolierten, für sich allein existierenden, eingemauerten Egos. Unerschütterlich beharren wir darauf: alles existiert für sich, abgetrennt vom anderen. Bewußtsein und Welt sind getrennt, Innen und Außen sind getrennt, Subjekt (Beobachter) und Objekt (Beobachtetes) sind getrennt, Mensch und Natur sind getrennt, Geist und Materie sind getrennt, Verstand und Gefühle sind getrennt usw. Es ist eine Weltanschauung der gespaltenen Wirklichkeit, ein Weltbild der abgespaltenen Wirklichkeit, eine Weltsicht des sich abspaltenden, jenseits einer zerspaltenen Welt einsam existierenden Ich-Gottes.
Und dieses Konzept, diese Illusion, diesen Wahn übertragen wir auf die ganze Wirklichkeit, trennen, zerlegen, analysieren, isolieren, vereinzeln, spalten alles - bis zum Kern des Atoms! Die Kernspaltung, die Atombombe ist tatsächlich die 'ultima ratio' (höchste Vernunft) unserer Zivilisation. Rationalität, Dualismus des Denkens, Unvereinbarkeit von Gegensätzen, Logik des Entweder-Oder, Abgrenzung und Verdinglichung von Begriffen und Definitionen, Verabsolutierung von Meinungen und Positionen, Herausbildung von Ideologien, Weltanschauungen und Dogmen kennzeichnen das heute 'herrschende' Denken.
Und auf Abspaltung, Reduktion, Vereinseitigung und Isolierung beruht ebenso unser alltägliches 'normales' Leben. Sie prägt unsere in zahllose Ressorts aufgepaltenen, sich gegenseitig fremden Bereiche unserer Kultur, unserer Arbeitswelt, unseres 'Privatlebens' (selbst ja schon wieder eine Abspaltung), sie prägt unsere Bildung und Ausbildung, insbesonders unsere Wissenschaft und Technik, ebenso die Wirtschaft und Politik, die Medizin, die Kunst, Philosophie, Moral und nicht zuletzt die Religion. Unsere Kultur hat die Weltsicht der abgespaltenen, zugleich aber verabsolutierten Teilwahrheiten gar zur einzig wahren und legitimen Weltanschauung erhoben und nennt sie Logik und Rationalität.
Die westliche Zivilisation hat mit dem Prinzip "divide et impera - teile und herrsche" die Welt erobert, nicht nur alle Bereiche unseres Lebens sondern auch alle Länder und Völker. Denn das Leitprinzip des spaltenden und sich abspaltenden Machtwillens ist wiederum, sich möglichst alles zur grenzenlosen Nutzung und Verfügung anzueignen. Unter der Ideologie der "Freiheit des Individuums", wurde in unserer Gegenwart die unbeschränkte Freiheit von Gier und Habsucht zum höchsten Wert und alles beherrschenden menschlichen Ziel. Wirtschaftlicher Erfolg, ökonomische Rationalität, Reichtum und Wachstum haben den Rang übermächtiger Götter erlangt, denen man sich vollständig unterwirft. In unbegrenzter Raubgier vereinnahmt der Moloch 'Produktion und Konsum' schließlich alles was verfügbar ist, einschließlich der eigenen Existenzgrundlagen. Der Mensch jedoch bleibt dabei ewig unbefriedigt und süchtig. Nicht fähig, sich davon zu befreien, zerstört er schließlich die Welt und sich selbst. Unser Erfolg ist wahrhaft "überwältigend".
Buddha sah, wir sind kollektiv psychisch krank! Krankheit macht Schmerzen, darum leiden wir. Aber Leiden ist auch unerkannte Weisheit, ist Antrieb für Heilung. Und Krankheit kann geheilt werden. Die Therapie ist: Frei von allen Konzepten, Begriffen und Vorstellungen, frei von aller Aufteilung, Abspaltung und Entgegensetzung, die Wirklichkeit unmittelbar und ganz so sehen, wie sie wahrhaft ist. Die Wirklichkeit SO sehen, das ist Meditation! Meditation ist die unmittelbare Wahrnehmung der Einheit, Ganzheit, Ungetrenntheit, Offenheit (in der Sprache Buddhas: Nicht-Dualität) dessen, was ist ! Da es hier kein vom Anderen getrenntes "Ich" gibt, bin "ich" mit allem verbunden und ist alles mit mir verbunden (anatta). Alle Erscheinungen, alle Vorgänge, alle Wesen sind miteinander verbunden, alles entsteht und vergeht in gegenseitiger Bedingtheit (paticca samuppada). Nichts existiert aus und für sich. Alles existiert als untrennbares Gewebe von Beziehungen (tantra). Die Wirklichkeit gleicht einem Netzwerk von Perlen, in dem jede Perle alle anderen in sich wiederspiegelt (Das Netz des Indra). "Dies ist, weil jenes ist und dies ist nicht, weil jenes nicht ist."
Auch Körper und Geist sind nichts aus sich und für sich Existierendes sondern Zusammentreffen (skandhas), Beziehung, Wechselwirkung von Wirkungen (dharmas). Die Wirklichkeit ist Ganzheit, in der alles sich gegenseitig enthält (dharmadhatu). Sie ist 'Leerheit' (sunyata) von aller Fixierung, Abgrenzung und Verdinglichung, ist Freiheit von aller Erstarrung und Behinderung, ist Offenheit unbegrenzter Entfaltung. Das Bewußtwerden dieser 'Leerheit', "mein" Einswerden (samadhi) ist das Erwachen (bodhi) zur 'Soheit' der Wirklichkeit (tathata). Die Welt ist so, wie ich bin und ich bin so, wie die Welt ist. Mehr noch, die Welt enthält mich, ich enthalte die Welt. Ja, die Welt ist 'mein wahres Selbst', und 'mein wahres Selbst' ist die Welt!
Wir sind somit nicht nur äußerlich untrennbar mit allem Existierenden verbunden sondern zutiefst auch innerlich. Denn unser Bewußtsein, unsere Wahrnehmung ist nicht abtrennbar von dem was geschieht. Die "Dinge" werden nur dadurch wirklich, daß sie Objekte, Inhalte, Hervorbringungen der Wahrnehmung werden. Umgekehrt ist das Subjekt, das Bewußtsein, die Wahrnehmung selbst wiederum Erscheinung, Funktion und Hervorbringung der "Welt". Das Ich und die Welt, die auf diese Weise wahr (genommen) werden, sind nicht getrennt in Ich-welt und Um-welt sondern, was da wahr ist, ist die eine untrennbare Beziehungswelt, die eine Ganzheitswelt, eine Mitwelt. Thich Nhat Hanh nennt es 'wechselseitiges Durchdrungensein' oder 'Intersein' (englisch 'Interbeing').
Und darum ist mein Selbst und mein Leben auch nie abtrennbar vom Leiden und Glück unserer Welt, nicht vom Leben und Tod der Pflanzen, der Bäume, der Tiere, nicht vom Leiden und der Überwindung des Leidens der Menschen und nicht abtrennbar von den Bedingungen, die den Erscheinungen zugrundeliegen. In all dem leben, leiden, sterben, wachsen und wiedererstehen wir selbst.
Buddha zog daraus die Konsequenz: "Der Bodhisattva (der auf dem Weg zur Buddhaschaft gehende) soll in bezug auf alle Wesen die Idee entwickeln: dies ist meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, meine Tochter, ja dies bin ich selbst. Wie ich selbst von allen Leiden gänzlich frei sein möchte, so möchten alle Wesen frei sein." (aus Prajnaparamita Sutra). Ich erlebe mich nicht mehr getrennt von allen Anderen, sondern erlebe mich in allen und die Andern in mir. Habe ich Mitgefühl mit mir, dann bedeutet dies Mitgefühl mit anderen zu haben und umgekehrt. "Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen, auf den anderen achtend, achte ich auf mich sich selbst." (Satipatthana Samyutta). Darum ist ungetrennte Achtsamkeit (sati), unparteiische Liebe (metta) und ungeteiltes Mitgefühl (karuna) gegenüber sich selbst und den Anderen immer gegenwärtige Praxis derjenigen, die Buddhas Weg folgen möchten.
Hier erfahren wir entgültig, wir sind auch nicht getrennt von den unerschöpflichen und wunderbaren Möglichkeiten der Wirklichkeit, vom Reichtum, der Weisheit und der Schönheit des Lebens, von der ursprünglichen Tiefe und Klarheit unseres Bewußtseins, von der wahren unbegrenzten Weite und Liebeskraft unseres Herzens, und von der in mir zum Ausdruck kommenden, beglückenden Entfaltungs- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen - der Buddhaschaft (buddhata).
Wer dem Weg Buddhas folgen möchte nimmt, wie die Formel heißt, 'Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha'. Buddha ist jener Mensch, der uns in der Verwirklichung seines ganzen Menschseins als Sucher und Lehrer vorausgegangen ist. Doch das vollerwachte Menschsein, die 'Buddha-Natur' ist in jedem Menschen ohne Unterschied - ist als Potential immer und überall vorhanden. Darum ist die Zuflucht zu Buddha letzlich die Zuflucht zu uns selbst, zu unseren noch verborgenen und verhinderten Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten zu entfalten, ist heute nicht mehr nur 'schönes höheres Streben'. Wir benötigen die radikale Verwirklichung unseres Menschseins, um die Menschheit und Welt in ihrer Existenz selber zu erhalten. Überleben und wahres Leben sind in der Geschichte der Erde erstmals eins geworden.
'Dharma' heißt Wahrheit und Wirklichkeit. Wir nehmen Zuflucht zur Wahrheit und Wirklichkeit, weil (wie wir oben sahen) unsere Selbsttäuschung und unsere Abtrennung von der Wirklichkeit die Welt und uns selbst in jenen Zustand gebracht haben, in dem wir sind. Zuflucht zum Dharma heißt, aufzuhören damit, uns in all jene Trennungen und Abtrennungen des Ichs zu flüchten und weiter anzuhaften an Träumen, Illusionen, Wunschvorstellungen, Ideologien, Konzepten und Dogmen über die Wirklichkeit, sondern uns dem zu stellen, was Hier und Jetzt ist, der 'Soheit' der Dinge. Das bedeutet auch, uns ebensowenig anzuklammern am Buddhismus als Heilsgebäude und Nirvanatrip. Der Weg Buddhas ist es, sich der Wahrheit und Wirklichkeit unmittelbar zuzuwenden. Darin hilft er uns, indem er uns in der ungetrennten Wahrnehmung und Begegnung, im Gewahrsein der Wirklichkeit schult.
