Was ist Wahrheit?
Ethik als Erkenntnisweg
von Franz-Johannes Litsch
"Er hat mich mißbraucht, er hat mich geschlagen,
er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" -
wo solche Gedanken gehegt werden, wird nie der Hass enden.
"Er hat mich mißbraucht, er hat mich geschlagen,
er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" -
wo solche Gedanken nicht gehegt werden, wird der Hass enden.
Noch nie in dieser Welt,
Hat Hass gestillt den Hass.
Nur Liebe stillt den Hass.
Dies ist ein ewiges Gesetz.
(Dhammapada, 3-5)
Die altbuddhistische Lehrdichtung Dhammapada zeigt uns in vielfältiger Weise, wie unsere leiderzeugenden Gefühle und Handlungen ihre Wurzeln in unserem Geiste haben, in unseren Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Annahmen, Erwartungen und Projektionen. Sie zeigt, dass unser Ärger, unsere Wut, unser Hass häufig nicht darin gründen, dass uns ein Anderer wirklich Unrecht getan oder Leid zugefügt hat, sondern dass wir sein/ihr Verhalten lediglich in dieser Weise wahrnehmen. Und selbst wenn uns bewusst Leid zugefügt wurde, sind wir in der Lage es anders wahrzunehmen, als Ausdruck des Leids und der Verzweiflung des Anderen.
Unsere Wahrnehmung ist unser für wahr nehmen. Der Buddha lehrt uns, dass wir Ereignisse oder Erscheinungen immer auf die uns eigene Weise interpretieren und dass so unser Geist die Wirklichkeit nicht widerspiegelt, sondern erst als solche erzeugt. Es ist unsere Sicht der Wirklichkeit, die unsere Wirklichkeit schafft und auf die wir wiederum auf unsere Weise reagieren. "Vom Geiste gehn die Dinge aus, im Geist geboren, im Geist gemacht", so heisst der Eingangsvers des Dhammapada.
Das bedeutet, dass für die Lehre und Praxis des Buddha dem rechtem Verhalten (der Ethik) das rechte Erkennen (die Einsicht) vorausgehen muss. Nur wenn wir die Phänomene wahrheitsgemäß erkennen, können wir uns auch wahrheitsgemäß verhalten. Hier ist entscheidend, dass wir nicht nur die Wirklichkeit draußen erkennen sondern insbesondere die innere, die eigene. Beides lässt sich letztlich auch nicht trennen. Somit geht es darum, dass wir uns in unserer Art des Erkennens erkennen. Der Weg des Buddha ist der Weg des "Erkenne Dich selbst", der Selbsterkenntnis in doppeltem Sinne.
Philosophisch bedeutet dies, dass der buddhistischen Ethik die buddhistische Erkenntnistheorie vorausgeht. Die Ethik des Buddha beruht nicht auf einer göttlichen Weisung oder Offenbarung, auch nicht auf einer autonomen ethischen Vernunft-Setzung (einem ´kategorischen Imperativ´), sondern auf einer Einsicht in unsere Einsichtsfähigkeit. Und die besagt, dass die Wirklichkeit grundsätzlich nicht fassbar (begreifbar) ist, dass es die eine, dauerhafte und vollkommene Wirklichkeit nicht gibt und darum auch nicht DIE Wahrheit. Stattdessen erweist sich alles, was wir zu begreifen und festzuhalten suchen, letztlich als leer und offen (sunya). Allen Erscheinungen liegt letztlich Leerheit zugrunde und auf Grund von Leerheit gibt es überhaupt Erscheinungen.
Wenn es so die letzte, absolute Wahrheit nicht gibt, wir sie weder fassen, noch haben, noch verteidigen, noch ins Feld führen können, dann kann es auch keine Rechtfertigung dafür geben, dass wir anderen Menschen oder Wesen mit oder für unsere Wahrheit Leiden zufügen. Dann ist es nicht möglich, dass wir Andere zugunsten einer Wahrheit, die es nicht gibt, verletzen. Das ist die Grundaussage der buddhistischen Ethik.
