meditation – der Weg zum Einen?
Vom Weg und Ziel buddhistischer Meditation
von Franz-Johannes Litsch
Vor ca. 200 Jahren gelangte die Lehre und Praxis des Buddha in das christlich und wissenschaftlich geprägte Abendland. Bedeutende Denker, Künstler, Gelehrte waren davon fasziniert, übersetzten, studierten, erforschten die Schriften. Doch interessierten sie sich kaum für die buddhistische Praxis, würdigten zwar die Ethik doch ignorierten die Meditation. Da es keine abendländische Tradition dieser Art gab, allenfalls das, was „Kontemplation“ genannt wurde, hatten die Europäerfür eine auf den Körper gestützte und auf die „Ichlosigkeit“ zielende Übungspraxis zunächst keinen inneren Zugang. Nur einige katholische Missionare ließen sich auf solcherart fremde „Glaubenspraktiken“ ein, um die ihnen in Asien jeweils begegnende Religion, Kultur, Bevölkerung besser verstehen und christlich bekehren zu können. Das geschah insbesondere in der Begegnung mit dem Hinduismus in Indien (Yoga) und mit dem Bud-dhismus in Japan (Zen). Ihre Erfahrungen mit östlicher Meditationspraxis sollten das westliche Bild dessen, was Meditation ist, fortan und bis heute sehr stark prägen.
Der große Durchbruch im westlichen Interesse an Meditation geschah in den berühmten Sixties des vergangenen Jahrhunderts, als westliche Abenteurer, Hippies, Drogenexperimentierer auf der Suche nach „Bewusstseinserweiterung“ nach Indien, Nepal, Südostasien reisten und dort hinduistischen und buddhistischen Meditationslehrern und -praktiken begegneten. Seltsamerweise gelang es diesen aber kaum, das bereits vorhandene westliche Bild von Meditation und Spiritualität nachhaltig zu klären oder zu korrigieren. Im Gegenteil, die Verwirrung und Verzerrung verstärkte sich noch. Warum? Weil sich die allermeisten nicht von den tief ins individuelle und kollektive Unbewusste eingegrabenen, christlich-abendländischen Sichtweisen und Vorannahmen losmachen konnten oder wollten. Denn die abendländische Kultur hat ja ihrerseits sehr alte, feste und überzeugte Vorstellungen von dem, was Religion, was Spiritualität, was mystische Erfahrung ist. Ob bewusst christlich orientiert oder eher säkular eingestellt, ob bekennender Buddhist oder pragmatisch an Meditation interessiert, die Allermeisten interpretieren ihre meditative Praxis und Erfahrung gemäß den Vorstellungen, Konzepten, Begriffen der abendländischen Philosophie, Religion und Kultur.
Das ist zunächst nicht verwunderlich oder verwerflich, denn das tun wir Menschen ständig. Wir interpretieren die Phänomene, die uns begegnen, gemäß dem, was wir bereits kennen, gelernt haben und zu wissen glauben, auf dem Hintergrund von individuellen oder kollektiven Vor-Stellungen und Vorurteilen. Das ermöglicht uns, etwas schnell zu erkennen und schnell zu reagieren. Und heute – im Zeitalter der permanent anwachsenden Beschleunigung der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Verkehrs, der Medien, des Internets, des Smartphones – leben wir unter Verhältnissen, in denen ständiges und superschnelles Erfassen und Reagieren zum globalen Zwang geworden ist.
Nur gelegentlich in diesem Geschwindigkeitsrausch erkennen wir, wie sich hieraus auch fast alle unsere gigantisch anwachsenden Schwierigkeiten und Gefährdungen ergeben. Denn wir sind in keiner Weise geistig offen, nehmen nicht wirklich wahr, schauen nicht gründlich hin, sondern wir „checken“ fast immer schon was los ist und haben die Sache bereits (wortwörtlich) im Griff. Obwohl wir ständig Neues produzieren, wollen wir uns nicht wirklich auf Neues, Unbekanntes, Fremdes einlassen. Wir halten an dem fest, was wir konzeptuell (schon immer) wissen und besitzen, denn unser Festhalten scheint uns Sicherheit zu geben. Tatsächlich ist es die Quelle all unserer Unsicherheit und Angst.
