Menschenrechtsarbeit als Pfad
von Richard Reoch
Helfen wollen ist der Motor für Richard Reoch, den Präsidenten von Shambhala International, den der Buddhismus seit seiner Kindheit begleitet. So ist sein soziales Engagement für die Menschenrechte, ob für Amnesty International oder andere internationale Friedensorganisationen, stets von Mitgefühl getragen. Chris Tamdjidi hatte die Gelegenheit, mit ihm in Karme Chöling (Vermont) ein Interview führen zu können.
Wie bist du als Westler Buddhist geworden?
Ich wurde 1948 in Toronto geboren und der Buddhismus gehörte schon sehr früh einfach zu meinem Leben dazu. Ich wuchs damit auf und wurde als Sechsjähriger Buddhist. Meine Eltern traten aus der schottischen presbyterianischen Kirchengemeinde aus, weil sie nicht die Haltung ihres Priesters zum Zweiten Weltkrieg teilten. Sie waren spirituell Suchende und schlossen sich viele Jahre später der "Pure Land Buddhist Community" um den Japaner Jodo Shinshu an, in der im Sinne des Buddhas des Mitgefühls praktiziert wurde. Meine Eltern und ich waren für viele Jahre die einzigen nichtjapanischen Gemeindemitglieder. Es war schon ungewöhnlich in den fünfziger und sechziger Jahren, Westler in einer japanischen Gemeinde zu sein. Alle Zen-Meister, welche die Gemeinde besuchten, wollten immer gern das Heim einer kanadischen Familie kennen lernen und so kam es, dass sie alle bei uns zuhause erschienen. Ich erinnere mich auch an den Besuch des großen T. D. Roshi (Daisetz Teitaro Suzuki 1870 – 1966), wurde an diesem Abend aber leider ins Bett geschickt, weil ich noch zu klein war. Rückblickend sehe ich, wie viel ich in dieser Zeit – meinen buddhistischen Entwicklungsjahren – gelernt habe: In Toronto ging ich sonntags regelmäßig zum Praktizieren, bis ich 23 war und nach London zog, um im Hauptquartier von Amnesty International zu arbeiten. Meditation, Mitgefühl für andere zu empfinden, diese Kernaussagen der Lehre Buddhas gehörten für mich zu meinem kulturellen und spirituellen Alltag dazu. Mein Lebensweg wurde entscheidend durch diese Zeit in der buddhistischen Gemeinde geprägt.
Gab es in deinen jungen Jahren auch so etwas wie ein Vorbild oder ein persönliches Schlüsselerlebnis, das dich veranlasste Buddhist zu bleiben?
Als kleiner Junge las ich ein Buch mit dem Titel "Das Leben großer Männer". Es enthielt Geschichten über Menschen, die etwas zu geben hatten und der Menschheit dienten – so wie Mahatma Gandhi und Albert Schweitzer. Ich las das Buch viele Male. Die Geschichten dieser Menschen wurden meine Vorbilder, ich wollte auch helfen. Helfen wollen, das ist wohl der Motor für meinen Lebensweg.
Und so kamst du zu Amnesty International?