Gewalt, Krieg, Terror, Unterdrückung beruhen fast immer auf dem Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein, über die absolut und einzig richtige Sichtweise zu verfügen. Folglich muss sie dem, der sie nicht annehmen will, aufgezwungen werden. Die Gewaltfreiheit des Buddha (ahimsa) wurzelt in seiner Einsicht in die Leerheit aller Erscheinungen und Wahrheiten. Weil die Wahrheit nicht fassbar ist, darum kann sie auch nicht dazu dienen, Glaubenskämpfe und Kreuzzüge zu führen.
Die uns von Shakyamuni Buddha überlieferten fünf Ethikregeln (panca sila), lassen sich so in dem einen Wort ´ahimsa´ zusammenfassen: Nicht-Verletzen. Es geht um das Nicht-Verletzen eines Lebewesens durch Töten, durch Berauben, durch Sexualität, durch Sprache, durch Trübung und Anhaftung des eigenen Geistes. Sind wir wirklich achtsam darauf, niemand (weder uns noch andere) zu verletzen, so praktizieren wir das Wesen der Lehre des Buddha, sowohl was die Entwicklung von Weisheit betrifft, wie auch die Ethikübung, wie auch die Geistesschulung (Meditation).
Dennoch, auch der Buddha verkündete Wahrheiten, ja fasste diese sogar in "vier edlen Wahrheiten" (aryasacca) zusammen. Buddha war kein Vertreter des heutigen postmodernen Dekonstruktivismus, der jede Wahrheit leugnet und das "anything goes" lehrt. Es gibt für ihn relative Wahrheiten, die ausgesagt und gelehrt werden können und die uns zeitweilig wertvolle Orientierung geben können. Wie kommt Buddha zu diesen Wahrheiten? Wie erlangt und begründet er sie?
Die Antwort erschliesst sich, wenn wir die Lehre des Buddha als Ganzheit erkennen, wenn wir sehen, wie der Kerngehalt seiner Lehre, das ´wechselseitig bedingte Entstehen´ nicht nur die Wirklichkeit beschreibt und nicht nur unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit sondern auch seine Lehre selbst. Es wurde gesagt, die Ethik des Buddha wurzelt in seiner Erkenntnistheorie. Diese Aussage gilt auch umgekehrt: die Erkenntnistheorie des Buddha wurzelt in seiner Ethik.
Die Wahrheiten des Buddha werden in der buddhistischen Tradition häufig auf seine erwachte, bzw. erleuchtete Einsichtsfähigkeit zurückgeführt. Also: der Buddha hat dies gelehrt, weil er erleuchtet war; in seiner Erleuchtung erkannte er dies und jenes als wahr. Eine solche Begründung führt jedoch in die Abhängigkeit, in Unmündigkeit und Fundamentalismus. Sie fördert nicht das, worauf Buddhas Lehre und Praxis zielt, nämlich auf Befreiung.
Buddha gab in seinen Lehrreden sehr klare Antwort darüber, wie wir zur Wahrheit finden können und wie er selbst zu seinen Wahrheiten gelangte. Wir finden sie besonders eindrucksvoll im Kalamer-Sutta. Da wurde der Gotama Shakyamuni von Bewohnern der Stadt Kesaputta gefragt, wie sie unter all den vielen unterschiedlichen, sich widersprechenden und verwirrenden Lehren, deren Verkünder für sich jeweils die absolute Wahrheit beanspruchen, das Richtige oder Falsche unterscheiden, also die Wahrheit finden können. Buddha bestärkte sie zunächst in ihrem Zweifel und sagte dann:
"Geht, Kálámer, nicht nach Hörensagen, nicht nach Überlieferungen, nicht nach Tagesmeinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Schlüssen, nicht nach erdachten Theorien und bevorzugten Meinungen, nicht nach dem Eindruck persönlicher Vorzüge, nicht nach der Autorität eines Meisters! Wenn ihr aber, Kálámer, selber erkennt: 'Diese Dinge sind unheilsam, sind verwerflich, werden von Verständigen getadelt, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Unheil und Leiden', dann o Kálámer, möget ihr sie aufgeben."