In Bezug auf buddhistische Meditation besteht das dominierende geistig-kulturelle Grundmuster bei der Interpretation unserer meditativen Praxis in der griechisch-christlichen Metaphysik. Die Metaphysik ist jener Bereich der Philosophie, der sich mit den höchsten, ewigen und absoluten Wahrheiten befasst. Mit dem Sein, dem Geist, der Gottheit, der Seele, dem Selbst, dem Wahren, dem Einen. All das ist meta, d.h. „über“, der physika, dem „Sinnlich-Körperlichen“. Es ist jenseits des Wahrnehmbaren. Wenn es aber nicht wahrnehmbar ist, wie können wir dann davon wissen? Dazu sagten die Begründer der abendländischen Philosophie, die Griechen Parmenides, Platon, Aristoteles: Es ist der Geist in uns, das Denken, die Vernunft, die Ratio (nous, logos, epistemé), die uns zweifelsfreie Erkenntnisse und sicheres Wissen ermöglicht. Erstaunlicherweise vertraten die vor Buddha in Indien auftretenden Lehrer, Denker, Autoren der Upanischaden nahezu das Gleiche und nannten dieses höchste Geistige in uns „Atman“ (individuelles Selbst), im Kosmos „Brahman“ (universales Selbst). Das spirituelle Ziel, so lehrten sie, bestünde dem-nach darin, das Atman in uns und das Brahman in allem – also die unveränderliche Ich-Substanz in allen Erscheinungen – zu finden und als das Alleine, einzig Wahre und Wirkliche zu erkennen.
Die spätere christliche Mystik, insbesondere die des Meister Eckhart, fußt auf den Lehren des römischen Platon-Schülers Plotin (3. Jh.n.Chr.), dem Begründer des Neuplatonismus. Dessen Philosophie und Mystik stimmt auf erstaunliche Weise mit den monistischen Konzepten der Upanishaden und des Advaita Vedanta überein. Plotins Denken war sehr wahrscheinlich auch von Indien her beeinflusst, denn ihm war Indien nicht nur vom Hörensagen bekannt, er verehrte es und versuchte auch nach Indien zu reisen, um die dortigen Weisen („Gymnosophisten“) kennenzulernen. Plotin stammte aus Alexandria und diese bedeutende, von Alexander dem Großen gegründete ägyptisch-griechische Gelehrtenstadt war zugleich die wichtigste Drehscheibe des antiken Handelsaustauschs über die Seidenstraße zwischen dem Mittelmeerraum, Indien und China. Plotins Versuch nach Indien zu gelangen, scheiterte jedoch, so widmete er sich seiner eigenen philosophisch-mystischen Lehre und Praxis und wurde damit – obwohl entschiedener Gegner des Christentums – zu einem seiner wichtigsten Inspiratoren. Denn hier fand das noch junge Christentum die philosophische Begründung für seinen, den antiken Polytheismus bekämpfenden Monotheismus.
Plotins Philosophie und Mystik war völlig auf die Idee des Einen orientiert. Nur das Eine hatte für ihn Existenz, vom Einen ging alles aus, zum Einen sollte alles zurückkehren, um sich und die Welt zu erlösen. Das Eine war auch das Selbst. Plotin war der erste abendländische Philosoph, der den Begriff „Selbst“ benutze, in das westliche Denken einführte und zum höchsten geistigen Ziel erkor. Gott ist das Eine und das Eine ist Gott. Und Gott ist das wahre und absolute Selbst, das mit sich Identische. Ego sum qui sum, „Ich bin der ich bin“, heißt es in der lateinischen Bibelübersetzung von Moses aus Ägypten. Ca. 1600 Jahre vor Plotin hatte der ägyptische Pharao Echnaton schon das Konzept des höchsten, einen Gottes in seinem Reich einführen wollen, war damit aber (noch) gescheitert. Plotin lehrte: Der Weg zu Gott ist der Weg zum Einen, der Weg zum wahren Selbst, der Weg zur Einheit mit dem Einen. Damit war die Grundlage für die christliche Mystik geschaffen und fast alle christlichen Mystiker folgten und folgen bis heute diesem Gedanken und Ziel.