Ja, ich fing 1971 als freiwilliger Helfer an und arbeitete insgesamt 23 Jahre in verschiedenen Bereichen von Amnesty. Zunächst war ich im Büro tätig, dann stellte ich als Assistent Nachforschungen über Folterungen an und arbeitete mit am ersten weltweiten Bericht über Folter, der von Amnesty herausgegeben wurde. Anschließend wurde mir die Aufgabe des ersten Vorort-Berichterstatters für Süd-Ostasien von Amnesty übertragen. Ungefähr fünf Jahre lang reiste ich nun über 42.000 Kilometer in Drittklass-Abteilen indischer Züge kreuz und quer durch Asien. Dabei arbeitete ich auch mit der tibetischen Exilgemeinde zusammen und hatte die Ehre, Seine Heiligkeit, den Dalai Lama, in die weltweite Arbeit von Amnesty einzuführen. Seine Heiligkeit stimmte damals zu, sich vermittelnd für inhaftierte buddhistische Mönche in Südvietnam einzusetzen. Ab 1978 war ich mit für die weltweite Öffentlichkeitsarbeit von Amnesty zuständig. Arbeitsschwerpunkt war nun vor allem, multikulturelle Grundsätze zu entwickeln, auf der diese demokratische Bewegung, in der mehr als 60 Sprachen gesprochen wurden, zusammenarbeiten konnte. Die Menschenrechtsbewegung hatte Unterstützer in 150 Ländern der Erde und deren Akteure besaßen ein sehr unterschiedliches Demokratieverständnis. Es war sehr spannend, quasi globale Grundsätze der Zusammenarbeit zu entwickeln und zu kommunizieren. 1993 endete meine Zeit bei Amnesty. In meiner Rolle als Vorsitzender einer internationalen Friedensarbeitsgruppe in Sri Lanka, der verschiedene Regierungsmitglieder und Vertreter internationaler Organisationen angehören, bemühe ich mich nun um das Voranschreiten des Friedensprozesses in Sri Lanka, das seit 19 Jahren vom Bürgerkrieg zerrüttet ist. Die Motivation für meine Arbeit ist dabei der Dharma. Der Dalai Lama sagte kürzlich, dass Menschenrechtsarbeit ein spiritueller Pfad ist. Das kann ich nur aus vollem Herzen bejahen.
Wie arbeitest du als Vermittler in Kriegs- oder Krisensituationen?
Als Ratgeber hatte ich mit beiden Parteien des Nordirland-Konflikts zu tun und als Vorsitzender der Arbeitsgruppe Sri Lanka komme ich auch mit älteren buddhistischen Mönchen in Kontakt, die eine militärische Lösung für den schwelenden ethnischen Konflikt favorisieren. In all dieser Arbeit ist das buddhistische Training, einen offenen Geist zu behalten und nicht zu urteilen, extrem wertvoll und mächtig. Es ist für mich die Grundlage, um überhaupt fähig zu sein, Menschen zuzuhören. Dieses Training erlaubt Friedensstiftern generell, Raum in Situationen zu bringen, die von extremer Klaustrophobie geprägt sind und wo sich oftmals Lösungen auftun, die vorher nicht für möglich gehalten wurden.
Welches Erlebnis hat dich am meisten beeindruckt?
Eine der buddhistischen Lehren besagt, dass es gilt, Dinge jenseits ihrer Erscheinungen zu erkennen, über die bloße Erscheinung hinauszugehen. Wir trainieren folglich in unserer Praxis, Situationen nicht als fest anzusehen. Ein gutes Beispiel, wo ich das am eindruckvollsten erfahren habe und was mich am meisten beeindruckte – obgleich ich viele Menschen getroffen habe, die gegen Folter aufgestanden sind – ist die Erinnerung an einen General der Armee Sri Lankas in Jaffna. Seine Truppen wurden beschuldigt, Zivilisten zu foltern. Aber als ich ihn traf, entdeckte ich in ihm die ungeheureren Anstrengungen, durch die er ging und die er unternahm, um Soldaten, die für Foltereinsätze verantwortlich waren, festzunehmen. Gleichzeitig zielte sein ganzes Bemühen darauf ab, diese Foltereinsatzeinheiten aufzulösen.
Welche Erfahrungen machst du als Buddhist in Krisensituationen? Wie reagieren gegnerische Parteien auf dich?
Viele Menschen bekommen in Krisensituationen Panik, Furcht kommt hoch, und sie werden überwältigt von mächtigen Gefühlsausbrüchen wie zum Beispiel Hass. Dank meiner Dharmapraxis bemerken Menschen, dass ich ruhig bleibe und nicht deprimiert werde, wenn ich Grausamkeiten um mich herum sehe. Ich bewahre eine offene Haltung und bin bereit, auch mit Tätern den Dialog zu führen. Es fällt mir nicht schwer, mich zwischen gegnerischen Seiten zu bewegen, egal ob es sich dabei um Argumente oder um Krieg handelt. Diese Fähigkeit haben aber nicht die Buddhisten allein für sich gepachtet, es ist eine Qualität, die viele Menschen besitzen, die sich in einer echten spirituellen Tradition üben.
