Westlicher Buddhismus – Nein danke ?
Buddhismus und die Kultur des Westens
von Franz-Johannes Litsch
Im Oktober 2000 erschien im Feuilleton einer großen deutschen Tageszeitung ein Aufsatz unter dem Titel: "Westlicher Buddhismus? Nein danke!". Autor des Beitrags war der international renommierte slovenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek. Die scharfe Kritik, die er darin am westlichen Buddhismus übte, hat er seither in weiteren Veröffentlichungen und Vorträgen fortgesetzt.
Sicher ist es nicht nötig, auf alle öffentlichen Angriffe auf den hier wachsenden Buddhismus zu reagieren. Doch gibt es angesichts von Kritik auch eine feine Grenze zwischen Gelassenheit und Ignoranz. Kritik, ja Gegnerschaft ist vielfach eine Quelle des Lernens und der Selbsterkenntnis. Darum sollte einigermaßen ernsthafte Kritik am Buddhismus von ihm ebenso ernsthaft betrachtet werden. Und im betreffenden Falle hat das, was Zizek zu sagen hat, uns durchaus etwas zu sagen. Vor allem macht er uns deutlich, welchen Herausforderungen ein westlicher Buddhismus antworten und sich gewachsen zeigen muss. Diese zu missachten, hieße, zu einem westlichen Buddhismus selber "Nein danke" zu sagen.
Viele Menschen im Westen eignen sich heute mit großer Hingabe asiatisch-buddhistische Sicht- und Verhaltensweisen an, ja wandern geradezu innerlich in östliche Kulturen aus, ohne die eigene Kultur wie auch die andere ernsthaft zu kennen. Umgekehrt denken, fühlen, handeln dieselben weiter in der abendländisch griechisch-jüdisch-christlichen Kultur, ohne sich dessen bewusst zu sein und damit auseinanderzusetzen. Ohnehin sind sich die allermeisten Menschen ihrer tiefgreifenden Kulturgeprägtheit kaum bewusst. Daraus entsteht ein "westlicher Buddhismus", der auf weitgehender Unkenntnis und Unbewusstheit der beiderseitigen kulturellen Hintergründe beruht und so letztlich keine wirkliche Selbsterkenntnis und Befreiung vermitteln kann.
Die abendländische Ichsuche
Warum - so ist doch zu fragen - hat es 2500 Jahre gedauert, bis der Westen den Buddhismus endlich zur Kenntnis nahm und damit begann, ihn zu verstehen, ja sich anzueignen, obwohl es vor 2300 Jahren bereits Handelsbeziehungen und eine geistige Begegnung der prägenden Kulturen des Westens (Griechenland, Rom) und des Ostens (Indien, China) gegeben hat. Dieser Austausch war nie völlig unterbrochen und doch war bis Anfang des 20.Jh. die Lehre und Person des Buddha im Abendland kaum richtig bekannt und noch weniger verstanden. Selbst heute noch, im 21.Jh. werden in Europa die Kulturen Asiens und die Welt des Buddhismus in grober Weise ignoriert und missdeutet, während umgekehrt die Kultur des Westens in Asien überreichlich präsent und bekannt ist.
Woher diese hartnäckige geistige Abgrenzung des Abendlands gegenüber dem fernen Asien? Eine Erklärung mag diese sein: der frühe europäische Mensch, der Grieche, und die frühe, erstmals europäisch zu nennende Kultur, die griechische Antike, waren zum Zeitpunkt ihrer Begegnung mit Asien von einem höchst zentralen Thema beherrscht: von der geistigen Suche nach dem Ich, dem Selbst, der eigenen Identität. Nicht zufällig tauchte in einer der frühsten europäischen Dichtungen, in Homers Beschreibung der Irrfahrten und Abenteuer des Odysseus erstmalig die Selbstaussage "Ich bin Odysseus" auf. Seither ging es dem griechischen Menschen um die Selbstfindung. "Erkenne dich selbst", hieß es über dem Eingang des Apollo-Tempels von Delphi. Derselbe Satz wurde zum Leitmotiv des Lebens und der Philosophie des Sokrates. Bis in unsere heutige Zeit ist der westliche Mensch Erbe Griechenlands und vom Thema Ichfindung, Selbstverwirklichung, Persönlichkeitsprofilierung beherrscht.