So haben wir im Abendland ein spirituelles Modell, mit dem wir fast zwingend zur Ansicht kommen, das indische Denken (ob hinduistisch oder buddhistisch) letztlich bereits zu kennen und dort nichts wirklich Neues und gänzlich anderes entdecken zu können. Die (vermeintliche) Übereinstimmung bestätigt unseren Befund ungemein, in dieser Doktrin auch die universale und letzte Wahrheit gefunden zu haben (philosophia perennis). Und so gelangen fast alle Mystikfreunde heute zu dem im Westen inzwischen geradezu zum Dogma gewordenen Satz: „Alle Religionen wollen letztlich (d.h. in der Mystik) das Gleiche und führen zu dem einen gleichen höchsten Ziel, nämlich dem einen Gott oder wahren Selbst. Deshalb kommt es darauf an, mit diesem absoluten ewigen Einen eins zu werden, selbst zu ihm zu werden, ja es in uns als schon immer vorhanden zu entdecken.“
Gotama Buddha – und darin besteht seine unerhörte Provokation – hat sich dieser Aussage nicht nur verweigert, sondern hat sie als die subtilste und gründlichste Täuschung erfahren und gelehrt, als das, was es letztlich ebenfallszu durchschauen gilt, um wahrhaft Befreiung zu erlangen. Er hat das nicht durch spekulatives Nachdenken herausgefunden, sondern auf dem Weg seiner meditativen Praxis, auf dem Weg der Samatha- und Vipassana-Erfahrung. Eben in jener Praxis, die ihn zur „vollständigen Befreiung“ kommen ließ. Nirgendwo in seinen vielen Tausend Lehrreden hat er von einem „höheren Ich“ einem „wahren Selbst“ oder einem „göttlichen Kern“ in uns allen gesprochen. Und doch wurde ihm das schon im alten Indien, in der Weiterentwicklung des Buddhismus zum Mahayana und wird ihm das heute im ich-beherrschten Westen immer wieder unterstellt und zugeschrieben. Hartnäckig setzt sich seit 2500 Jahren das metaphysische Grundkonzept der Existenz eines unzerstörbaren Ichs wieder und wieder durch und muss ständig neu zurückgewiesen werden. Auch im Buddhismus selber.
Der Buddha spricht von der Befreiung von selbstbezogener Anhaftung, vom Loslassen der Identitätsvorstellung, von Einsicht in die Substanzlosigkeit des Ichs und aller Erscheinungen. Doch lehnte er die Einheit als Weg und Ziel nicht völlig ab, sondern gab ihr eine durchauswichtige Bedeutung in der Meditationspraxis des „Samatha“. Samatha heißt „Sammlung“ und ist eine meditative Übung, die ihren Ursprung im Yoga hat. Es geht um die Konzentration des Geistes, um die Ausrichtung und Fixierung auf ein geistiges Objekt, um das zur Ruhe kommen, Klar werden und Eins werden des Geistes (Samadhi). Samatha hat immer nur ein Objekt (Atem, Bild, Farbe, Ton, Mantra usw.) und dieses Objekt muss möglichst beständig sein. Samatha ist ein Weg des Aufstiegs, vom Vielen zum Einen. Im Buddhismus werden acht Stufen gezählt, acht Jhanas (Dhyana, Vertiefungen) beschrieben und geübt. Im Yoga und allen hinduistischen meditativen Wegen ist Samatha/Samadhi der (einzige) Weg der Meditation und der Erlösung.