Wo ist es dir gelungen, besonders hilfreich zu sein? Welche geschickten Mittel hast du dafür eingesetzt?
Mir fällt auf, dass ich viel Zeit in der Gegenwart von Menschen verbringe, die miteinander streiten. Für mich hat sich herauskristallisiert, dass, wenn es mir gelingt meinen eigenen Sitz zu halten, keine Partei zu ergreifen, bereit zu sein zuzuhören und keine Angst vor der Vielschichtigkeit der im Raum vorhandenen Gefühle zu haben, diese Haltung anderen Menschen ermöglicht, eine Beziehung zueinander aufzubauen und die Seinsberechtigung des Gegenübers anzuerkennen – trotz unterschiedlicher Argumente. Es entsteht ein Raum, der Unterschiedlichkeit konstruktiv aushält. Es hat auch etwas damit zu tun, ob Menschen bereit sind, die grundlegende Gutheit in jedem Menschen zu sehen und anzuerkennen. Ich sehe meine Aufgabe in Verhandlungen darin, Menschen darin zu unterstützen, dies zu erkennen. Dann entsteht ein viel stärkeres Band zwischen ihnen – oft nonverbal – das stärker ist als trennende Differenzen.
Welche Aussage Buddhas begleitet dich bereits dein Leben lang und warum?
Ein Satz aus dem Dhammapada: Hass wird nicht durch Hass beendet, Liebe allein beendet Hass. Diese Aussage ist so etwas wie ein immerwährendes Gesetz.
Wie verbindest du Praxis, Meditation und Arbeit?
Menschen trennen diese beiden Dinge oft voneinander. Sie denken, Meditation ist Praxis und Arbeit sei es nicht. Meine Erfahrung ist, dass beides nahtlos ineinander übergeht. Formale Meditationspraxis befähigt uns, mehr zu verstehen, wie unser Geist funktioniert. Arbeit hingegen versetzt uns in die Lage, konkret zu verstehen, wie unser eigener Geist tatsächlich arbeitet. Unsere Arbeit ist der unerschöpfliche Boden für die Praxis der sechs Paramitas von Großzügigkeit, Disziplin, Geduld, Mitgefühl, Meditation und Weisheit.
Du praktizierst schon lange Qigong, warum?
Es ist für mich die tägliche Kraft- und Energiequelle. Viele Menschen kommen in Kontakt mit Tai Chi oder Qigong während oder nach einer Krankheit. So ging es mir auch. Ich hatte mit 35 Jahren einen Bandscheibenvorfall und medizinisch konnte nichts für mich getan werden. Ich suchte nach alternativen Heilmethoden und kam in Berührung mit den Belehrungen des chinesischen Meisters Lam Kam Chuen. Für viele Menschen ist eine Operation oder ein Unfall ein Problem. Ich glaube, meine Krankheitsgeschichte ist ein gutes Beispiel dafür, dass es genau zum Gegenteil eines Problems, nämlich zu etwas Bereicherndem führen kann. Ich selbst habe erfahren, dass meine gesundheitliche Krise ein Türöffner zu einem anderen Leben war. Erstaunlich ist ja auch, dass Menschen, die einen Herzinfarkt überleben, ihren Lebensstil gründlich ändern, jedenfalls manchmal. Heute bin ich ausgebildeter Qigong-Lehrer in der Tradition von Lam Kam Chuen. Ich halte mich deshalb auch gelegentlich in China auf, um weiter zu lernen. Und manchmal fordern mich diese Reisen ziemlich. In der von mir praktizierten Tradition ist es üblich, dass die Lehrer ihr Können demonstrieren, in dem sie ihre Schüler gegeneinander kämpfen lassen. Und so kam es, dass ich einmal gegen den Trainer traditioneller Kriegskunst (engl. martial arts) der chinesischen Nationalpolizei antreten musste. Der Ehrenkodex verlangte eigentlich, dass ich ihn höflicherweise nicht besiegen würde, womit ich kein Problem gehabt hätte. Andererseits durfte ich nicht verlieren, denn dann hätte ich Schande über meinen Lehrer gebracht. Unser Aufeinandertreffen im Kampf stellte letztlich beide Lehrer zufrieden.