'Sangha' heißt Gemeinschaft. Es bezeichnet zunächst die Gemeinschaft der Menschen, die dem Wege Buddhas folgen, geht in seiner tieferen Bedeutung aber darüber hinaus und meint letztlich die untrennbare Gemeinschaft, Einheit und Offenheit alles Lebendigen, der Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Wolken... Alles ist einbezogen, denn alles ist für den Buddhismus mit 'Erleuchtungsgeist', mit der 'Buddha-Natur' erfüllt. Zu dieser Gemeinschaft des Lebendigen nehmen wir letzte Zuflucht. Die Gemeinschaft derjenigen, die den Weg des Erwachens gehen, realisiert sich dadurch, daß die Einzelnen wirkliche Einsicht in die Gemeinschaft aller lebenden Wesen, alles umfassende Achtsamkeit und grenzenloses Mitgefühl entfalten. 'Sangha' - mit dem Herzen gelebte Gemeinschaft - das ist jene Erfahrung, die wir letztlich alle als wirkliches Glück kennen und suchen.
Der tibetische Meditationslehrer Sogyal Rinpoche hat all das hier gesagte in folgenden knappen Worten ausgesprochen:
"Unsere heutige Welt steckt in einer beispiellosen Krise, die das bloße Überleben der Menschheit in Frage stellt. Wissenschaftler und Philosophen haben wiederholt auf die tiefere Ursache dieser Krise hingewiesen: eine "Weltanschauung", die die Erde und die Menschen gleichsam als Maschinen betrachtet und ignoriert, daß wir alle zueinander sowie mit allen Lebensformen und der Umwelt in einer Wechselbeziehung stehen. Unsere bruchstückhafte Sichtweise hat eine zersplitterte Welt geschaffen, mit Individuen, die einander und sich selbst entfremdet sind. Viele Menschen haben inzwischen erkannt, daß jetzt die größte Quelle der Hoffnung für die Menschheit darin liegt, unsere Aufmerksamkeit nach innen zu richten und unser inneres Universum zu erforschen, in die Natur des Geistes und des Herzens zu schauen, so wie es alle spirituellen Traditionen lehren. Indem wir unsere Sichtweise und innere Einstellung verändern, Herz und Geist transformieren, können wir auch die Welt um uns ändern."
Wer in weltlichen Angelegenheiten
ein Hindernis für seine Übung sieht,
weiß nur,
daß es keinen Weg in weltlichen Dingen gibt,
während er zugleich verkennt,
daß es so etwas wie weltliche Dinge nicht gibt,
die vom Weg unterschieden werden könnten.
(Zen Meister Dogen: Shobogenzo I)
Weil im Kreislauf des Samsara Glück und Leid aller Wesen untrennbar miteinander verbunden sind, kann die Erleuchtung erst dann wirklich vollständig sein, wenn auch das letzte Wesen den leidhaften Kreislauf der Existenzen verlassen hat. Wer dies erkennt, stellt sein Streben nach Erleuchtung in den Dienst aller Wesen. Wem Wohl und Wehe der anderen genauso am Herzen liegen wie sein eigenes, der geht den Weg tätigen Mitgefühls und Erbarmens, den Weg des Bodhisattva. Ein Bodhisattva hilft den Wesen auf dreifache Weise: durch seine Gedanken, seine Worte und seine Handlungen. Zu den helfenden und reinigenden Gedanken zählen die Öffnung von Geist und Herz für andere, die Übung der Gleichsetzung von sich selbst und anderen und all die vielen anderen bewährten geistigen Übungen zur Entfaltung von liebender Güte und Mitgefühl. Was die Rede betrifft, so hilft der Bodhisattva anderen Wesen durch Worte der Ermutigung und des Trostes, durch achtsame und heilsame Rede, getragen von Zuhören und Verständnis. Der Weg des Bodhisattva-Handelns schließlich ist der Weg tätiger Liebe. Das Handeln zum Wohle aller Wesen ist vielgestaltig und unermeßlich. Wir leben in einer Welt grenzenlosen Leids und Unrechts. Nur wer sich vom Leid der anderen wirklich berühren läßt, der kann aus echtem Mitgefühl und frei von ich-bezogenen Motiven handeln, denn wer seines Ich nicht gedenkt, ist frei von Verhaftungen und kann sich so wirklich engagieren im Dienste anderer.
Der engagierte Buddhismus gründet sich auf das Bodhisattva-Ideal des selbstlosen Handels, das die Wesen zum erleuchteten Zustand führt. Engagierter Buddhismus ist kein Novum westlichen oder neuzeitlichen Buddhismus, sondern er wurzelt im Herzen des Dharma (Dhamma) selbst. Jeder, der seine Motivation aus dem Dharma schöpft und sein Handeln auf das Wohlergehen anderer richtet, ist ein engagierter Buddhist. Handeln zum Wohle aller Wesen beruht auf genauer Kenntnis der Ursachen von Leid und Schmerz. Dabei können wir nicht blind gegenüber den politischen und gesellschaftlichen Strukturen sein, die unser Leben bestimmen und unser kollektives Karma (Kamma) prägen. Schon Buddha selbst hat in vielfältiger Weise zu Politik und Gesellschaft seiner Zeit Stellung genommen. Er hat zwar kein gesellschaftliches Reformmodell ent-worfen, jedoch zahlreiche Ideen und Vorschläge zur Gestaltung einer humanen und gerechten gesell-schaftlichen Ordnung unterbreitet. Unzählige Gestaltungsimpulse für die Entwicklung der ostasiatischen Gesellschaften gehen so direkt auf Buddhas gesellschaftspolitische Lehren und auf die Aktivitäten früher engagierter Buddhisten wie Asoka und Nagarjuna zurück.
Wurzeln des Bodhisattva-Ideals engagierten Handels Der Buddhismus ist im Kern egalitär. Alle Wesen besitzen die Buddha-Natur und damit das gleiche heilige Potential. Unser Streben nach Erleuchtung wie unser gesamtes individuelles Handeln ist jedoch in sozio-historische Bedingungen eingebettet, die Entfremdung, Übelwollen, Aggression und ruheloses Erwerbsstreben institutionalisiert haben. Wir können diese Bedingungen auch als unsere kollektive karmische Erblast auffassen, die in unzähligen früheren Existenzen erzeugt, als mannigfaltige Frucht vergangener Taten immer wieder auf uns zurückfällt. Die Gewohnheiten kollektiven karmischen Handelns formen die sozialen Institutionen einer Gesellschaft. Es ist die Resonanz gleicher und ähnlicher Erfahrungsmuster, die schließlich zu sozialen Institutionen erstarren und die jeder jungen Generation als Zwangsgeflecht überlieferter Normen und Gesetze und erstarrter Dogmen entgegentreten.
Um das Leid des Samsara zu überwinden und um den vollkommenen Zustand zu erlangen, müssen wir uns auch von den überkommenen sozialen Konditionierungen frei machen, die uns an die Strukturen der Wandelwelt binden und die Entfaltung des Erleuchtungsgeistes blockieren. Die Verwirklichung des Bodhisattva-Ideals im Bereich des Handelns liegt somit auch in der Schaffung sozialer Bedingungen, die für die positive Umgestaltung der Individuen günstig sind. Soziale Aspekte haben daher in der Lehre des Buddha von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. So hat Buddha u.a. das indische Kastensystem verurteilt. Das Sonadanda Sutta kritisiert ausdrücklich die brahmanische Vorherrschaft. Buddha hat auch - um ein weiteres Beispiel zu nennen - auf den Zusammenhang zwischen der Zunahme sozialen Elends und der Verbrechensrate eines Landes aufmerksam gemacht und damit einerseits auf die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wohlergehens für jedermann hingewiesen und andererseits die Nutzlosigkeit aufgezeigt, das Verbrechen durch strenge Bestrafung der Täter wirksam zu bekämpfen. Im frühen Buddhismus werden egalitäre und dezentrale monastische Strukturen anstelle der zentralisierten und hierarchischen Gesellschaftsstrukturen jener Zeit favorisiert. So wird die Autorität eines jeden Mönchs allein durch die Dauer der Sangha-Zugehörigkeit bestimmt.
Schon lange vor dem Aufkommen der Mahayana-Schule mit ihrer ausdrücklichen Betonung des Bodhisattva-Ideals, hat bereits der frühe Buddhismus das selbstlose Handeln im Dienst der Mitwesen als höchsten Erleuchtungsweg beschrieben und durch das überzeugende Beispiel zahlreicher Anhänger der Lehre praktisch vorgelebt. So verfügt insbesondere der Theravada-Buddhismus über eine lange und kontinuierliche Tradition politischer und sozialer Aktivität, die ihren Ausgangspunkt in den sozialen Lehren des Pali-Kanon hat. Den Bodhisattva-Weg gibt es also bereits im Theravada, und er ist keine Eigenheit des späteren Mahayana-Buddhismus. So heißt es im Angutta-Nikaya:
"Und wiederum, ihr Mönche, was den Menschen angeht, der sowohl um sein eigenes als auch um das Wohlergehen anderer sich bemüht hat - von diesen vier (hier aufgezählten, von denen sich die drei zuvor genannten gar nicht oder nur einseitig bemühen - Anm. d. Verf.) ist letzterer der beste und oberste und höchste und erhabenste."
Indem der Bodhisattva sein eigenes Handeln in den Dienst aller Wesen stellt, verwirklicht er den Zu-stand der Selbstlosigkeit, der Einheit von Ich- und Nicht-Ich. Dieser Zusammenhang von persönlichem und allgemeinem Wohlergehen bildet das Fundament einer erleuchteten Politik, eines Handelns, dessen Ausgangspunkt die Umgestaltung der eigenen Persönlichkeit bildet. Besonders der Herrscher Asoka (3. Jahrhundert vor Chr.) und später Nagarjuna, der bedeutendste Mönchsgelehrte des indischen Mahayana, haben po-litische und soziale Handlungsgrundsätze defi-niert, die bis in unsere Zeit Gültigkeit haben.