Buddha fand auf seiner Suche nach Befreiung vom Leiden diese Praxis unter den Shramanas (Einsiedlern und Asketen) seiner Zeit bereits vor. Er praktizierte denSamatha-Weg und erlangte in kürzester Zeit alle acht Stufen der Vertiefung. Doch wandte er sich enttäuscht davon ab, denn er hatte dabei nur eine zeitweilige – für die Dauer der Meditation vorhandene – keine vollständige Befreiung von Täuschung und Verlangen gefunden. Samatha führt – so sah er – nicht zu Nibbana (Nirvana) und Erwachen. Darum suchte er weiter, bis er seinen ihm eigenen meditativen Weg der Befreiung gefunden und verwirklicht hatte und das war „Vipassana“, bzw. Satipatthana, die Vergegenwärtigung der Achtsamkeit.
Vipassana (Vipashyana) heißt Einsicht oder Klarblick. Vipassana konzentriert sich nicht auf die Dinge und Objekte sondern durchschaut sie. Es erfährt und erkennt ihren nicht-greifbaren, nicht-dinglichen, nicht-substantiellen Charakter, bzw. die drei Daseinsmerkmale: anicca (Unbeständigkeit), dukkha (Unvollkommenheit), anatta (Substanzlosigkeit). Vipassana ist nicht auf ein Objekt der meditativen Betrachtung gerichtet und versucht, damit eins zu werden, sondern betrachtet alle Phänomene, nimmt die unendliche Vielheit und Vielfalt der Erscheinungen so direkt wie möglich wahr, aber bleibt zugleich davon frei. Vipassana konzentriert sich auch nicht auf ein dauerhaftes Objekt, sondern nimmt die Nichtfestigkeit, die Momenthaftigkeit, die Nichtfassbarkeit aller (vermeintlichen) Objekte wahr.
Samatha ist (immer noch) starr, ergreifend, festhaltend, Vipassana ist offen, fließend, alles loslassend. Samatha ist objektorientiert, Vipassana ist prozessorientiert. Samatha betrachtet geistige Konzepte (Vorstellungen), Vipassana betrachtet unmittelbare Wirklichkeit (Erfahrungen). Samatha stützt sich auf das Geist-oder Denkbewusstsein (nama), Vipassana stützt sich auf das Sinnesbewusstsein (rupa). Samatha erlangt und erfährt Einheit, Vipassana erlangt und erfährt Leerheit. Beides ist in keiner Weise Eins und das Gleiche, es besteht ein gravierender Unterschied, der letzte und entscheidende Unterschied, der nach Auffassung des Buddha zur wahren Befreiung führt.
Die Samatha-Praxis hat darin ihre unverzichtbare Bedeutung, dass sie den üblicherweise hoch aufgeregten und zerstreuten Alltagsgeist zur Sammlung, Ruhe und Klarheit bringt. Samatha macht unser Bewusstsein überhaupt erst fähig, Vipassana zu praktizieren und Einsicht in die Wirklichkeit der Erscheinungen zu erlangen. Samatha ist gleichsam das Instrument unserer Erforschung der Realität, mit dessen Hilfe wir diese erkennen können. Samatha ist das Mikroskop, durch das wir schauen, indem wir Vipassana praktizieren und so alle Phänomene bis auf den grundlosen Grund durchschauen. Wer von daher nur Samatha oder Samadhi praktiziert, der erlangt zwar für sich selbst zeitweiligen Frieden und gar Glückseligkeit, sieht letztlich jedoch nur seine eigenen Konzepte (von Gott, von Atman, vom Selbst).