Darf sich ein Buddhist politisch engagieren oder verstrickt er sich damit notgedrungen in Samsara?
Natürlich darf man sich politisch engagieren. Buddha selbst war vom Moment seiner Geburt an bis zu seinem Tod politisch engagiert. Er wurde in eine Familie von Herrschern geboren und studierte die Kunst der Politik und Kriegskunst. Nach seiner Erleuchtung gab er Königen und Ministern weiterhin Rat, um schwelende oder offene Konflikte beizulegen. Er unterwies in den 45 Jahren, die er lehrte, Menschen nicht nur im Dharma, sondern war auch der Begründer von Gemeinschaften, die sich radikal vom vorherrschenden unterdrückenden Kastenwesen abhoben und etablierte so politisch, sozial und ökonomisch eine völlig neue Struktur für menschliches Zusammenleben.
Kannst du dir im Westen die Gründung einer "buddhistischen Partei" vorstellen?
Ja, aber sie müsste anders organisiert werden als die herkömmlichen Parteien und meine Hoffnung ist, dass sie weder dogmatische noch extreme Sichtweisen zur Grundlage ihres Handels wählen würde.
Wie wurdest du Präsident von Shambhala International?
Ich lernte die Shambhala Lehren von Chögyam Trungpa Rinpoche kennen. Sie sind für mich der Inbegriff dafür, wie eine wache (erleuchtete) Gesellschaft aussehen kann und wie das menschliche Zusammenleben auf der Grundlage von Spiritualität, Weisheit, Würde, Respekt, Sanftheit und Unerschrockenheit praktiziert werden kann. 1996 nahm ich an einem von Sakyong Mipham Rinpoche gelehrten dreimonatigen intensiven Retreat-Seminar im Shambhala Mountain Center in den Rocky Mountains teil und wurde sein Schüler. Rinpoche bat mich später, die Koordination der Eröffnungsfeier für die Stupa, die für seinen Vater Chögyam Trungpa Rinpoche in 13-jähriger Arbeit errichtet wurde, zu übernehmen. Ja und anschließend fragte er mich, ob ich die Leitung von Shambhala International übernehmen wollte. Dabei bat er mich gleichzeitig, mein soziales Engagement außerhalb des Sangha nicht aufzugeben.
Wie bestimmt der Shambhala-Buddhismus heute dein Handeln?
In der Sichtweise des Shambhala-Buddhismus gibt es keine Trennung zwischen weltlich und heilig (engl. sacred). Und deshalb wird alles, auch menschliche Grausamkeit und Aggression, als Teil und Fülle des menschlichen Lebens verstanden. Wir können uns mit beiden verbinden, einmal um Leiden zu vermindern, aber auch um eine tiefere Verständnis von Realität und Sein zu entwickeln.
Wer ist heute dein Vorbild?
Der Buddha.
Das Interview ist zuerst erschienen in Buddhismus aktuell. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Meta Märtens. Das Interview wurde in Karme Chöling (Vermont) – dem ersten von Chögyam Trungpa Rinpoche etablierten Meditations- und Retreatzentrum in den USA im Dezember 2005 geführt.
Richard Reoch, geboren 1948, wurde bereits als Sechsjähriger Buddhist. Von 1971 bis 1993 arbeitete er für Amnesty International in verschiedenen Bereichen. Er leitet heute Shambhala International, einen weltweiten Zusammenschluss der Schüler von Sakyong Mipham Rinpoche. Darüber hinaus ist er Vorsitzender einer internationalen Friedensdelegation für Sri Lanka.