Asoka hat das Prinzip der Gewaltlosigkeit ausdrücklich auf das politische Handeln bezogen und auf den Krieg als Mittel der Politik bewußt verzichtet und auch die Nachbarländer aufgefordert, seinem Beipiel zu folgen. Zwar behielt er die Todesstrafe für extreme Verbrechen bei, schuf jedoch gleichzeitig einen verbindlichen juristischen Verfahrensweg. Im Bereich der Sozialpolitik förderte er das Handeln aus Mitgefühl und schuf gleichzeitig die institutionellen Voraussetzungen zur praktischen Verwirklichung der buddhistischen Ethik. Medizinische Hilfsdienste für die Armen und Kranken, Wohnstätten für Ältere und Programme zur Durchführung öffentlicher Arbeiten sowie zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen legen historische Zeugnisse dieser Bemühungen ab. In Asokas Staat gab es erstmals ernannte Beamte für öffentliche Wohlfahrtsangelegenheiten. Im Bereich der Verwaltungsstruktur förderte er politische Dezentralisierung. Während er einerseits auf strenge politische Autorität setzte, delegierte er doch gleichzeitig beträchtliche Autonomie an seine Provinzgouverneure. Obwohl Asokas Reich keinen Bestand hatte, hat sein Engagement reichhaltige Anregungen gegeben, wie sogar ein Königreich in eine Art sozialistisches Gemeinwesen mit humanem Antlitz transformiert werden kann. Mit Asoka begann die Geschichte des Buddhismus als Staatsreligion, die lange Tradition des cakkavatti oder erleuchteten Herrschers. Nach Asokas Ansicht sollte das Staatsgefährt auf den zwei Rädern der Macht (anacakka) und Rechtmäßigkeit (dhamma cakka) laufen, mit der Autorität des buddhistischen Monarchen (dhamma raja) an der Spitze und legitimiert durch die monastische Sangha. Durch Asokas Politik erhielt das Bodhisattva-Handeln zum Wohle der Wesen einen klaren institutionellen Rahmen und eine gesellschaftspolitisch begründete Ausrichtung. Dabei wurde die Sangha jedoch zum politischen Machtfaktor und in gewissem Sinne auch Teilnehmer an der Macht. Die Sangha geriet damit in das Spannungsfeld zwischen selbstlosem und engagiertem Bodhisattva-Handeln einerseits und der Instrumentalisierung eben solchen Handelns im Dienste politischer Stabilität und Machterhaltung; ein Widerspruch, der die Ge-schichte der asiatischen Sangha, insbesondere in den Theravada-Ländern, bis in unsere Zeit geprägt hat.
500 Jahre nach Asoka ist Nagarjunas "Juwelenkranz der königlichen Ratschläge" ein weiterer Meilenstein einer Sozialethik des Bodhisattva-Handelns, entstanden aus dem Geist der Mahayana-Tradition. Nagarjuna sieht in der Transformation der eigenen Persönlichkeit das Fundament einer buddhistischen Ethik sozialen Handelns. Grundlegend für Nagarjuna ist das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Wir sollen nicht in Aggressivität und Leidenschaft verfallen und auch nicht der eitlen Versuchung durch Macht und Eigentum erliegen. Weil Gewalt bloß neue Gewalt schafft, lehnt Nagarjuna auch die Todesstrafe ab und fordert - seiner Zeit weit voraus - Rehabilitationsmaßnahmen für Strafgefangene. Wie Asoka plädiert er für öffentliche Wohlfahrt, wobei seine Sorge gleichermaßen menschlichen wie nicht-menschlichen Lebensformen gilt.
Gegenwärtige Strömungen In der Mitte unseres Jahrhunderts formierten sich in Südostasien Kräfte, die nach neuen Wegen suchten, das Bodisattva-Ideal auf der Ebene direkten und sozialen Handelns zu verwirklichen. Zu erwähnen sind die sozial- und friedensangagierte buddhistische Bewegung in Vietnam, die Sarvodaya-Bewegung in Sri Lanka sowie die zahlreichen buddhistischen Basisbewegungen in Thailand wie auch in Burma, Bangladesh und Kambodscha, die engagierte Spiritualität mit der Schaffung selbstorganisierter Basisbewegungen und autonomer, selbstgenügsamer Gemeinwesen verbinden. Während das soziale und politische Wirken Thich Nhat Hanhs, der Nonne Sister Chang Khong und vieler ihrer Freunde während der sechziger, siebziger Jahre in Vietnam heute im Westen gut bekannt ist, wissen nur wenige von der engagierten Sozialarbeit zahlreicher Mönche, Nonnen und Laien in den Ländern des Theravada. In Thailand z.B. gibt es eine ganze Reihe lokaler buddhistischer Gemeinschaften, die ökonomisch weitgehend autark sind und die das lebendige Beispiel einer Verbindung von spiritueller Praxis mit einem Wirtschaften im Einklang mit den anderen Wesen der natürlichen Lebensumwelt liefern. Und es gibt dort bedeutende buddhistische Basisbewegungen, die einem sozial- und politisch engagierten Buddhismus prägende Gestalt gegeben haben. So arbeitet zum Beispiel der Träger des alternativen Nobelpreis 1995 und Initiator des International Network of Engaged Buddhists (INEB) Sulak Sivaraksa für einen vom Dharma inspirierten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsweg, der in deutlichem Kontrast zu den dominierenden westlichen Entwicklungsmodellen für die sogenannte 3. Welt steht. Er plädiert dabei für lokale Basisdemokratie und Gemeinschaftsformen, die sich am Vorbild der buddhistischen Sangha orientieren. Eine sehr einflußreiche Kraft engagierten Bodhisattva-Handelns in Thailand war Ajahn Buddhadasa Bhikkhu, dessen Kritik sich am traditionellen thailändischen Buddhismus entzündete, von dem oft nichts weiter als die leere Hülle zeremonieller Handlungen und quasi-magischer Rituale geblieben sei und deren Sinn vor allem im Herbeiwünschen persönlichen Glücks und Wohlergehens liege. Buddhadasa setzte dagegen die Vision eines "Dhamma-Sozialismus", der eng an die asokanische Tradition eines wohltätigen Paternalismus anknüpft.
Buddhadasas Vorstellungen und Handlungsideale unterscheiden sich von anders gestalteten Formen engagierten Buddhismus, wie beispielsweise den burmesischen Mönchen, die sich 1989 weigerten von den Militärs Opfergaben anzunehmen oder von den Aktivitäten thailändischer Waldmönche, die Urwaldbäume ordinierten, um sie vor dem Kahlschlag durch rücksichtlose Holzkonzerne zu schützen - und die damit die staatliche Autorität gegen sich auf den Plan riefen. Auch die Sarvodaya-Bewegung in Sri Lanka hat nicht auf den erleuchteten Herrscher, sondern auf die Initiierung einer sozial-spirituellen Basisbewegung gesetzt. Sarvodaya bedeutet "das Erwachen und die Wohlfahrt aller". Diese Bewegung begann in Sri Lanka Ende der fünfziger Jahre, als kleine Gruppen von Studenten zu Arbeitsferien in die armen ländlichen Gebiete aufbrachen. Die Sarvodaya-Projekte bestanden hauptsächlich aus dem Bau von Straßen, Bewässerungsanlagen und Vorschuleinrichtungen, der Einrichtung von Gemeinschaftsküchen sowie der Förderung kommunaler Handwerke und Kooperativen. Die Sarvodaya-Bewegung hat auch eine neue Vorstellung von Erleuchtung entwickelt. Das Erwachen wird nicht als ein sich in Isolation vollziehender Akt gesehen, vielmehr kann sich die persönliche Erleuchtung nur in enger Wechselwirkung mit Bewußtwerdungsprozessen in der lokalen Gemeinschaft, der Nation wie der gesamten Welt vollziehen.
Der Same solcher buddhistischen Basisbewegungen hat heute weltweit Früchte getragen und hat sich schon seit langem mit westlichen Formen sozialer, ökologischer und therapeutischer Bewegung ver-einigt. Die heutigen Ansätze engagierten Bodhisatt-va-Handelns sind vielgestaltig und zahlreich. Der Bogen spannt sich von Meditationswochen Thich Nhat Hanhs für Umweltschützer über Spendensammlungen für Leprastationen in Vietnam bis hin zu Straßenretreats unter Obdachlosen. Sie reichen von den Bemühungen S.H. des Dalai Lama um Freiheit und Autonomie für das tibetische Volk und seine Religion über Briefaktionen für inhaftierte Mönche in Burma bis zur Hilfe beim Aufbau von Schulen für tibetische Flüchtlingskinder oder Waisenkinder in Bangladesh oder Initiativen zur Rettung der Wälder des Himalaya. Initiativen gegen Massentierhaltung in Österreich, die buddhistische Gefangenenarbeit von Angulimala in England, Maha Ghosanandas Friedensmarsch durchs kriegszerstörte Kambodscha oder Meditationswochen mit Tetsugen Glassman Roshi in Auschwitz sind ebenso Formen engagierten Buddhismus wie die Sterbebegleitung des Zen Hospiz Centers San Francisco oder die Bemühungen von Sakyadhita um die Wiederherstellung der vollen buddhistischen Nonnenordination.
Unendlich sind die Dharma-Tore des engagierten Bodhisattva-Handelns!. Was die buddhistischen Be-wegungen von anderen Formen sozialer und politischer Praxis unterscheidet, ist der Bezug auf die Lehre des Buddha als Weg gänzlich aus dem leidhaften Kreislauf des Daseins hinauszutreten und diese Befreiung dem Glück aller Wesen zu widmen. Der Tradition buddhistischer Visualisierungsübungen folgend, können wir uns erfahren als gequältes Mitwesen, als Versuchstier, als gefällter Baum. Und indem wir uns hineinfühlen in das Leid anderer, verbinden wir uns mit dem, was größer ist als wir selbst und wir spüren etwas von der Einheit allen Lebens. Alle einzelnen Ziele, alle Erfolge, alle Nie-derlagen, erlebtes Glück und erfahrenes Leid - wir sehen es immer in Bezug auf den vollkommenen Zustand der Friedens und des Erwachens, in dem es weder Geburt noch Tod, weder Werden noch Vergehen gibt und in dem Aktion und Kontemplation eins und ununterscheidbar sind.