Um aufzuzeigen, was unheilsam ist, benennt Buddha dann an Hand der Geistesgifte "Gier, Hass und Verblendung" kurz die ersten vier Übungsfelder der fünf Ethikregeln. Hier in Bezug auf die Gier:
"Aus Gier, Kalamer, von der Gier überwältigt, gefesselten Geistes, tötet man Lebendiges, nimmt man Nichtgegebenes, vergeht man sich mit seines Nächsten Weib, spricht man Lüge und spornt auch andere dazu an; und dies wird einem lange Zeit zum Unheil und Leiden gereichen."
Diese Antwort ist für die abendländisch-westliche Tradition der Behandlung der Wahrheitsfrage höchst ungewöhnlich und überraschend. Buddha antwortet auf eine erkenntnistheoretische Frage nicht mit methodisch-theoretischen Ausführungen sondern antwortet ethisch.
Die abendländische Philosophie wird traditionell dreigeteilt in: Ontologie (Aussagen zum Sein), Erkenntnistheorie (Aussagen zur Erkenntnis der Wirklichkeit), Ethik (Aussagen zum richtigen Verhalten). Zwar haben die meisten Philosophen zu allen drei Bereichen Aussagen getroffen, welche auch in einem gewissen Bezug zueinander stehen, doch jede Disziplin hat die ihr eigenen Fragen jeweils innerhalb des eigenen Rahmens beantwortet. Fragen der einen Disziplin wurden nicht aus einer anderen Disziplin heraus beantwortet. Das entspricht dem abendländischen, trennenden, dualistischen Denken.
Die Geschichte der westlichen Erkenntnistheorie kennt dabei drei Phasen: während der Antike wurde die Frage ´was ist wahr´ als ein logisches und sprachliches Problem behandelt und als solches beantwortet. Die Antwort lautete: wahr ist, was logisch und sprachlich vernünftig (rational) ist.
Die Philosophie der Neuzeit begann mit der Erkenntnis, dass diese Aussage nicht ausreicht. Damit etwas als wahr anerkannt werden kann, muss es auf Beobachtungen (sinnlichen Erfahrungen, Empirie) beruhen und nachprüfbar sein (Praxis, Experiment). Die heute einflussreiche Position des philosophischen Pragmatismus sagt von daher: wahr ist, was nützlich (praktisch anwendbar) ist.
Die heutige Moderne sah, dass auch dies nicht genügt, sondern dass Wahrheit auch eine soziale und kulturelle Dimension hat. Eine Aussage bedarf einer herrschaftsfreien Auseinandersetzung (eines Diskurses) und muss zu einem weitgehenden Konsens geführt haben, um als wahr zu gelten. Hier heisst die Antwort also: wahr ist, worüber wir uns (dialogisch) geeinigt haben.
Buddhas erkenntnistheoretische Position enthält alle diese drei Einsichten: seine Lehren sind durchgehend von Rationalität, von Logik und Bemühung um sprachliche Genauigkeit geprägt. Seine Lehren beruhen auf Empirie, auf eigener Beobachtung, Erfahrung und Überprüfung. Seine Schüler forderte er - wie wir sahen - dazu auf, dem eigenverantwortlich zu folgen. Und er hat sich und seine Lehren über einen Zeitraum von 45 Jahren einem breiten gesellschaftlichen Dialog gestellt, hat sich - geprägt von der ihm eigenen ethischen Haltung des Nicht-Verletzens - mit allen wichtigen indischen philosophischen und religiösen Schulen seiner Zeit auseinandergesetzt. Durch Überzeugung und Dialog hat sich der Buddhadharma seither über weite Bereiche Asiens ausgebreitet und erreicht nun auch den Westen.