Wer Vipassana mit Unterstützung durch Samatha praktiziert, der erlangt endgültige geistige Befreiung, geht über die Konzepte hinaus, weil er den letzten, den metaphysischen Täuschungen nicht mehr unterliegt. Das war und ist der meditative Weg und das Ziel des Buddha.
von Franz-Johannes Litsch
Vor ca. 200 Jahren gelangte die Lehre und Praxis des Buddha in das christlich und wissenschaftlich geprägte Abendland. Bedeutende Denker, Künstler, Gelehrte waren davon fasziniert, übersetzten, studierten, erforschten die Schriften. Doch interessierten sie sich kaum für die buddhistische Praxis, würdigten zwar die Ethik doch ignorierten die Meditation. Da es keine abendländische Tradition dieser Art gab, allenfalls das, was „Kontemplation“ genannt wurde, hatten die Europäerfür eine auf den Körper gestützte und auf die „Ichlosigkeit“ zielende Übungspraxis zunächst keinen inneren Zugang. Nur einige katholische Missionare ließen sich auf solcherart fremde „Glaubenspraktiken“ ein, um die ihnen in Asien jeweils begegnende Religion, Kultur, Bevölkerung besser verstehen und christlich bekehren zu können. Das geschah insbesondere in der Begegnung mit dem Hinduismus in Indien (Yoga) und mit dem Bud-dhismus in Japan (Zen). Ihre Erfahrungen mit östlicher Meditationspraxis sollten das westliche Bild dessen, was Meditation ist, fortan und bis heute sehr stark prägen.
Der große Durchbruch im westlichen Interesse an Meditation geschah in den berühmten Sixties des vergangenen Jahrhunderts, als westliche Abenteurer, Hippies, Drogenexperimentierer auf der Suche nach „Bewusstseinserweiterung“ nach Indien, Nepal, Südostasien reisten und dort hinduistischen und buddhistischen Meditationslehrern und -praktiken begegneten. Seltsamerweise gelang es diesen aber kaum, das bereits vorhandene westliche Bild von Meditation und Spiritualität nachhaltig zu klären oder zu korrigieren. Im Gegenteil, die Verwirrung und Verzerrung verstärkte sich noch. Warum? Weil sich die allermeisten nicht von den tief ins individuelle und kollektive Unbewusste eingegrabenen, christlich-abendländischen Sichtweisen und Vorannahmen losmachen konnten oder wollten. Denn die abendländische Kultur hat ja ihrerseits sehr alte, feste und überzeugte Vorstellungen von dem, was Religion, was Spiritualität, was mystische Erfahrung ist. Ob bewusst christlich orientiert oder eher säkular eingestellt, ob bekennender Buddhist oder pragmatisch an Meditation interessiert, die Allermeisten interpretieren ihre meditative Praxis und Erfahrung gemäß den Vorstellungen, Konzepten, Begriffen der abendländischen Philosophie, Religion und Kultur.
Das ist zunächst nicht verwunderlich oder verwerflich, denn das tun wir Menschen ständig. Wir interpretieren die Phänomene, die uns begegnen, gemäß dem, was wir bereits kennen, gelernt haben und zu wissen glauben, auf dem Hintergrund von individuellen oder kollektiven Vor-Stellungen und Vorurteilen. Das ermöglicht uns, etwas schnell zu erkennen und schnell zu reagieren. Und heute – im Zeitalter der permanent anwachsenden Beschleunigung der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Verkehrs, der Medien, des Internets, des Smartphones – leben wir unter Verhältnissen, in denen ständiges und superschnelles Erfassen und Reagieren zum globalen Zwang geworden ist.
Nur gelegentlich in diesem Geschwindigkeitsrausch erkennen wir, wie sich hieraus auch fast alle unsere gigantisch anwachsenden Schwierigkeiten und Gefährdungen ergeben. Denn wir sind in keiner Weise geistig offen, nehmen nicht wirklich wahr, schauen nicht gründlich hin, sondern wir „checken“ fast immer schon was los ist und haben die Sache bereits (wortwörtlich) im Griff. Obwohl wir ständig Neues produzieren, wollen wir uns nicht wirklich auf Neues, Unbekanntes, Fremdes einlassen. Wir halten an dem fest, was wir konzeptuell (schon immer) wissen und besitzen, denn unser Festhalten scheint uns Sicherheit zu geben. Tatsächlich ist es die Quelle all unserer Unsicherheit und Angst.