Vom engagierten Ich zur Selbstlosigkeit Wer wirklich gibt und sich für andere engagiert, hilft zugleich sich selbst. So sagt Shakyamuni Buddha im Satipatthana Sutra:
Sich selbst schützend, schützt man andere,
andere schützend, schützt man sich selbst.
(Satipatthana Samyutta, Nr. 19)
In dieser Einheit heilsamen Wirkens für sich selbst und für andere, in diesem nicht-dualistischen, offenen Geist liegt die befreiende Kraft tätigen Mitgefühls (Karuna) und gelebter Bodhisattvaschaft. Aber heilsames Tun und Gefahr liegen hier nahe bei-einander. Allzu leicht wird diese Einheit verfehlt und stattdessen in dualistischer Weise falsch verstandene Selbstaufgabe oder verbrämter Egoismus betrieben. Wer auf altruistische Weise den eigenen Vorteil sucht, verfängt sich in den Fallstricken des Ego. Denn wer anderen hilft, kann damit einerseits das eigene Selbstbild des Wohltätigen und Gebenden nähren und andererseits den Schwachen in seiner Abhängigkeit und Schwäche bestätigen. Dieses oft als Helfersyndrom beschriebene Phänomen hat schon so manchen wohlmeinenden Helfer zum schädlichen statt nutzenden Handeln gebracht. Die Selbstbestä-tigung, die aus Helfen und Geben erwächst, kann auch zur Sucht werden, zur Gier nach Anerkennung und Bewunderung, die stets neues Geben und grenzenlose Opferbereitschaft bis hin zum burning out fordert. Am Ende ist das Helfer-Ego schließlich selbst zum hilfsbedürftigen Objekt, zum hilflosen Helfer geworden. Nur beständige Übung in der Rein-heit der Motivation sowie selbstkritische Beobachtung können vor dieser Fehlentwicklung schützen. Beim Geben und Helfen müssen Geist und Blick nicht nur auf den Empfangenden gerichtet sein, sondern auch auf den Geber selbst. Da nach der Lehre des Buddha ein letztes Subjekt solch helfenden Handelns nicht auszumachen ist, gibt es schließlich auch nichts, woran wir hängen oder das wir bestätigen könnten. Letztlich gibt es nur Handlung aber keinen Handelnden. Darum üben sich Praktizierende der Mahayana-Tradition in der Haltung: was auch immer durch dieses Tun an Heilsamem und Verdienst geschaffen sein mag, ich hafte nicht daran, sondern übertrage es restlos auf alle Wesen. Soziales buddhistisches Engagement muss sich also auf eine tragfähige Grundlage von Achtsamkeit, Einsicht und Meditation stützen. Auf einem solchen Fundament wachsen Stabilität und Dauer.
Frei von Haß, den Buddha im Gegner sehen Neben der Motivation müssen wir auch die Qualität unseres engagierten Tuns reflektieren. Jemanden mit Wohltätigkeit und Gaben zu überschütten kann ebenso schädlich sein, wie notwendige Kritik an falschem Denken und Handeln zu unterlassen. Hilfe sollte in der Regel nicht zur Dauer-Alimentierung werden, die Geber und Empfangende in ein Abhängigkeitsverhältnis kettet. Auch liebende Strenge und offene Kritik sind in vielen Situationen wirkungsvollere Hilfen als Schweigen und vermeindlich tolerantes Gewährenlassen. Dies ist insbesondere in der Sphäre religiöser oder politischer Machtausübung notwendig.
Viel manifestes Leid in der Welt kommt nicht aus unveränderlichen Naturgesetzen, sondern ist menschgemacht, hat konkrete Ursachen und Verursacher, die erkannt und benannt werden können, wurzelt aber auch in anonymen abstrakten Systemstrukturen, die die Mehrheit von uns zu ihren Opfern machen. Letztere Erkenntnis hat jedoch in vielen Sozialbewegungen zur Herrschaft abstrakter Begriffe, übervereinfachter Ursache-Wirkungszu-schreibungen und zorniger Anklagen an die Stelle mitfühlenden Handelns und der Veränderung des eigenen Selbst gesetzt (insb. im Marxismus). Systeme können kaum besser sein als die Menschen, die sie geschaffen haben und die sie tragen. Wir sollten daher zuerst immer den Blick auf den Menschen und den Zustand seines Geistes richten, der von Zorn, Gier, Haß aber auch von Angst oder blosser Unwissenheit geprägt sein kann. Alles was geschieht und uns widerfährt - an karmisch heilvollem wie unheilvollem - geht letztlich auf Taten einzelner zurück. Im Zentrum all unserer Bemühungen steht darum das in Kenntnis wie Unkenntnis handelnde Individuum. Gestützt auf den Dharma brauchen wir uns also nicht zu scheuen engagiert Stellung zu nehmen. Aber Kritik sollte stets die Würde des Kritisierten anerkennen und auch in ihm den Buddha sehen, der seiner wirklichen Natur nicht gewahr ist. Durch höfliche Briefe z.B. an Regierungsverantwortliche in Burma, in denen wir die Sorge von uns westlichen Buddhisten über das Schicksal inhaftierter Sangha-Mitglieder zum Ausdruck brachten, ist es zum Beispiel vor einigen Jahren gelungen, die Freilassung einer grösseren Zahl buddhistischer Mönche aus burmesischer Haft zu erwirken.
Engagiertes Bodhisattva-Handeln ist praktizierte univerelle Verantwortung Die Verwirklichung der Buddhaschaft beginnt mit der Veränderung des eigenen Selbst, aber sie endet nicht damit. Die buddhistische Ethik der Gewaltlosigkeit und des Nicht-Verletzens steht in schreiendem Gegensatz zu weltweit herrschendem Krieg, Unrecht und Gewalt. Solange wir den Blick nicht von unseren eigenen Schwächen und Unzuläng-lichkeiten lösen, brauchen wir uns auch nicht zu scheuen, berechtigte Kritik an sozialen und politischen Mißständen zu üben. Engagierter Buddhismus ist daher macht- und hierarchiekritisch. Aber er ist zugleich vorsichtig mit schnellen Schuld- und Ursachenzuweisungen. Die Ursache-Wirkungsbezie-hungen in einer hochgradig vernetzten Welt sind bei weitem nicht so einfach überschaubar wie die Strukturen der historischen Gesellschaften, in denen sich der Dharma jahrhundertelang entwickelt und ausgebreitet hat. Und anders als in den überschaubaren Gesellschaften früherer Zeit ist eine reine Motivation heute allein nicht mehr genug. Diese Motivation muß sich auch in einem Handeln niederschlagen, welches der Komplexität und Vielschichtigkeit der modernen Lebenswelt Rechnung trägt. In einer globalisierten Welt steht die Kleidung, die wir tragen oder der Hamburger den wir essen, in multikausaler Beziehung zu Kinderarbeit und feudalistischer Ausbeutung in asiatischen Schwellenländern und zur Abholzung des tropischen Regenwalds, um Weideflächen für die Rinderherden der Fast-Food-Kon-zerne zu schaffen. Bodhisattva-Handeln steht darum heute für ein Handeln in globaler, ökologischer und sozialer Verantwortlichkeit. Befreiung vom Leid ist gleichzeitig ein gemeinschaftlicher wie ein individueller Weg. Es gibt kein isoliertes Ich als soziale Einheit. Selbstlosigkeit wie grenzenloses Selbst - beides beinhaltet letztlich das Gleiche. Die leidenden Mitwesen, die arbeitslosen oder schwer depressiven Menschen in den reichen Ländern des Nordens wie die Ausgebeuteten und Entrechteten in den armen Ländern des Südens, die gequälten und von Ausrottung bedrohten Tiere, wie die ganze ausgeraubte und geschundene Natur - sie alle sind Teile unseres grenzenlosen Selbst. Und indem wir aus einem solchen Gefühl und einem solchen Bewußtsein heraus handeln, können wir unser Leiden an unserer Ich-Anhaftung schließlich ganz überwinden.
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von Franz-Johannes Litsch
Die Welt in der wir leben, ist tiefgreifend und global von Unheil geprägt. Täglich erreichen uns neue erschreckende Meldungen und Erkenntnisse, die jeweils die des Vortages bereits wieder verdrängen und vergessen lassen. Unüberschaubar summiert sich die Vielzahl und Dimension der Probleme, das Ausmaß an Gefährdung, Zerstörung und Verlust. Gewaltig ist das Maß an Schmerz und Elend, das zahllose Menschen und andere lebende Wesen gegenwärtig erfahren. Doch - all dies ist vom Menschen selbst verursacht und könnte vom Menschen überwunden und verhindert werden. Und wir alle sind daran beteiligt, als Opfer und als Täter.
Doch tun wir fast alle so, als ginge uns dies nichts an, als lebten wir gar nicht in dieser Welt sondern außerhalb, als seien wir eigentlich nur Zuschauer gegenüber einem Geschehen, das sich vor uns abspielt, uns mehr oder weniger anspricht, langweilt, interessiert oder abschreckt, aber nichts wirklich und unmittelbar mit uns zu tun hat. Die Wirklichkeit, sie ist ein Fernsehschirm! Wir sitzen vor ihm im Sessel, sicher und weich bei Bier und Chips. Alles ist außerhalb, alles ist weit weg! Zwischen mir und der Welt ist eine Mattscheibe, die klar trennt! "Die Hölle, das sind die Anderen!", so spricht in Sartres Schauspiel "Geschlossene Gesellschaft" einer, der selbst in der Hölle ist, ja selbst die Hölle ist. Und es sind immer die Anderen, die böse, schuld, lieblos oder zuständig sind.