Doch Buddha geht über diese drei westlichen erkenntnistheoretischen Grundansätze noch hinaus, seine Antwort lautet: wahr ist, was (für uns alle) heilsam ist. Und heilsam ist, was Leiden (Unheil) überwindet. Das bedeutet: eine Erkenntnis oder Aussage, die zwar logisch ist, die auch auf Beobachtung beruht und nützlich ist, die jedoch Leiden erzeugt, lässt wirklich tiefe Einsicht in die Wirklichkeit vermissen, ist darum nicht wahr. (Z.B. Meinungen wie: "Man ist nur mit Ellenbogen erfolgreich" oder "Nur Krieg beendet den Terror" oder "der Klimaschutz ist zu teuer" oder "Embryonenforschung ist notwendig für den Fortschritt"). Für den Buddha sind alle Fragen, bei denen es um Wahrheit geht, letztlich ethische Fragen. Auch wissenschaftliche Aussagen, die immer auch ethische Konsequenzen haben. Wertfreie Objektivität gibt es für ihn nicht.
Heilsames (richtiges) Erkennen ist im Buddhadharma somit Voraussetzung für heilsames (richtiges) Handeln, und heilsames (richtiges) Handeln ist Kriterium für heilsame (richtige) Erkenntnis.
Je tiefgreifender eine Erkenntnis Leiden überwinden hilft, umso höher ist ihr Wahrheitsgehalt. Insofern gibt es keine höhere Wahrheit, als jene, die das Leiden erkennt, seine Ursachen benennt, die Möglichkeit seiner Überwindung sieht und den konkreten Weg aufzeigt, der dahin führt. Erkenntnis und Ethik werden eins, werden zum Weg der Befreiung von Nichtwissen und Leid.
Dennoch, auch diese Wahrheit lässt sich nicht fassen. Wir können Wahrheit nicht haben, wir können Wahrheit nur sein. Wahr zu sein, Wahrheit zu leben, das ist es, worum es dem Buddha letztendlich geht. Wahr zu sein, heisst für ihn, auf dem Weg der Überwindung des Leidens zu sein. Heisst, zur Wirklichkeit zu erwachen. Heisst, von der Wahrheit zu zeugen. Wahrheit zu sein ist Buddhaschaft leben.
Copyright © Buddhanetz [Stand: Dezember 2004]
von Franz-Johannes Litsch
"Er hat mich mißbraucht, er hat mich geschlagen,
er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" -
wo solche Gedanken gehegt werden, wird nie der Hass enden.
"Er hat mich mißbraucht, er hat mich geschlagen,
er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" -
wo solche Gedanken nicht gehegt werden, wird der Hass enden.
Noch nie in dieser Welt,
Hat Hass gestillt den Hass.
Nur Liebe stillt den Hass.
Dies ist ein ewiges Gesetz.
(Dhammapada, 3-5)
Die altbuddhistische Lehrdichtung Dhammapada zeigt uns in vielfältiger Weise, wie unsere leiderzeugenden Gefühle und Handlungen ihre Wurzeln in unserem Geiste haben, in unseren Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Annahmen, Erwartungen und Projektionen. Sie zeigt, dass unser Ärger, unsere Wut, unser Hass häufig nicht darin gründen, dass uns ein Anderer wirklich Unrecht getan oder Leid zugefügt hat, sondern dass wir sein/ihr Verhalten lediglich in dieser Weise wahrnehmen. Und selbst wenn uns bewusst Leid zugefügt wurde, sind wir in der Lage es anders wahrzunehmen, als Ausdruck des Leids und der Verzweiflung des Anderen.
Unsere Wahrnehmung ist unser für wahr nehmen. Der Buddha lehrt uns, dass wir Ereignisse oder Erscheinungen immer auf die uns eigene Weise interpretieren und dass so unser Geist die Wirklichkeit nicht widerspiegelt, sondern erst als solche erzeugt. Es ist unsere Sicht der Wirklichkeit, die unsere Wirklichkeit schafft und auf die wir wiederum auf unsere Weise reagieren. "Vom Geiste gehn die Dinge aus, im Geist geboren, im Geist gemacht", so heisst der Eingangsvers des Dhammapada.