Information: Meta Märtens: E-Mail [email protected]
Copyright 2004 © by Netzwerk engagierter Buddhisten
Helfen wollen ist der Motor für Richard Reoch, den Präsidenten von Shambhala International, den der Buddhismus seit seiner Kindheit begleitet. So ist sein soziales Engagement für die Menschenrechte, ob für Amnesty International oder andere internationale Friedensorganisationen, stets von Mitgefühl getragen. Chris Tamdjidi hatte die Gelegenheit, mit ihm in Karme Chöling (Vermont) ein Interview führen zu können.
Wie bist du als Westler Buddhist geworden?
Ich wurde 1948 in Toronto geboren und der Buddhismus gehörte schon sehr früh einfach zu meinem Leben dazu. Ich wuchs damit auf und wurde als Sechsjähriger Buddhist. Meine Eltern traten aus der schottischen presbyterianischen Kirchengemeinde aus, weil sie nicht die Haltung ihres Priesters zum Zweiten Weltkrieg teilten. Sie waren spirituell Suchende und schlossen sich viele Jahre später der "Pure Land Buddhist Community" um den Japaner Jodo Shinshu an, in der im Sinne des Buddhas des Mitgefühls praktiziert wurde. Meine Eltern und ich waren für viele Jahre die einzigen nichtjapanischen Gemeindemitglieder. Es war schon ungewöhnlich in den fünfziger und sechziger Jahren, Westler in einer japanischen Gemeinde zu sein. Alle Zen-Meister, welche die Gemeinde besuchten, wollten immer gern das Heim einer kanadischen Familie kennen lernen und so kam es, dass sie alle bei uns zuhause erschienen. Ich erinnere mich auch an den Besuch des großen T. D. Roshi (Daisetz Teitaro Suzuki 1870 – 1966), wurde an diesem Abend aber leider ins Bett geschickt, weil ich noch zu klein war. Rückblickend sehe ich, wie viel ich in dieser Zeit – meinen buddhistischen Entwicklungsjahren – gelernt habe: In Toronto ging ich sonntags regelmäßig zum Praktizieren, bis ich 23 war und nach London zog, um im Hauptquartier von Amnesty International zu arbeiten. Meditation, Mitgefühl für andere zu empfinden, diese Kernaussagen der Lehre Buddhas gehörten für mich zu meinem kulturellen und spirituellen Alltag dazu. Mein Lebensweg wurde entscheidend durch diese Zeit in der buddhistischen Gemeinde geprägt.
Gab es in deinen jungen Jahren auch so etwas wie ein Vorbild oder ein persönliches Schlüsselerlebnis, das dich veranlasste Buddhist zu bleiben?
Als kleiner Junge las ich ein Buch mit dem Titel "Das Leben großer Männer". Es enthielt Geschichten über Menschen, die etwas zu geben hatten und der Menschheit dienten – so wie Mahatma Gandhi und Albert Schweitzer. Ich las das Buch viele Male. Die Geschichten dieser Menschen wurden meine Vorbilder, ich wollte auch helfen. Helfen wollen, das ist wohl der Motor für meinen Lebensweg.
Und so kamst du zu Amnesty International?