Dabei ging es nicht nur um das individuelle Selbst, sondern auch um das kollektive, um die Identität z.B. als Athener, Makedonier, Römer - später als Christ, Jude oder Moslem, Katholik oder Protestant, oder als Deutscher, Franzose, Engländer und heute als Europäer. Jahrhunderte lang war Europa gezeichnet von Kriegen um die Absicherung der eigenen Religion, Nationalität und Grenzen und sie haben viele Millionen menschliche Opfer gekostet. Auch im Augenblick sind die Gemüter von der Frage erhitzt, ob der bislang ausgegrenzte Islam in die europäische Kultur integriert werden kann oder der Türkei die Mitgliedschaft in der EU ermöglicht werden soll.
Von der Antike bis heute hat sich das Europäische immer in Abgrenzung zu Asien definiert. Hierbei stand Europa – aus westlicher Sicht – für den Wert, die Freiheit, die Stabilität des Ichs, während Asien mit dem Aufgehen im Kollektiv, in der Namenlosigkeit, im Ichlosen, im All-Einen identifiziert wurde. Asien, das war die Bedrohung des Nichts und der Leerheit, der "horror vacui" (die Angst vor der Leere). Asien war philosophisch, psychologisch, sozial und schon durch seine Weite, Menschenzahl und Vielfalt grenzenlos, profillos, chaotisch, ungreifbar - das Gegenteil einer festen, abgegrenzten, fassbaren Identität. Der Buddha, der ebenfalls dem "Erkenne dich selbst" folgte, jedoch zur Antwort von anatta (Nichtich), sunyata (Leerheit) und nirvana (Verlöschen) fand, konnte - gänzlich unverstanden - nur als Bestätigung dieser Bedrohung, Abgrund des Nihilismus und Gegenpol zu Europa empfunden werden.
Sehnsucht nach Alternativen
Zugleich litt das Abendland auch an diesem Ich und seiner Identitäts-Suche, die immer wieder massiv verunsichert wurde – zuerst durch das Christentum, welches das Ich auf Gott zurückzuführen suchte, dann durch die moderne Wissenschaft (Kopernikus, Descartes, Kant, Marx, Darwin, Freud, heute die Neurobiologie), deren Erkenntnisse immer wieder dazu zwangen, das in Frage gestellte Ich neu zu begründen.
Seit der Romantik bis heute gibt es in der europäischen Geistesgeschichte ein starkes "Unbehagen in der Kultur" (Freud), eine große Sehnsucht und Suche nach kulturellen Alternativen und grundlegender Erneuerung. Das ermöglichte es der Lehre des Buddha, im 19. Jh. erstmals die Aufmerksamkeit westlicher Geister zu finden. Bedeutende Vertreter der europäischen, insbesondere der deutschen kulturkritischen Elite sahen im Buddhismus eine, ihrer Suche entgegenkommende, Hoffnung und Perspektive. (Schopenhauer, Wagner, Nietzsche, Hofmannsthal, Mauthner, Hesse, C.G. Jung, Heidegger, Jaspers, Ziegler, Gebser u.a.). Der Buddhismus wurde Teil einer breiten Bewegung der "Lebensreform".
Andere Antworten, die im Rückgriff auf Kulturformen vor der Ichausbildung der Antike gefunden wurden, führten im 20. Jh. zu entsetzlichen zivilisatorischen Katastrophen. Sowohl dem stalinistischen Kommunismus wie dem völkischen Rassismus war die Sehnsucht nach der Auflösung des Ichs in einer großen kollektiven Einheit gemein. Beide fungierten als aufklärungsfeindliche Ersatzreligionen. Beide haben dem beginnenden Interesse des Abendlands am Buddhismus für mehrere Jahrzehnte schwere Rückschläge versetzt. Erst mit der Auflösung beider Ideologien wuchs wieder die Bereitschaft, dem Weg des Buddha zu begegnen.