Das bedeutet, dass für die Lehre und Praxis des Buddha dem rechtem Verhalten (der Ethik) das rechte Erkennen (die Einsicht) vorausgehen muss. Nur wenn wir die Phänomene wahrheitsgemäß erkennen, können wir uns auch wahrheitsgemäß verhalten. Hier ist entscheidend, dass wir nicht nur die Wirklichkeit draußen erkennen sondern insbesondere die innere, die eigene. Beides lässt sich letztlich auch nicht trennen. Somit geht es darum, dass wir uns in unserer Art des Erkennens erkennen. Der Weg des Buddha ist der Weg des "Erkenne Dich selbst", der Selbsterkenntnis in doppeltem Sinne.
Philosophisch bedeutet dies, dass der buddhistischen Ethik die buddhistische Erkenntnistheorie vorausgeht. Die Ethik des Buddha beruht nicht auf einer göttlichen Weisung oder Offenbarung, auch nicht auf einer autonomen ethischen Vernunft-Setzung (einem ´kategorischen Imperativ´), sondern auf einer Einsicht in unsere Einsichtsfähigkeit. Und die besagt, dass die Wirklichkeit grundsätzlich nicht fassbar (begreifbar) ist, dass es die eine, dauerhafte und vollkommene Wirklichkeit nicht gibt und darum auch nicht DIE Wahrheit. Stattdessen erweist sich alles, was wir zu begreifen und festzuhalten suchen, letztlich als leer und offen (sunya). Allen Erscheinungen liegt letztlich Leerheit zugrunde und auf Grund von Leerheit gibt es überhaupt Erscheinungen.
Wenn es so die letzte, absolute Wahrheit nicht gibt, wir sie weder fassen, noch haben, noch verteidigen, noch ins Feld führen können, dann kann es auch keine Rechtfertigung dafür geben, dass wir anderen Menschen oder Wesen mit oder für unsere Wahrheit Leiden zufügen. Dann ist es nicht möglich, dass wir Andere zugunsten einer Wahrheit, die es nicht gibt, verletzen. Das ist die Grundaussage der buddhistischen Ethik.
Gewalt, Krieg, Terror, Unterdrückung beruhen fast immer auf dem Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein, über die absolut und einzig richtige Sichtweise zu verfügen. Folglich muss sie dem, der sie nicht annehmen will, aufgezwungen werden. Die Gewaltfreiheit des Buddha (ahimsa) wurzelt in seiner Einsicht in die Leerheit aller Erscheinungen und Wahrheiten. Weil die Wahrheit nicht fassbar ist, darum kann sie auch nicht dazu dienen, Glaubenskämpfe und Kreuzzüge zu führen.
Die uns von Shakyamuni Buddha überlieferten fünf Ethikregeln (panca sila), lassen sich so in dem einen Wort ´ahimsa´ zusammenfassen: Nicht-Verletzen. Es geht um das Nicht-Verletzen eines Lebewesens durch Töten, durch Berauben, durch Sexualität, durch Sprache, durch Trübung und Anhaftung des eigenen Geistes. Sind wir wirklich achtsam darauf, niemand (weder uns noch andere) zu verletzen, so praktizieren wir das Wesen der Lehre des Buddha, sowohl was die Entwicklung von Weisheit betrifft, wie auch die Ethikübung, wie auch die Geistesschulung (Meditation).
Dennoch, auch der Buddha verkündete Wahrheiten, ja fasste diese sogar in "vier edlen Wahrheiten" (aryasacca) zusammen. Buddha war kein Vertreter des heutigen postmodernen Dekonstruktivismus, der jede Wahrheit leugnet und das "anything goes" lehrt. Es gibt für ihn relative Wahrheiten, die ausgesagt und gelehrt werden können und die uns zeitweilig wertvolle Orientierung geben können. Wie kommt Buddha zu diesen Wahrheiten? Wie erlangt und begründet er sie?