Ja, ich fing 1971 als freiwilliger Helfer an und arbeitete insgesamt 23 Jahre in verschiedenen Bereichen von Amnesty. Zunächst war ich im Büro tätig, dann stellte ich als Assistent Nachforschungen über Folterungen an und arbeitete mit am ersten weltweiten Bericht über Folter, der von Amnesty herausgegeben wurde. Anschließend wurde mir die Aufgabe des ersten Vorort-Berichterstatters für Süd-Ostasien von Amnesty übertragen. Ungefähr fünf Jahre lang reiste ich nun über 42.000 Kilometer in Drittklass-Abteilen indischer Züge kreuz und quer durch Asien. Dabei arbeitete ich auch mit der tibetischen Exilgemeinde zusammen und hatte die Ehre, Seine Heiligkeit, den Dalai Lama, in die weltweite Arbeit von Amnesty einzuführen. Seine Heiligkeit stimmte damals zu, sich vermittelnd für inhaftierte buddhistische Mönche in Südvietnam einzusetzen. Ab 1978 war ich mit für die weltweite Öffentlichkeitsarbeit von Amnesty zuständig. Arbeitsschwerpunkt war nun vor allem, multikulturelle Grundsätze zu entwickeln, auf der diese demokratische Bewegung, in der mehr als 60 Sprachen gesprochen wurden, zusammenarbeiten konnte. Die Menschenrechtsbewegung hatte Unterstützer in 150 Ländern der Erde und deren Akteure besaßen ein sehr unterschiedliches Demokratieverständnis. Es war sehr spannend, quasi globale Grundsätze der Zusammenarbeit zu entwickeln und zu kommunizieren. 1993 endete meine Zeit bei Amnesty. In meiner Rolle als Vorsitzender einer internationalen Friedensarbeitsgruppe in Sri Lanka, der verschiedene Regierungsmitglieder und Vertreter internationaler Organisationen angehören, bemühe ich mich nun um das Voranschreiten des Friedensprozesses in Sri Lanka, das seit 19 Jahren vom Bürgerkrieg zerrüttet ist. Die Motivation für meine Arbeit ist dabei der Dharma. Der Dalai Lama sagte kürzlich, dass Menschenrechtsarbeit ein spiritueller Pfad ist. Das kann ich nur aus vollem Herzen bejahen.
Wie arbeitest du als Vermittler in Kriegs- oder Krisensituationen?
Als Ratgeber hatte ich mit beiden Parteien des Nordirland-Konflikts zu tun und als Vorsitzender der Arbeitsgruppe Sri Lanka komme ich auch mit älteren buddhistischen Mönchen in Kontakt, die eine militärische Lösung für den schwelenden ethnischen Konflikt favorisieren. In all dieser Arbeit ist das buddhistische Training, einen offenen Geist zu behalten und nicht zu urteilen, extrem wertvoll und mächtig. Es ist für mich die Grundlage, um überhaupt fähig zu sein, Menschen zuzuhören. Dieses Training erlaubt Friedensstiftern generell, Raum in Situationen zu bringen, die von extremer Klaustrophobie geprägt sind und wo sich oftmals Lösungen auftun, die vorher nicht für möglich gehalten wurden.
Welches Erlebnis hat dich am meisten beeindruckt?
Eine der buddhistischen Lehren besagt, dass es gilt, Dinge jenseits ihrer Erscheinungen zu erkennen, über die bloße Erscheinung hinauszugehen. Wir trainieren folglich in unserer Praxis, Situationen nicht als fest anzusehen. Ein gutes Beispiel, wo ich das am eindruckvollsten erfahren habe und was mich am meisten beeindruckte – obgleich ich viele Menschen getroffen habe, die gegen Folter aufgestanden sind – ist die Erinnerung an einen General der Armee Sri Lankas in Jaffna. Seine Truppen wurden beschuldigt, Zivilisten zu foltern. Aber als ich ihn traf, entdeckte ich in ihm die ungeheureren Anstrengungen, durch die er ging und die er unternahm, um Soldaten, die für Foltereinsätze verantwortlich waren, festzunehmen. Gleichzeitig zielte sein ganzes Bemühen darauf ab, diese Foltereinsatzeinheiten aufzulösen.
Welche Erfahrungen machst du als Buddhist in Krisensituationen? Wie reagieren gegnerische Parteien auf dich?
Viele Menschen bekommen in Krisensituationen Panik, Furcht kommt hoch, und sie werden überwältigt von mächtigen Gefühlsausbrüchen wie zum Beispiel Hass. Dank meiner Dharmapraxis bemerken Menschen, dass ich ruhig bleibe und nicht deprimiert werde, wenn ich Grausamkeiten um mich herum sehe. Ich bewahre eine offene Haltung und bin bereit, auch mit Tätern den Dialog zu führen. Es fällt mir nicht schwer, mich zwischen gegnerischen Seiten zu bewegen, egal ob es sich dabei um Argumente oder um Krieg handelt. Diese Fähigkeit haben aber nicht die Buddhisten allein für sich gepachtet, es ist eine Qualität, die viele Menschen besitzen, die sich in einer echten spirituellen Tradition üben.