Vor 2500 Jahren hat ein Mensch in Indien, Gautama Buddha, auf jahrelanger Suche nach den Ursachen des Leidens unter den Menschen, in einer tiefen Erfahrung folgende Einsicht erlangt: Die Ursache allen Leids ist die Abspaltung unserer Existenz von der Wirklichkeit! Es ist unser Glaube, unsere Ideologie, unsere Illusion, wir seien ein abtrennbares, eigenständiges Ding, ein Wesen, eine Person, ein Individuum, ein 'Ich'. Wir glauben dieses Ich abtrennbar vom Anderen, abtrennbar von der Welt, abtrennbar von der Natur, abtrennbar vom eigenen Körper, abtrennbar von allem Nicht-Ich. "Nur ich bin ich!" Ich bin mit nichts identisch! Aber ein Ich, das nur aus sich selbst besteht, mit nichts identisch ist, ist letztlich ein Nichts! Ja, es existiert nicht! Denn es besteht aus Nichts! Ein Ich ohne Welt, ohne Natur, ohne die Anderen, ohne Körper, ohne Nicht-Ich kann nicht existieren. Dieses Ich ist eine Illusion, ein Wahn! In Wahrheit sind wir mit diesem 'Ich' (diesem Ich-Konzept) von uns selbst getrennt!
Eben dieses leiderzeugende Denken in Extremform ist aber das Grundkonzept der modernen, westlichen, individualistischen Kultur! Unser Weltbild ist das der geschlossenen Gesellschaft, das des geschlossenen Ichs. Oder auch, es ist das Selbstbild des abgetrennten, autonomen, isolierten, für sich allein existierenden, eingemauerten Egos. Unerschütterlich beharren wir darauf: alles existiert für sich, abgetrennt vom anderen. Bewußtsein und Welt sind getrennt, Innen und Außen sind getrennt, Subjekt (Beobachter) und Objekt (Beobachtetes) sind getrennt, Mensch und Natur sind getrennt, Geist und Materie sind getrennt, Verstand und Gefühle sind getrennt usw. Es ist eine Weltanschauung der gespaltenen Wirklichkeit, ein Weltbild der abgespaltenen Wirklichkeit, eine Weltsicht des sich abspaltenden, jenseits einer zerspaltenen Welt einsam existierenden Ich-Gottes.
Und dieses Konzept, diese Illusion, diesen Wahn übertragen wir auf die ganze Wirklichkeit, trennen, zerlegen, analysieren, isolieren, vereinzeln, spalten alles - bis zum Kern des Atoms! Die Kernspaltung, die Atombombe ist tatsächlich die 'ultima ratio' (höchste Vernunft) unserer Zivilisation. Rationalität, Dualismus des Denkens, Unvereinbarkeit von Gegensätzen, Logik des Entweder-Oder, Abgrenzung und Verdinglichung von Begriffen und Definitionen, Verabsolutierung von Meinungen und Positionen, Herausbildung von Ideologien, Weltanschauungen und Dogmen kennzeichnen das heute 'herrschende' Denken.
Und auf Abspaltung, Reduktion, Vereinseitigung und Isolierung beruht ebenso unser alltägliches 'normales' Leben. Sie prägt unsere in zahllose Ressorts aufgepaltenen, sich gegenseitig fremden Bereiche unserer Kultur, unserer Arbeitswelt, unseres 'Privatlebens' (selbst ja schon wieder eine Abspaltung), sie prägt unsere Bildung und Ausbildung, insbesonders unsere Wissenschaft und Technik, ebenso die Wirtschaft und Politik, die Medizin, die Kunst, Philosophie, Moral und nicht zuletzt die Religion. Unsere Kultur hat die Weltsicht der abgespaltenen, zugleich aber verabsolutierten Teilwahrheiten gar zur einzig wahren und legitimen Weltanschauung erhoben und nennt sie Logik und Rationalität.
Die westliche Zivilisation hat mit dem Prinzip "divide et impera - teile und herrsche" die Welt erobert, nicht nur alle Bereiche unseres Lebens sondern auch alle Länder und Völker. Denn das Leitprinzip des spaltenden und sich abspaltenden Machtwillens ist wiederum, sich möglichst alles zur grenzenlosen Nutzung und Verfügung anzueignen. Unter der Ideologie der "Freiheit des Individuums", wurde in unserer Gegenwart die unbeschränkte Freiheit von Gier und Habsucht zum höchsten Wert und alles beherrschenden menschlichen Ziel. Wirtschaftlicher Erfolg, ökonomische Rationalität, Reichtum und Wachstum haben den Rang übermächtiger Götter erlangt, denen man sich vollständig unterwirft. In unbegrenzter Raubgier vereinnahmt der Moloch 'Produktion und Konsum' schließlich alles was verfügbar ist, einschließlich der eigenen Existenzgrundlagen. Der Mensch jedoch bleibt dabei ewig unbefriedigt und süchtig. Nicht fähig, sich davon zu befreien, zerstört er schließlich die Welt und sich selbst. Unser Erfolg ist wahrhaft "überwältigend".
Buddha sah, wir sind kollektiv psychisch krank! Krankheit macht Schmerzen, darum leiden wir. Aber Leiden ist auch unerkannte Weisheit, ist Antrieb für Heilung. Und Krankheit kann geheilt werden. Die Therapie ist: Frei von allen Konzepten, Begriffen und Vorstellungen, frei von aller Aufteilung, Abspaltung und Entgegensetzung, die Wirklichkeit unmittelbar und ganz so sehen, wie sie wahrhaft ist. Die Wirklichkeit SO sehen, das ist Meditation! Meditation ist die unmittelbare Wahrnehmung der Einheit, Ganzheit, Ungetrenntheit, Offenheit (in der Sprache Buddhas: Nicht-Dualität) dessen, was ist ! Da es hier kein vom Anderen getrenntes "Ich" gibt, bin "ich" mit allem verbunden und ist alles mit mir verbunden (anatta). Alle Erscheinungen, alle Vorgänge, alle Wesen sind miteinander verbunden, alles entsteht und vergeht in gegenseitiger Bedingtheit (paticca samuppada). Nichts existiert aus und für sich. Alles existiert als untrennbares Gewebe von Beziehungen (tantra). Die Wirklichkeit gleicht einem Netzwerk von Perlen, in dem jede Perle alle anderen in sich wiederspiegelt (Das Netz des Indra). "Dies ist, weil jenes ist und dies ist nicht, weil jenes nicht ist."
Auch Körper und Geist sind nichts aus sich und für sich Existierendes sondern Zusammentreffen (skandhas), Beziehung, Wechselwirkung von Wirkungen (dharmas). Die Wirklichkeit ist Ganzheit, in der alles sich gegenseitig enthält (dharmadhatu). Sie ist 'Leerheit' (sunyata) von aller Fixierung, Abgrenzung und Verdinglichung, ist Freiheit von aller Erstarrung und Behinderung, ist Offenheit unbegrenzter Entfaltung. Das Bewußtwerden dieser 'Leerheit', "mein" Einswerden (samadhi) ist das Erwachen (bodhi) zur 'Soheit' der Wirklichkeit (tathata). Die Welt ist so, wie ich bin und ich bin so, wie die Welt ist. Mehr noch, die Welt enthält mich, ich enthalte die Welt. Ja, die Welt ist 'mein wahres Selbst', und 'mein wahres Selbst' ist die Welt!
Wir sind somit nicht nur äußerlich untrennbar mit allem Existierenden verbunden sondern zutiefst auch innerlich. Denn unser Bewußtsein, unsere Wahrnehmung ist nicht abtrennbar von dem was geschieht. Die "Dinge" werden nur dadurch wirklich, daß sie Objekte, Inhalte, Hervorbringungen der Wahrnehmung werden. Umgekehrt ist das Subjekt, das Bewußtsein, die Wahrnehmung selbst wiederum Erscheinung, Funktion und Hervorbringung der "Welt". Das Ich und die Welt, die auf diese Weise wahr (genommen) werden, sind nicht getrennt in Ich-welt und Um-welt sondern, was da wahr ist, ist die eine untrennbare Beziehungswelt, die eine Ganzheitswelt, eine Mitwelt. Thich Nhat Hanh nennt es 'wechselseitiges Durchdrungensein' oder 'Intersein' (englisch 'Interbeing').
Und darum ist mein Selbst und mein Leben auch nie abtrennbar vom Leiden und Glück unserer Welt, nicht vom Leben und Tod der Pflanzen, der Bäume, der Tiere, nicht vom Leiden und der Überwindung des Leidens der Menschen und nicht abtrennbar von den Bedingungen, die den Erscheinungen zugrundeliegen. In all dem leben, leiden, sterben, wachsen und wiedererstehen wir selbst.
Buddha zog daraus die Konsequenz: "Der Bodhisattva (der auf dem Weg zur Buddhaschaft gehende) soll in bezug auf alle Wesen die Idee entwickeln: dies ist meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, meine Tochter, ja dies bin ich selbst. Wie ich selbst von allen Leiden gänzlich frei sein möchte, so möchten alle Wesen frei sein." (aus Prajnaparamita Sutra). Ich erlebe mich nicht mehr getrennt von allen Anderen, sondern erlebe mich in allen und die Andern in mir. Habe ich Mitgefühl mit mir, dann bedeutet dies Mitgefühl mit anderen zu haben und umgekehrt. "Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen, auf den anderen achtend, achte ich auf mich sich selbst." (Satipatthana Samyutta). Darum ist ungetrennte Achtsamkeit (sati), unparteiische Liebe (metta) und ungeteiltes Mitgefühl (karuna) gegenüber sich selbst und den Anderen immer gegenwärtige Praxis derjenigen, die Buddhas Weg folgen möchten.
Hier erfahren wir entgültig, wir sind auch nicht getrennt von den unerschöpflichen und wunderbaren Möglichkeiten der Wirklichkeit, vom Reichtum, der Weisheit und der Schönheit des Lebens, von der ursprünglichen Tiefe und Klarheit unseres Bewußtseins, von der wahren unbegrenzten Weite und Liebeskraft unseres Herzens, und von der in mir zum Ausdruck kommenden, beglückenden Entfaltungs- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen - der Buddhaschaft (buddhata).