Die Antwort erschliesst sich, wenn wir die Lehre des Buddha als Ganzheit erkennen, wenn wir sehen, wie der Kerngehalt seiner Lehre, das ´wechselseitig bedingte Entstehen´ nicht nur die Wirklichkeit beschreibt und nicht nur unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit sondern auch seine Lehre selbst. Es wurde gesagt, die Ethik des Buddha wurzelt in seiner Erkenntnistheorie. Diese Aussage gilt auch umgekehrt: die Erkenntnistheorie des Buddha wurzelt in seiner Ethik.
Die Wahrheiten des Buddha werden in der buddhistischen Tradition häufig auf seine erwachte, bzw. erleuchtete Einsichtsfähigkeit zurückgeführt. Also: der Buddha hat dies gelehrt, weil er erleuchtet war; in seiner Erleuchtung erkannte er dies und jenes als wahr. Eine solche Begründung führt jedoch in die Abhängigkeit, in Unmündigkeit und Fundamentalismus. Sie fördert nicht das, worauf Buddhas Lehre und Praxis zielt, nämlich auf Befreiung.
Buddha gab in seinen Lehrreden sehr klare Antwort darüber, wie wir zur Wahrheit finden können und wie er selbst zu seinen Wahrheiten gelangte. Wir finden sie besonders eindrucksvoll im Kalamer-Sutta. Da wurde der Gotama Shakyamuni von Bewohnern der Stadt Kesaputta gefragt, wie sie unter all den vielen unterschiedlichen, sich widersprechenden und verwirrenden Lehren, deren Verkünder für sich jeweils die absolute Wahrheit beanspruchen, das Richtige oder Falsche unterscheiden, also die Wahrheit finden können. Buddha bestärkte sie zunächst in ihrem Zweifel und sagte dann:
"Geht, Kálámer, nicht nach Hörensagen, nicht nach Überlieferungen, nicht nach Tagesmeinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Schlüssen, nicht nach erdachten Theorien und bevorzugten Meinungen, nicht nach dem Eindruck persönlicher Vorzüge, nicht nach der Autorität eines Meisters! Wenn ihr aber, Kálámer, selber erkennt: 'Diese Dinge sind unheilsam, sind verwerflich, werden von Verständigen getadelt, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Unheil und Leiden', dann o Kálámer, möget ihr sie aufgeben."
Um aufzuzeigen, was unheilsam ist, benennt Buddha dann an Hand der Geistesgifte "Gier, Hass und Verblendung" kurz die ersten vier Übungsfelder der fünf Ethikregeln. Hier in Bezug auf die Gier:
"Aus Gier, Kalamer, von der Gier überwältigt, gefesselten Geistes, tötet man Lebendiges, nimmt man Nichtgegebenes, vergeht man sich mit seines Nächsten Weib, spricht man Lüge und spornt auch andere dazu an; und dies wird einem lange Zeit zum Unheil und Leiden gereichen."
Diese Antwort ist für die abendländisch-westliche Tradition der Behandlung der Wahrheitsfrage höchst ungewöhnlich und überraschend. Buddha antwortet auf eine erkenntnistheoretische Frage nicht mit methodisch-theoretischen Ausführungen sondern antwortet ethisch.
Die abendländische Philosophie wird traditionell dreigeteilt in: Ontologie (Aussagen zum Sein), Erkenntnistheorie (Aussagen zur Erkenntnis der Wirklichkeit), Ethik (Aussagen zum richtigen Verhalten). Zwar haben die meisten Philosophen zu allen drei Bereichen Aussagen getroffen, welche auch in einem gewissen Bezug zueinander stehen, doch jede Disziplin hat die ihr eigenen Fragen jeweils innerhalb des eigenen Rahmens beantwortet. Fragen der einen Disziplin wurden nicht aus einer anderen Disziplin heraus beantwortet. Das entspricht dem abendländischen, trennenden, dualistischen Denken.
Die Geschichte der westlichen Erkenntnistheorie kennt dabei drei Phasen: während der Antike wurde die Frage ´was ist wahr´ als ein logisches und sprachliches Problem behandelt und als solches beantwortet. Die Antwort lautete: wahr ist, was logisch und sprachlich vernünftig (rational) ist.