Wo ist es dir gelungen, besonders hilfreich zu sein? Welche geschickten Mittel hast du dafür eingesetzt?
Mir fällt auf, dass ich viel Zeit in der Gegenwart von Menschen verbringe, die miteinander streiten. Für mich hat sich herauskristallisiert, dass, wenn es mir gelingt meinen eigenen Sitz zu halten, keine Partei zu ergreifen, bereit zu sein zuzuhören und keine Angst vor der Vielschichtigkeit der im Raum vorhandenen Gefühle zu haben, diese Haltung anderen Menschen ermöglicht, eine Beziehung zueinander aufzubauen und die Seinsberechtigung des Gegenübers anzuerkennen – trotz unterschiedlicher Argumente. Es entsteht ein Raum, der Unterschiedlichkeit konstruktiv aushält. Es hat auch etwas damit zu tun, ob Menschen bereit sind, die grundlegende Gutheit in jedem Menschen zu sehen und anzuerkennen. Ich sehe meine Aufgabe in Verhandlungen darin, Menschen darin zu unterstützen, dies zu erkennen. Dann entsteht ein viel stärkeres Band zwischen ihnen – oft nonverbal – das stärker ist als trennende Differenzen.
Welche Aussage Buddhas begleitet dich bereits dein Leben lang und warum?
Ein Satz aus dem Dhammapada: Hass wird nicht durch Hass beendet, Liebe allein beendet Hass. Diese Aussage ist so etwas wie ein immerwährendes Gesetz.
Wie verbindest du Praxis, Meditation und Arbeit?
Menschen trennen diese beiden Dinge oft voneinander. Sie denken, Meditation ist Praxis und Arbeit sei es nicht. Meine Erfahrung ist, dass beides nahtlos ineinander übergeht. Formale Meditationspraxis befähigt uns, mehr zu verstehen, wie unser Geist funktioniert. Arbeit hingegen versetzt uns in die Lage, konkret zu verstehen, wie unser eigener Geist tatsächlich arbeitet. Unsere Arbeit ist der unerschöpfliche Boden für die Praxis der sechs Paramitas von Großzügigkeit, Disziplin, Geduld, Mitgefühl, Meditation und Weisheit.
Du praktizierst schon lange Qigong, warum?
Es ist für mich die tägliche Kraft- und Energiequelle. Viele Menschen kommen in Kontakt mit Tai Chi oder Qigong während oder nach einer Krankheit. So ging es mir auch. Ich hatte mit 35 Jahren einen Bandscheibenvorfall und medizinisch konnte nichts für mich getan werden. Ich suchte nach alternativen Heilmethoden und kam in Berührung mit den Belehrungen des chinesischen Meisters Lam Kam Chuen. Für viele Menschen ist eine Operation oder ein Unfall ein Problem. Ich glaube, meine Krankheitsgeschichte ist ein gutes Beispiel dafür, dass es genau zum Gegenteil eines Problems, nämlich zu etwas Bereicherndem führen kann. Ich selbst habe erfahren, dass meine gesundheitliche Krise ein Türöffner zu einem anderen Leben war. Erstaunlich ist ja auch, dass Menschen, die einen Herzinfarkt überleben, ihren Lebensstil gründlich ändern, jedenfalls manchmal. Heute bin ich ausgebildeter Qigong-Lehrer in der Tradition von Lam Kam Chuen. Ich halte mich deshalb auch gelegentlich in China auf, um weiter zu lernen. Und manchmal fordern mich diese Reisen ziemlich. In der von mir praktizierten Tradition ist es üblich, dass die Lehrer ihr Können demonstrieren, in dem sie ihre Schüler gegeneinander kämpfen lassen. Und so kam es, dass ich einmal gegen den Trainer traditioneller Kriegskunst (engl. martial arts) der chinesischen Nationalpolizei antreten musste. Der Ehrenkodex verlangte eigentlich, dass ich ihn höflicherweise nicht besiegen würde, womit ich kein Problem gehabt hätte. Andererseits durfte ich nicht verlieren, denn dann hätte ich Schande über meinen Lehrer gebracht. Unser Aufeinandertreffen im Kampf stellte letztlich beide Lehrer zufrieden.