In Bezug auf buddhistische Meditation besteht das dominierende geistig-kulturelle Grundmuster bei der Interpretation unserer meditativen Praxis in der griechisch-christlichen Metaphysik. Die Metaphysik ist jener Bereich der Philosophie, der sich mit den höchsten, ewigen und absoluten Wahrheiten befasst. Mit dem Sein, dem Geist, der Gottheit, der Seele, dem Selbst, dem Wahren, dem Einen. All das ist meta, d.h. „über“, der physika, dem „Sinnlich-Körperlichen“. Es ist jenseits des Wahrnehmbaren. Wenn es aber nicht wahrnehmbar ist, wie können wir dann davon wissen? Dazu sagten die Begründer der abendländischen Philosophie, die Griechen Parmenides, Platon, Aristoteles: Es ist der Geist in uns, das Denken, die Vernunft, die Ratio (nous, logos, epistemé), die uns zweifelsfreie Erkenntnisse und sicheres Wissen ermöglicht. Erstaunlicherweise vertraten die vor Buddha in Indien auftretenden Lehrer, Denker, Autoren der Upanischaden nahezu das Gleiche und nannten dieses höchste Geistige in uns „Atman“ (individuelles Selbst), im Kosmos „Brahman“ (universales Selbst). Das spirituelle Ziel, so lehrten sie, bestünde dem-nach darin, das Atman in uns und das Brahman in allem – also die unveränderliche Ich-Substanz in allen Erscheinungen – zu finden und als das Alleine, einzig Wahre und Wirkliche zu erkennen.
Die spätere christliche Mystik, insbesondere die des Meister Eckhart, fußt auf den Lehren des römischen Platon-Schülers Plotin (3. Jh.n.Chr.), dem Begründer des Neuplatonismus. Dessen Philosophie und Mystik stimmt auf erstaunliche Weise mit den monistischen Konzepten der Upanishaden und des Advaita Vedanta überein. Plotins Denken war sehr wahrscheinlich auch von Indien her beeinflusst, denn ihm war Indien nicht nur vom Hörensagen bekannt, er verehrte es und versuchte auch nach Indien zu reisen, um die dortigen Weisen („Gymnosophisten“) kennenzulernen. Plotin stammte aus Alexandria und diese bedeutende, von Alexander dem Großen gegründete ägyptisch-griechische Gelehrtenstadt war zugleich die wichtigste Drehscheibe des antiken Handelsaustauschs über die Seidenstraße zwischen dem Mittelmeerraum, Indien und China. Plotins Versuch nach Indien zu gelangen, scheiterte jedoch, so widmete er sich seiner eigenen philosophisch-mystischen Lehre und Praxis und wurde damit – obwohl entschiedener Gegner des Christentums – zu einem seiner wichtigsten Inspiratoren. Denn hier fand das noch junge Christentum die philosophische Begründung für seinen, den antiken Polytheismus bekämpfenden Monotheismus.
Plotins Philosophie und Mystik war völlig auf die Idee des Einen orientiert. Nur das Eine hatte für ihn Existenz, vom Einen ging alles aus, zum Einen sollte alles zurückkehren, um sich und die Welt zu erlösen. Das Eine war auch das Selbst. Plotin war der erste abendländische Philosoph, der den Begriff „Selbst“ benutze, in das westliche Denken einführte und zum höchsten geistigen Ziel erkor. Gott ist das Eine und das Eine ist Gott. Und Gott ist das wahre und absolute Selbst, das mit sich Identische. Ego sum qui sum, „Ich bin der ich bin“, heißt es in der lateinischen Bibelübersetzung von Moses aus Ägypten. Ca. 1600 Jahre vor Plotin hatte der ägyptische Pharao Echnaton schon das Konzept des höchsten, einen Gottes in seinem Reich einführen wollen, war damit aber (noch) gescheitert. Plotin lehrte: Der Weg zu Gott ist der Weg zum Einen, der Weg zum wahren Selbst, der Weg zur Einheit mit dem Einen. Damit war die Grundlage für die christliche Mystik geschaffen und fast alle christlichen Mystiker folgten und folgen bis heute diesem Gedanken und Ziel.