Die Philosophie der Neuzeit begann mit der Erkenntnis, dass diese Aussage nicht ausreicht. Damit etwas als wahr anerkannt werden kann, muss es auf Beobachtungen (sinnlichen Erfahrungen, Empirie) beruhen und nachprüfbar sein (Praxis, Experiment). Die heute einflussreiche Position des philosophischen Pragmatismus sagt von daher: wahr ist, was nützlich (praktisch anwendbar) ist.
Die heutige Moderne sah, dass auch dies nicht genügt, sondern dass Wahrheit auch eine soziale und kulturelle Dimension hat. Eine Aussage bedarf einer herrschaftsfreien Auseinandersetzung (eines Diskurses) und muss zu einem weitgehenden Konsens geführt haben, um als wahr zu gelten. Hier heisst die Antwort also: wahr ist, worüber wir uns (dialogisch) geeinigt haben.
Buddhas erkenntnistheoretische Position enthält alle diese drei Einsichten: seine Lehren sind durchgehend von Rationalität, von Logik und Bemühung um sprachliche Genauigkeit geprägt. Seine Lehren beruhen auf Empirie, auf eigener Beobachtung, Erfahrung und Überprüfung. Seine Schüler forderte er - wie wir sahen - dazu auf, dem eigenverantwortlich zu folgen. Und er hat sich und seine Lehren über einen Zeitraum von 45 Jahren einem breiten gesellschaftlichen Dialog gestellt, hat sich - geprägt von der ihm eigenen ethischen Haltung des Nicht-Verletzens - mit allen wichtigen indischen philosophischen und religiösen Schulen seiner Zeit auseinandergesetzt. Durch Überzeugung und Dialog hat sich der Buddhadharma seither über weite Bereiche Asiens ausgebreitet und erreicht nun auch den Westen.
Doch Buddha geht über diese drei westlichen erkenntnistheoretischen Grundansätze noch hinaus, seine Antwort lautet: wahr ist, was (für uns alle) heilsam ist. Und heilsam ist, was Leiden (Unheil) überwindet. Das bedeutet: eine Erkenntnis oder Aussage, die zwar logisch ist, die auch auf Beobachtung beruht und nützlich ist, die jedoch Leiden erzeugt, lässt wirklich tiefe Einsicht in die Wirklichkeit vermissen, ist darum nicht wahr. (Z.B. Meinungen wie: "Man ist nur mit Ellenbogen erfolgreich" oder "Nur Krieg beendet den Terror" oder "der Klimaschutz ist zu teuer" oder "Embryonenforschung ist notwendig für den Fortschritt"). Für den Buddha sind alle Fragen, bei denen es um Wahrheit geht, letztlich ethische Fragen. Auch wissenschaftliche Aussagen, die immer auch ethische Konsequenzen haben. Wertfreie Objektivität gibt es für ihn nicht.
Heilsames (richtiges) Erkennen ist im Buddhadharma somit Voraussetzung für heilsames (richtiges) Handeln, und heilsames (richtiges) Handeln ist Kriterium für heilsame (richtige) Erkenntnis.
Je tiefgreifender eine Erkenntnis Leiden überwinden hilft, umso höher ist ihr Wahrheitsgehalt. Insofern gibt es keine höhere Wahrheit, als jene, die das Leiden erkennt, seine Ursachen benennt, die Möglichkeit seiner Überwindung sieht und den konkreten Weg aufzeigt, der dahin führt. Erkenntnis und Ethik werden eins, werden zum Weg der Befreiung von Nichtwissen und Leid.
Dennoch, auch diese Wahrheit lässt sich nicht fassen. Wir können Wahrheit nicht haben, wir können Wahrheit nur sein. Wahr zu sein, Wahrheit zu leben, das ist es, worum es dem Buddha letztendlich geht. Wahr zu sein, heisst für ihn, auf dem Weg der Überwindung des Leidens zu sein. Heisst, zur Wirklichkeit zu erwachen. Heisst, von der Wahrheit zu zeugen. Wahrheit zu sein ist Buddhaschaft leben.
Copyright © Buddhanetz [Stand: Dezember 2004]
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