Darf sich ein Buddhist politisch engagieren oder verstrickt er sich damit notgedrungen in Samsara?
Natürlich darf man sich politisch engagieren. Buddha selbst war vom Moment seiner Geburt an bis zu seinem Tod politisch engagiert. Er wurde in eine Familie von Herrschern geboren und studierte die Kunst der Politik und Kriegskunst. Nach seiner Erleuchtung gab er Königen und Ministern weiterhin Rat, um schwelende oder offene Konflikte beizulegen. Er unterwies in den 45 Jahren, die er lehrte, Menschen nicht nur im Dharma, sondern war auch der Begründer von Gemeinschaften, die sich radikal vom vorherrschenden unterdrückenden Kastenwesen abhoben und etablierte so politisch, sozial und ökonomisch eine völlig neue Struktur für menschliches Zusammenleben.
Kannst du dir im Westen die Gründung einer "buddhistischen Partei" vorstellen?
Ja, aber sie müsste anders organisiert werden als die herkömmlichen Parteien und meine Hoffnung ist, dass sie weder dogmatische noch extreme Sichtweisen zur Grundlage ihres Handels wählen würde.
Wie wurdest du Präsident von Shambhala International?
Ich lernte die Shambhala Lehren von Chögyam Trungpa Rinpoche kennen. Sie sind für mich der Inbegriff dafür, wie eine wache (erleuchtete) Gesellschaft aussehen kann und wie das menschliche Zusammenleben auf der Grundlage von Spiritualität, Weisheit, Würde, Respekt, Sanftheit und Unerschrockenheit praktiziert werden kann. 1996 nahm ich an einem von Sakyong Mipham Rinpoche gelehrten dreimonatigen intensiven Retreat-Seminar im Shambhala Mountain Center in den Rocky Mountains teil und wurde sein Schüler. Rinpoche bat mich später, die Koordination der Eröffnungsfeier für die Stupa, die für seinen Vater Chögyam Trungpa Rinpoche in 13-jähriger Arbeit errichtet wurde, zu übernehmen. Ja und anschließend fragte er mich, ob ich die Leitung von Shambhala International übernehmen wollte. Dabei bat er mich gleichzeitig, mein soziales Engagement außerhalb des Sangha nicht aufzugeben.
Wie bestimmt der Shambhala-Buddhismus heute dein Handeln?
In der Sichtweise des Shambhala-Buddhismus gibt es keine Trennung zwischen weltlich und heilig (engl. sacred). Und deshalb wird alles, auch menschliche Grausamkeit und Aggression, als Teil und Fülle des menschlichen Lebens verstanden. Wir können uns mit beiden verbinden, einmal um Leiden zu vermindern, aber auch um eine tiefere Verständnis von Realität und Sein zu entwickeln.
Wer ist heute dein Vorbild?
Der Buddha.
Das Interview ist zuerst erschienen in Buddhismus aktuell. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Meta Märtens. Das Interview wurde in Karme Chöling (Vermont) – dem ersten von Chögyam Trungpa Rinpoche etablierten Meditations- und Retreatzentrum in den USA im Dezember 2005 geführt.
Richard Reoch, geboren 1948, wurde bereits als Sechsjähriger Buddhist. Von 1971 bis 1993 arbeitete er für Amnesty International in verschiedenen Bereichen. Er leitet heute Shambhala International, einen weltweiten Zusammenschluss der Schüler von Sakyong Mipham Rinpoche. Darüber hinaus ist er Vorsitzender einer internationalen Friedensdelegation für Sri Lanka.
Information: Meta Märtens: E-Mail [email protected]
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