Wer dem Weg Buddhas folgen möchte nimmt, wie die Formel heißt, 'Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha'. Buddha ist jener Mensch, der uns in der Verwirklichung seines ganzen Menschseins als Sucher und Lehrer vorausgegangen ist. Doch das vollerwachte Menschsein, die 'Buddha-Natur' ist in jedem Menschen ohne Unterschied - ist als Potential immer und überall vorhanden. Darum ist die Zuflucht zu Buddha letzlich die Zuflucht zu uns selbst, zu unseren noch verborgenen und verhinderten Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten zu entfalten, ist heute nicht mehr nur 'schönes höheres Streben'. Wir benötigen die radikale Verwirklichung unseres Menschseins, um die Menschheit und Welt in ihrer Existenz selber zu erhalten. Überleben und wahres Leben sind in der Geschichte der Erde erstmals eins geworden.
'Dharma' heißt Wahrheit und Wirklichkeit. Wir nehmen Zuflucht zur Wahrheit und Wirklichkeit, weil (wie wir oben sahen) unsere Selbsttäuschung und unsere Abtrennung von der Wirklichkeit die Welt und uns selbst in jenen Zustand gebracht haben, in dem wir sind. Zuflucht zum Dharma heißt, aufzuhören damit, uns in all jene Trennungen und Abtrennungen des Ichs zu flüchten und weiter anzuhaften an Träumen, Illusionen, Wunschvorstellungen, Ideologien, Konzepten und Dogmen über die Wirklichkeit, sondern uns dem zu stellen, was Hier und Jetzt ist, der 'Soheit' der Dinge. Das bedeutet auch, uns ebensowenig anzuklammern am Buddhismus als Heilsgebäude und Nirvanatrip. Der Weg Buddhas ist es, sich der Wahrheit und Wirklichkeit unmittelbar zuzuwenden. Darin hilft er uns, indem er uns in der ungetrennten Wahrnehmung und Begegnung, im Gewahrsein der Wirklichkeit schult.
'Sangha' heißt Gemeinschaft. Es bezeichnet zunächst die Gemeinschaft der Menschen, die dem Wege Buddhas folgen, geht in seiner tieferen Bedeutung aber darüber hinaus und meint letztlich die untrennbare Gemeinschaft, Einheit und Offenheit alles Lebendigen, der Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Wolken... Alles ist einbezogen, denn alles ist für den Buddhismus mit 'Erleuchtungsgeist', mit der 'Buddha-Natur' erfüllt. Zu dieser Gemeinschaft des Lebendigen nehmen wir letzte Zuflucht. Die Gemeinschaft derjenigen, die den Weg des Erwachens gehen, realisiert sich dadurch, daß die Einzelnen wirkliche Einsicht in die Gemeinschaft aller lebenden Wesen, alles umfassende Achtsamkeit und grenzenloses Mitgefühl entfalten. 'Sangha' - mit dem Herzen gelebte Gemeinschaft - das ist jene Erfahrung, die wir letztlich alle als wirkliches Glück kennen und suchen.
Der tibetische Meditationslehrer Sogyal Rinpoche hat all das hier gesagte in folgenden knappen Worten ausgesprochen:
"Unsere heutige Welt steckt in einer beispiellosen Krise, die das bloße Überleben der Menschheit in Frage stellt. Wissenschaftler und Philosophen haben wiederholt auf die tiefere Ursache dieser Krise hingewiesen: eine "Weltanschauung", die die Erde und die Menschen gleichsam als Maschinen betrachtet und ignoriert, daß wir alle zueinander sowie mit allen Lebensformen und der Umwelt in einer Wechselbeziehung stehen. Unsere bruchstückhafte Sichtweise hat eine zersplitterte Welt geschaffen, mit Individuen, die einander und sich selbst entfremdet sind. Viele Menschen haben inzwischen erkannt, daß jetzt die größte Quelle der Hoffnung für die Menschheit darin liegt, unsere Aufmerksamkeit nach innen zu richten und unser inneres Universum zu erforschen, in die Natur des Geistes und des Herzens zu schauen, so wie es alle spirituellen Traditionen lehren. Indem wir unsere Sichtweise und innere Einstellung verändern, Herz und Geist transformieren, können wir auch die Welt um uns ändern."
Wer in weltlichen Angelegenheiten
ein Hindernis für seine Übung sieht,
weiß nur,
daß es keinen Weg in weltlichen Dingen gibt,
während er zugleich verkennt,
daß es so etwas wie weltliche Dinge nicht gibt,
die vom Weg unterschieden werden könnten.
(Zen Meister Dogen: Shobogenzo I)
Weil im Kreislauf des Samsara Glück und Leid aller Wesen untrennbar miteinander verbunden sind, kann die Erleuchtung erst dann wirklich vollständig sein, wenn auch das letzte Wesen den leidhaften Kreislauf der Existenzen verlassen hat. Wer dies erkennt, stellt sein Streben nach Erleuchtung in den Dienst aller Wesen. Wem Wohl und Wehe der anderen genauso am Herzen liegen wie sein eigenes, der geht den Weg tätigen Mitgefühls und Erbarmens, den Weg des Bodhisattva. Ein Bodhisattva hilft den Wesen auf dreifache Weise: durch seine Gedanken, seine Worte und seine Handlungen. Zu den helfenden und reinigenden Gedanken zählen die Öffnung von Geist und Herz für andere, die Übung der Gleichsetzung von sich selbst und anderen und all die vielen anderen bewährten geistigen Übungen zur Entfaltung von liebender Güte und Mitgefühl. Was die Rede betrifft, so hilft der Bodhisattva anderen Wesen durch Worte der Ermutigung und des Trostes, durch achtsame und heilsame Rede, getragen von Zuhören und Verständnis. Der Weg des Bodhisattva-Handelns schließlich ist der Weg tätiger Liebe. Das Handeln zum Wohle aller Wesen ist vielgestaltig und unermeßlich. Wir leben in einer Welt grenzenlosen Leids und Unrechts. Nur wer sich vom Leid der anderen wirklich berühren läßt, der kann aus echtem Mitgefühl und frei von ich-bezogenen Motiven handeln, denn wer seines Ich nicht gedenkt, ist frei von Verhaftungen und kann sich so wirklich engagieren im Dienste anderer.
Der engagierte Buddhismus gründet sich auf das Bodhisattva-Ideal des selbstlosen Handels, das die Wesen zum erleuchteten Zustand führt. Engagierter Buddhismus ist kein Novum westlichen oder neuzeitlichen Buddhismus, sondern er wurzelt im Herzen des Dharma (Dhamma) selbst. Jeder, der seine Motivation aus dem Dharma schöpft und sein Handeln auf das Wohlergehen anderer richtet, ist ein engagierter Buddhist. Handeln zum Wohle aller Wesen beruht auf genauer Kenntnis der Ursachen von Leid und Schmerz. Dabei können wir nicht blind gegenüber den politischen und gesellschaftlichen Strukturen sein, die unser Leben bestimmen und unser kollektives Karma (Kamma) prägen. Schon Buddha selbst hat in vielfältiger Weise zu Politik und Gesellschaft seiner Zeit Stellung genommen. Er hat zwar kein gesellschaftliches Reformmodell ent-worfen, jedoch zahlreiche Ideen und Vorschläge zur Gestaltung einer humanen und gerechten gesell-schaftlichen Ordnung unterbreitet. Unzählige Gestaltungsimpulse für die Entwicklung der ostasiatischen Gesellschaften gehen so direkt auf Buddhas gesellschaftspolitische Lehren und auf die Aktivitäten früher engagierter Buddhisten wie Asoka und Nagarjuna zurück.
Wurzeln des Bodhisattva-Ideals engagierten Handels Der Buddhismus ist im Kern egalitär. Alle Wesen besitzen die Buddha-Natur und damit das gleiche heilige Potential. Unser Streben nach Erleuchtung wie unser gesamtes individuelles Handeln ist jedoch in sozio-historische Bedingungen eingebettet, die Entfremdung, Übelwollen, Aggression und ruheloses Erwerbsstreben institutionalisiert haben. Wir können diese Bedingungen auch als unsere kollektive karmische Erblast auffassen, die in unzähligen früheren Existenzen erzeugt, als mannigfaltige Frucht vergangener Taten immer wieder auf uns zurückfällt. Die Gewohnheiten kollektiven karmischen Handelns formen die sozialen Institutionen einer Gesellschaft. Es ist die Resonanz gleicher und ähnlicher Erfahrungsmuster, die schließlich zu sozialen Institutionen erstarren und die jeder jungen Generation als Zwangsgeflecht überlieferter Normen und Gesetze und erstarrter Dogmen entgegentreten.
Um das Leid des Samsara zu überwinden und um den vollkommenen Zustand zu erlangen, müssen wir uns auch von den überkommenen sozialen Konditionierungen frei machen, die uns an die Strukturen der Wandelwelt binden und die Entfaltung des Erleuchtungsgeistes blockieren. Die Verwirklichung des Bodhisattva-Ideals im Bereich des Handelns liegt somit auch in der Schaffung sozialer Bedingungen, die für die positive Umgestaltung der Individuen günstig sind. Soziale Aspekte haben daher in der Lehre des Buddha von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. So hat Buddha u.a. das indische Kastensystem verurteilt. Das Sonadanda Sutta kritisiert ausdrücklich die brahmanische Vorherrschaft. Buddha hat auch - um ein weiteres Beispiel zu nennen - auf den Zusammenhang zwischen der Zunahme sozialen Elends und der Verbrechensrate eines Landes aufmerksam gemacht und damit einerseits auf die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wohlergehens für jedermann hingewiesen und andererseits die Nutzlosigkeit aufgezeigt, das Verbrechen durch strenge Bestrafung der Täter wirksam zu bekämpfen. Im frühen Buddhismus werden egalitäre und dezentrale monastische Strukturen anstelle der zentralisierten und hierarchischen Gesellschaftsstrukturen jener Zeit favorisiert. So wird die Autorität eines jeden Mönchs allein durch die Dauer der Sangha-Zugehörigkeit bestimmt.