So haben wir im Abendland ein spirituelles Modell, mit dem wir fast zwingend zur Ansicht kommen, das indische Denken (ob hinduistisch oder buddhistisch) letztlich bereits zu kennen und dort nichts wirklich Neues und gänzlich anderes entdecken zu können. Die (vermeintliche) Übereinstimmung bestätigt unseren Befund ungemein, in dieser Doktrin auch die universale und letzte Wahrheit gefunden zu haben (philosophia perennis). Und so gelangen fast alle Mystikfreunde heute zu dem im Westen inzwischen geradezu zum Dogma gewordenen Satz: „Alle Religionen wollen letztlich (d.h. in der Mystik) das Gleiche und führen zu dem einen gleichen höchsten Ziel, nämlich dem einen Gott oder wahren Selbst. Deshalb kommt es darauf an, mit diesem absoluten ewigen Einen eins zu werden, selbst zu ihm zu werden, ja es in uns als schon immer vorhanden zu entdecken.“
Gotama Buddha – und darin besteht seine unerhörte Provokation – hat sich dieser Aussage nicht nur verweigert, sondern hat sie als die subtilste und gründlichste Täuschung erfahren und gelehrt, als das, was es letztlich ebenfallszu durchschauen gilt, um wahrhaft Befreiung zu erlangen. Er hat das nicht durch spekulatives Nachdenken herausgefunden, sondern auf dem Weg seiner meditativen Praxis, auf dem Weg der Samatha- und Vipassana-Erfahrung. Eben in jener Praxis, die ihn zur „vollständigen Befreiung“ kommen ließ. Nirgendwo in seinen vielen Tausend Lehrreden hat er von einem „höheren Ich“ einem „wahren Selbst“ oder einem „göttlichen Kern“ in uns allen gesprochen. Und doch wurde ihm das schon im alten Indien, in der Weiterentwicklung des Buddhismus zum Mahayana und wird ihm das heute im ich-beherrschten Westen immer wieder unterstellt und zugeschrieben. Hartnäckig setzt sich seit 2500 Jahren das metaphysische Grundkonzept der Existenz eines unzerstörbaren Ichs wieder und wieder durch und muss ständig neu zurückgewiesen werden. Auch im Buddhismus selber.
Der Buddha spricht von der Befreiung von selbstbezogener Anhaftung, vom Loslassen der Identitätsvorstellung, von Einsicht in die Substanzlosigkeit des Ichs und aller Erscheinungen. Doch lehnte er die Einheit als Weg und Ziel nicht völlig ab, sondern gab ihr eine durchauswichtige Bedeutung in der Meditationspraxis des „Samatha“. Samatha heißt „Sammlung“ und ist eine meditative Übung, die ihren Ursprung im Yoga hat. Es geht um die Konzentration des Geistes, um die Ausrichtung und Fixierung auf ein geistiges Objekt, um das zur Ruhe kommen, Klar werden und Eins werden des Geistes (Samadhi). Samatha hat immer nur ein Objekt (Atem, Bild, Farbe, Ton, Mantra usw.) und dieses Objekt muss möglichst beständig sein. Samatha ist ein Weg des Aufstiegs, vom Vielen zum Einen. Im Buddhismus werden acht Stufen gezählt, acht Jhanas (Dhyana, Vertiefungen) beschrieben und geübt. Im Yoga und allen hinduistischen meditativen Wegen ist Samatha/Samadhi der (einzige) Weg der Meditation und der Erlösung.
Buddha fand auf seiner Suche nach Befreiung vom Leiden diese Praxis unter den Shramanas (Einsiedlern und Asketen) seiner Zeit bereits vor. Er praktizierte denSamatha-Weg und erlangte in kürzester Zeit alle acht Stufen der Vertiefung. Doch wandte er sich enttäuscht davon ab, denn er hatte dabei nur eine zeitweilige – für die Dauer der Meditation vorhandene – keine vollständige Befreiung von Täuschung und Verlangen gefunden. Samatha führt – so sah er – nicht zu Nibbana (Nirvana) und Erwachen. Darum suchte er weiter, bis er seinen ihm eigenen meditativen Weg der Befreiung gefunden und verwirklicht hatte und das war „Vipassana“, bzw. Satipatthana, die Vergegenwärtigung der Achtsamkeit.
Vipassana (Vipashyana) heißt Einsicht oder Klarblick. Vipassana konzentriert sich nicht auf die Dinge und Objekte sondern durchschaut sie. Es erfährt und erkennt ihren nicht-greifbaren, nicht-dinglichen, nicht-substantiellen Charakter, bzw. die drei Daseinsmerkmale: anicca (Unbeständigkeit), dukkha (Unvollkommenheit), anatta (Substanzlosigkeit). Vipassana ist nicht auf ein Objekt der meditativen Betrachtung gerichtet und versucht, damit eins zu werden, sondern betrachtet alle Phänomene, nimmt die unendliche Vielheit und Vielfalt der Erscheinungen so direkt wie möglich wahr, aber bleibt zugleich davon frei. Vipassana konzentriert sich auch nicht auf ein dauerhaftes Objekt, sondern nimmt die Nichtfestigkeit, die Momenthaftigkeit, die Nichtfassbarkeit aller (vermeintlichen) Objekte wahr.
Samatha ist (immer noch) starr, ergreifend, festhaltend, Vipassana ist offen, fließend, alles loslassend. Samatha ist objektorientiert, Vipassana ist prozessorientiert. Samatha betrachtet geistige Konzepte (Vorstellungen), Vipassana betrachtet unmittelbare Wirklichkeit (Erfahrungen). Samatha stützt sich auf das Geist-oder Denkbewusstsein (nama), Vipassana stützt sich auf das Sinnesbewusstsein (rupa). Samatha erlangt und erfährt Einheit, Vipassana erlangt und erfährt Leerheit. Beides ist in keiner Weise Eins und das Gleiche, es besteht ein gravierender Unterschied, der letzte und entscheidende Unterschied, der nach Auffassung des Buddha zur wahren Befreiung führt.
Die Samatha-Praxis hat darin ihre unverzichtbare Bedeutung, dass sie den üblicherweise hoch aufgeregten und zerstreuten Alltagsgeist zur Sammlung, Ruhe und Klarheit bringt. Samatha macht unser Bewusstsein überhaupt erst fähig, Vipassana zu praktizieren und Einsicht in die Wirklichkeit der Erscheinungen zu erlangen. Samatha ist gleichsam das Instrument unserer Erforschung der Realität, mit dessen Hilfe wir diese erkennen können. Samatha ist das Mikroskop, durch das wir schauen, indem wir Vipassana praktizieren und so alle Phänomene bis auf den grundlosen Grund durchschauen. Wer von daher nur Samatha oder Samadhi praktiziert, der erlangt zwar für sich selbst zeitweiligen Frieden und gar Glückseligkeit, sieht letztlich jedoch nur seine eigenen Konzepte (von Gott, von Atman, vom Selbst).
Wer Vipassana mit Unterstützung durch Samatha praktiziert, der erlangt endgültige geistige Befreiung, geht über die Konzepte hinaus, weil er den letzten, den metaphysischen Täuschungen nicht mehr unterliegt. Das war und ist der meditative Weg und das Ziel des Buddha.
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