Schon lange vor dem Aufkommen der Mahayana-Schule mit ihrer ausdrücklichen Betonung des Bodhisattva-Ideals, hat bereits der frühe Buddhismus das selbstlose Handeln im Dienst der Mitwesen als höchsten Erleuchtungsweg beschrieben und durch das überzeugende Beispiel zahlreicher Anhänger der Lehre praktisch vorgelebt. So verfügt insbesondere der Theravada-Buddhismus über eine lange und kontinuierliche Tradition politischer und sozialer Aktivität, die ihren Ausgangspunkt in den sozialen Lehren des Pali-Kanon hat. Den Bodhisattva-Weg gibt es also bereits im Theravada, und er ist keine Eigenheit des späteren Mahayana-Buddhismus. So heißt es im Angutta-Nikaya:
"Und wiederum, ihr Mönche, was den Menschen angeht, der sowohl um sein eigenes als auch um das Wohlergehen anderer sich bemüht hat - von diesen vier (hier aufgezählten, von denen sich die drei zuvor genannten gar nicht oder nur einseitig bemühen - Anm. d. Verf.) ist letzterer der beste und oberste und höchste und erhabenste."
Indem der Bodhisattva sein eigenes Handeln in den Dienst aller Wesen stellt, verwirklicht er den Zu-stand der Selbstlosigkeit, der Einheit von Ich- und Nicht-Ich. Dieser Zusammenhang von persönlichem und allgemeinem Wohlergehen bildet das Fundament einer erleuchteten Politik, eines Handelns, dessen Ausgangspunkt die Umgestaltung der eigenen Persönlichkeit bildet. Besonders der Herrscher Asoka (3. Jahrhundert vor Chr.) und später Nagarjuna, der bedeutendste Mönchsgelehrte des indischen Mahayana, haben po-litische und soziale Handlungsgrundsätze defi-niert, die bis in unsere Zeit Gültigkeit haben.
Asoka hat das Prinzip der Gewaltlosigkeit ausdrücklich auf das politische Handeln bezogen und auf den Krieg als Mittel der Politik bewußt verzichtet und auch die Nachbarländer aufgefordert, seinem Beipiel zu folgen. Zwar behielt er die Todesstrafe für extreme Verbrechen bei, schuf jedoch gleichzeitig einen verbindlichen juristischen Verfahrensweg. Im Bereich der Sozialpolitik förderte er das Handeln aus Mitgefühl und schuf gleichzeitig die institutionellen Voraussetzungen zur praktischen Verwirklichung der buddhistischen Ethik. Medizinische Hilfsdienste für die Armen und Kranken, Wohnstätten für Ältere und Programme zur Durchführung öffentlicher Arbeiten sowie zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen legen historische Zeugnisse dieser Bemühungen ab. In Asokas Staat gab es erstmals ernannte Beamte für öffentliche Wohlfahrtsangelegenheiten. Im Bereich der Verwaltungsstruktur förderte er politische Dezentralisierung. Während er einerseits auf strenge politische Autorität setzte, delegierte er doch gleichzeitig beträchtliche Autonomie an seine Provinzgouverneure. Obwohl Asokas Reich keinen Bestand hatte, hat sein Engagement reichhaltige Anregungen gegeben, wie sogar ein Königreich in eine Art sozialistisches Gemeinwesen mit humanem Antlitz transformiert werden kann. Mit Asoka begann die Geschichte des Buddhismus als Staatsreligion, die lange Tradition des cakkavatti oder erleuchteten Herrschers. Nach Asokas Ansicht sollte das Staatsgefährt auf den zwei Rädern der Macht (anacakka) und Rechtmäßigkeit (dhamma cakka) laufen, mit der Autorität des buddhistischen Monarchen (dhamma raja) an der Spitze und legitimiert durch die monastische Sangha. Durch Asokas Politik erhielt das Bodhisattva-Handeln zum Wohle der Wesen einen klaren institutionellen Rahmen und eine gesellschaftspolitisch begründete Ausrichtung. Dabei wurde die Sangha jedoch zum politischen Machtfaktor und in gewissem Sinne auch Teilnehmer an der Macht. Die Sangha geriet damit in das Spannungsfeld zwischen selbstlosem und engagiertem Bodhisattva-Handeln einerseits und der Instrumentalisierung eben solchen Handelns im Dienste politischer Stabilität und Machterhaltung; ein Widerspruch, der die Ge-schichte der asiatischen Sangha, insbesondere in den Theravada-Ländern, bis in unsere Zeit geprägt hat.
500 Jahre nach Asoka ist Nagarjunas "Juwelenkranz der königlichen Ratschläge" ein weiterer Meilenstein einer Sozialethik des Bodhisattva-Handelns, entstanden aus dem Geist der Mahayana-Tradition. Nagarjuna sieht in der Transformation der eigenen Persönlichkeit das Fundament einer buddhistischen Ethik sozialen Handelns. Grundlegend für Nagarjuna ist das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Wir sollen nicht in Aggressivität und Leidenschaft verfallen und auch nicht der eitlen Versuchung durch Macht und Eigentum erliegen. Weil Gewalt bloß neue Gewalt schafft, lehnt Nagarjuna auch die Todesstrafe ab und fordert - seiner Zeit weit voraus - Rehabilitationsmaßnahmen für Strafgefangene. Wie Asoka plädiert er für öffentliche Wohlfahrt, wobei seine Sorge gleichermaßen menschlichen wie nicht-menschlichen Lebensformen gilt.
Gegenwärtige Strömungen In der Mitte unseres Jahrhunderts formierten sich in Südostasien Kräfte, die nach neuen Wegen suchten, das Bodisattva-Ideal auf der Ebene direkten und sozialen Handelns zu verwirklichen. Zu erwähnen sind die sozial- und friedensangagierte buddhistische Bewegung in Vietnam, die Sarvodaya-Bewegung in Sri Lanka sowie die zahlreichen buddhistischen Basisbewegungen in Thailand wie auch in Burma, Bangladesh und Kambodscha, die engagierte Spiritualität mit der Schaffung selbstorganisierter Basisbewegungen und autonomer, selbstgenügsamer Gemeinwesen verbinden. Während das soziale und politische Wirken Thich Nhat Hanhs, der Nonne Sister Chang Khong und vieler ihrer Freunde während der sechziger, siebziger Jahre in Vietnam heute im Westen gut bekannt ist, wissen nur wenige von der engagierten Sozialarbeit zahlreicher Mönche, Nonnen und Laien in den Ländern des Theravada. In Thailand z.B. gibt es eine ganze Reihe lokaler buddhistischer Gemeinschaften, die ökonomisch weitgehend autark sind und die das lebendige Beispiel einer Verbindung von spiritueller Praxis mit einem Wirtschaften im Einklang mit den anderen Wesen der natürlichen Lebensumwelt liefern. Und es gibt dort bedeutende buddhistische Basisbewegungen, die einem sozial- und politisch engagierten Buddhismus prägende Gestalt gegeben haben. So arbeitet zum Beispiel der Träger des alternativen Nobelpreis 1995 und Initiator des International Network of Engaged Buddhists (INEB) Sulak Sivaraksa für einen vom Dharma inspirierten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsweg, der in deutlichem Kontrast zu den dominierenden westlichen Entwicklungsmodellen für die sogenannte 3. Welt steht. Er plädiert dabei für lokale Basisdemokratie und Gemeinschaftsformen, die sich am Vorbild der buddhistischen Sangha orientieren. Eine sehr einflußreiche Kraft engagierten Bodhisattva-Handelns in Thailand war Ajahn Buddhadasa Bhikkhu, dessen Kritik sich am traditionellen thailändischen Buddhismus entzündete, von dem oft nichts weiter als die leere Hülle zeremonieller Handlungen und quasi-magischer Rituale geblieben sei und deren Sinn vor allem im Herbeiwünschen persönlichen Glücks und Wohlergehens liege. Buddhadasa setzte dagegen die Vision eines "Dhamma-Sozialismus", der eng an die asokanische Tradition eines wohltätigen Paternalismus anknüpft.
Buddhadasas Vorstellungen und Handlungsideale unterscheiden sich von anders gestalteten Formen engagierten Buddhismus, wie beispielsweise den burmesischen Mönchen, die sich 1989 weigerten von den Militärs Opfergaben anzunehmen oder von den Aktivitäten thailändischer Waldmönche, die Urwaldbäume ordinierten, um sie vor dem Kahlschlag durch rücksichtlose Holzkonzerne zu schützen - und die damit die staatliche Autorität gegen sich auf den Plan riefen. Auch die Sarvodaya-Bewegung in Sri Lanka hat nicht auf den erleuchteten Herrscher, sondern auf die Initiierung einer sozial-spirituellen Basisbewegung gesetzt. Sarvodaya bedeutet "das Erwachen und die Wohlfahrt aller". Diese Bewegung begann in Sri Lanka Ende der fünfziger Jahre, als kleine Gruppen von Studenten zu Arbeitsferien in die armen ländlichen Gebiete aufbrachen. Die Sarvodaya-Projekte bestanden hauptsächlich aus dem Bau von Straßen, Bewässerungsanlagen und Vorschuleinrichtungen, der Einrichtung von Gemeinschaftsküchen sowie der Förderung kommunaler Handwerke und Kooperativen. Die Sarvodaya-Bewegung hat auch eine neue Vorstellung von Erleuchtung entwickelt. Das Erwachen wird nicht als ein sich in Isolation vollziehender Akt gesehen, vielmehr kann sich die persönliche Erleuchtung nur in enger Wechselwirkung mit Bewußtwerdungsprozessen in der lokalen Gemeinschaft, der Nation wie der gesamten Welt vollziehen.
Der Same solcher buddhistischen Basisbewegungen hat heute weltweit Früchte getragen und hat sich schon seit langem mit westlichen Formen sozialer, ökologischer und therapeutischer Bewegung ver-einigt. Die heutigen Ansätze engagierten Bodhisatt-va-Handelns sind vielgestaltig und zahlreich. Der Bogen spannt sich von Meditationswochen Thich Nhat Hanhs für Umweltschützer über Spendensammlungen für Leprastationen in Vietnam bis hin zu Straßenretreats unter Obdachlosen. Sie reichen von den Bemühungen S.H. des Dalai Lama um Freiheit und Autonomie für das tibetische Volk und seine Religion über Briefaktionen für inhaftierte Mönche in Burma bis zur Hilfe beim Aufbau von Schulen für tibetische Flüchtlingskinder oder Waisenkinder in Bangladesh oder Initiativen zur Rettung der Wälder des Himalaya. Initiativen gegen Massentierhaltung in Österreich, die buddhistische Gefangenenarbeit von Angulimala in England, Maha Ghosanandas Friedensmarsch durchs kriegszerstörte Kambodscha oder Meditationswochen mit Tetsugen Glassman Roshi in Auschwitz sind ebenso Formen engagierten Buddhismus wie die Sterbebegleitung des Zen Hospiz Centers San Francisco oder die Bemühungen von Sakyadhita um die Wiederherstellung der vollen buddhistischen Nonnenordination.
Unendlich sind die Dharma-Tore des engagierten Bodhisattva-Handelns!. Was die buddhistischen Be-wegungen von anderen Formen sozialer und politischer Praxis unterscheidet, ist der Bezug auf die Lehre des Buddha als Weg gänzlich aus dem leidhaften Kreislauf des Daseins hinauszutreten und diese Befreiung dem Glück aller Wesen zu widmen. Der Tradition buddhistischer Visualisierungsübungen folgend, können wir uns erfahren als gequältes Mitwesen, als Versuchstier, als gefällter Baum. Und indem wir uns hineinfühlen in das Leid anderer, verbinden wir uns mit dem, was größer ist als wir selbst und wir spüren etwas von der Einheit allen Lebens. Alle einzelnen Ziele, alle Erfolge, alle Nie-derlagen, erlebtes Glück und erfahrenes Leid - wir sehen es immer in Bezug auf den vollkommenen Zustand der Friedens und des Erwachens, in dem es weder Geburt noch Tod, weder Werden noch Vergehen gibt und in dem Aktion und Kontemplation eins und ununterscheidbar sind.
Vom engagierten Ich zur Selbstlosigkeit Wer wirklich gibt und sich für andere engagiert, hilft zugleich sich selbst. So sagt Shakyamuni Buddha im Satipatthana Sutra:
Sich selbst schützend, schützt man andere,
andere schützend, schützt man sich selbst.
(Satipatthana Samyutta, Nr. 19)
In dieser Einheit heilsamen Wirkens für sich selbst und für andere, in diesem nicht-dualistischen, offenen Geist liegt die befreiende Kraft tätigen Mitgefühls (Karuna) und gelebter Bodhisattvaschaft. Aber heilsames Tun und Gefahr liegen hier nahe bei-einander. Allzu leicht wird diese Einheit verfehlt und stattdessen in dualistischer Weise falsch verstandene Selbstaufgabe oder verbrämter Egoismus betrieben. Wer auf altruistische Weise den eigenen Vorteil sucht, verfängt sich in den Fallstricken des Ego. Denn wer anderen hilft, kann damit einerseits das eigene Selbstbild des Wohltätigen und Gebenden nähren und andererseits den Schwachen in seiner Abhängigkeit und Schwäche bestätigen. Dieses oft als Helfersyndrom beschriebene Phänomen hat schon so manchen wohlmeinenden Helfer zum schädlichen statt nutzenden Handeln gebracht. Die Selbstbestä-tigung, die aus Helfen und Geben erwächst, kann auch zur Sucht werden, zur Gier nach Anerkennung und Bewunderung, die stets neues Geben und grenzenlose Opferbereitschaft bis hin zum burning out fordert. Am Ende ist das Helfer-Ego schließlich selbst zum hilfsbedürftigen Objekt, zum hilflosen Helfer geworden. Nur beständige Übung in der Rein-heit der Motivation sowie selbstkritische Beobachtung können vor dieser Fehlentwicklung schützen. Beim Geben und Helfen müssen Geist und Blick nicht nur auf den Empfangenden gerichtet sein, sondern auch auf den Geber selbst. Da nach der Lehre des Buddha ein letztes Subjekt solch helfenden Handelns nicht auszumachen ist, gibt es schließlich auch nichts, woran wir hängen oder das wir bestätigen könnten. Letztlich gibt es nur Handlung aber keinen Handelnden. Darum üben sich Praktizierende der Mahayana-Tradition in der Haltung: was auch immer durch dieses Tun an Heilsamem und Verdienst geschaffen sein mag, ich hafte nicht daran, sondern übertrage es restlos auf alle Wesen. Soziales buddhistisches Engagement muss sich also auf eine tragfähige Grundlage von Achtsamkeit, Einsicht und Meditation stützen. Auf einem solchen Fundament wachsen Stabilität und Dauer.
Frei von Haß, den Buddha im Gegner sehen Neben der Motivation müssen wir auch die Qualität unseres engagierten Tuns reflektieren. Jemanden mit Wohltätigkeit und Gaben zu überschütten kann ebenso schädlich sein, wie notwendige Kritik an falschem Denken und Handeln zu unterlassen. Hilfe sollte in der Regel nicht zur Dauer-Alimentierung werden, die Geber und Empfangende in ein Abhängigkeitsverhältnis kettet. Auch liebende Strenge und offene Kritik sind in vielen Situationen wirkungsvollere Hilfen als Schweigen und vermeindlich tolerantes Gewährenlassen. Dies ist insbesondere in der Sphäre religiöser oder politischer Machtausübung notwendig.
Viel manifestes Leid in der Welt kommt nicht aus unveränderlichen Naturgesetzen, sondern ist menschgemacht, hat konkrete Ursachen und Verursacher, die erkannt und benannt werden können, wurzelt aber auch in anonymen abstrakten Systemstrukturen, die die Mehrheit von uns zu ihren Opfern machen. Letztere Erkenntnis hat jedoch in vielen Sozialbewegungen zur Herrschaft abstrakter Begriffe, übervereinfachter Ursache-Wirkungszu-schreibungen und zorniger Anklagen an die Stelle mitfühlenden Handelns und der Veränderung des eigenen Selbst gesetzt (insb. im Marxismus). Systeme können kaum besser sein als die Menschen, die sie geschaffen haben und die sie tragen. Wir sollten daher zuerst immer den Blick auf den Menschen und den Zustand seines Geistes richten, der von Zorn, Gier, Haß aber auch von Angst oder blosser Unwissenheit geprägt sein kann. Alles was geschieht und uns widerfährt - an karmisch heilvollem wie unheilvollem - geht letztlich auf Taten einzelner zurück. Im Zentrum all unserer Bemühungen steht darum das in Kenntnis wie Unkenntnis handelnde Individuum. Gestützt auf den Dharma brauchen wir uns also nicht zu scheuen engagiert Stellung zu nehmen. Aber Kritik sollte stets die Würde des Kritisierten anerkennen und auch in ihm den Buddha sehen, der seiner wirklichen Natur nicht gewahr ist. Durch höfliche Briefe z.B. an Regierungsverantwortliche in Burma, in denen wir die Sorge von uns westlichen Buddhisten über das Schicksal inhaftierter Sangha-Mitglieder zum Ausdruck brachten, ist es zum Beispiel vor einigen Jahren gelungen, die Freilassung einer grösseren Zahl buddhistischer Mönche aus burmesischer Haft zu erwirken.
Engagiertes Bodhisattva-Handeln ist praktizierte univerelle Verantwortung Die Verwirklichung der Buddhaschaft beginnt mit der Veränderung des eigenen Selbst, aber sie endet nicht damit. Die buddhistische Ethik der Gewaltlosigkeit und des Nicht-Verletzens steht in schreiendem Gegensatz zu weltweit herrschendem Krieg, Unrecht und Gewalt. Solange wir den Blick nicht von unseren eigenen Schwächen und Unzuläng-lichkeiten lösen, brauchen wir uns auch nicht zu scheuen, berechtigte Kritik an sozialen und politischen Mißständen zu üben. Engagierter Buddhismus ist daher macht- und hierarchiekritisch. Aber er ist zugleich vorsichtig mit schnellen Schuld- und Ursachenzuweisungen. Die Ursache-Wirkungsbezie-hungen in einer hochgradig vernetzten Welt sind bei weitem nicht so einfach überschaubar wie die Strukturen der historischen Gesellschaften, in denen sich der Dharma jahrhundertelang entwickelt und ausgebreitet hat. Und anders als in den überschaubaren Gesellschaften früherer Zeit ist eine reine Motivation heute allein nicht mehr genug. Diese Motivation muß sich auch in einem Handeln niederschlagen, welches der Komplexität und Vielschichtigkeit der modernen Lebenswelt Rechnung trägt. In einer globalisierten Welt steht die Kleidung, die wir tragen oder der Hamburger den wir essen, in multikausaler Beziehung zu Kinderarbeit und feudalistischer Ausbeutung in asiatischen Schwellenländern und zur Abholzung des tropischen Regenwalds, um Weideflächen für die Rinderherden der Fast-Food-Kon-zerne zu schaffen. Bodhisattva-Handeln steht darum heute für ein Handeln in globaler, ökologischer und sozialer Verantwortlichkeit. Befreiung vom Leid ist gleichzeitig ein gemeinschaftlicher wie ein individueller Weg. Es gibt kein isoliertes Ich als soziale Einheit. Selbstlosigkeit wie grenzenloses Selbst - beides beinhaltet letztlich das Gleiche. Die leidenden Mitwesen, die arbeitslosen oder schwer depressiven Menschen in den reichen Ländern des Nordens wie die Ausgebeuteten und Entrechteten in den armen Ländern des Südens, die gequälten und von Ausrottung bedrohten Tiere, wie die ganze ausgeraubte und geschundene Natur - sie alle sind Teile unseres grenzenlosen Selbst. Und indem wir aus einem solchen Gefühl und einem solchen Bewußtsein heraus handeln, können wir unser Leiden an unserer Ich-Anhaftung schließlich ganz überwinden.
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