Die heutige Annäherung an den Buddhismus stellt sich ganz anders dar als die zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Die einstige Hoffnung, bei Buddha eine Antwort auf die Krise der westlichen Zivilisation zu finden, hat sich aufgelöst. Man erwartet nun von ihm nur noch private Perspektiven. Verflogen ist umgekehrt auch die Angst, wie sie einst den preussischen Kaiser Wilhelm II. umtrieb, der im Buddha den Inbegriff der "gelben Gefahr" sah, die uns zu überrollen droht. Die noch bis vor kurzem verkündeten Warnungen der christlichen Kirchen vor dem "Untergang des Abendlands" haben sich in deren fundamentalistische Kreise zurückgezogen. Stattdessen überwiegt heute Wohlwollen oder – seitdem man im Islam die neue Herausforderung des Westens sieht – wieder das Desinteresse und Vergessen.
Auf dem Weg zum Wellness-Buddhismus?
Der westliche Buddhismus hat nunmehr das Image eines kurzfristigen exotischen Lifestyle-Trips erworben, so dass sich derzeit kein bekannter europäischer Denker oder Wissenschaftler mehr dazu veranlasst fühlt, sich tiefer mit ihm zu befassen oder sich gar zu ihm zu bekennen. Er wird unter diesen zumeist als harmlos, naiv und weltfremd bewertet. Dazu trägt sehr seine unglückselige Vermischung mit Esoterik und New Age bei. Hier hält man ihn für nützlich, um sich seiner für eigene Zwecke zu bedienen. In Zeiten von zunehmendem beruflichem und gesellschaftlichem Stress und breiter wirtschaftlich-politischer Perspektivlosigkeit bietet der Buddhismus offensichtlich individuelle Fluchten des mystischen Vergessens, friedlicher Entspannung und sanfter Wellness-Verwöhnung. Gelegentlich auch geistiges und körperliches Fitness-Training für Manager und Erfolgswillige.
Das ist der Punkt, an dem die Kritik Zizeks ansetzt. Er fürchtet, dass ein solcher Buddhismus nichts dazu beiträgt, den heute immer deutlicheren, kulturellen, gesellschaftlichen, ökologischen Zerstörungsaspekten der westlichen Zivilisation eine heilsame Wendung und Orientierung zu geben, sondern im Gegenteil dazu verhilft, den herrschenden "Verblendungszusammenhang" (Adorno) weiter zu stabilisieren, ja sogar zu vertiefen. Anders gesagt: Zizek wirft dem westlichen Buddhismus vor, dass er der globalisierten und hochtechnisierten Gierökonomie des Westens nun auch noch die fehlende spirituelle Metaphysik und leistungssteigernde, entspannte Gelassenheit liefere – auf dass der totale Zugriff auf die Welt und alles Leben noch effizienter zu Ende geführt werden kann. Er nennt den Buddhismus die "ideale Religion des neoliberalen Kapitalismus" und setzt seine eigene Hoffnung auf eine Erneuerung des Christentums.
Die Aussagen Zizeks im einzelnen lassen erkennen, dass er den Buddhismus insgesamt, wie auch den westlichen nicht wirklich gründlich kennt, dennoch muss anerkannt werden, dass er etwas beobachtet, was jeden ernsthaft an der Lehre und Praxis des Buddha Interessierten beunruhigen muss. Denn es war ganz eindeutig nicht die Zielsetzung des Erwachten, zu jenem "pursuit of happiness" (Jagen nach Glück) jedermanns beizutragen, wie es der amerikanischen Verfassung zu Grunde liegt, wie es als "american way of life" missionarisch heute in aller Welt verbreitet wird und wie es immer stärker zur eigentlichen Zivilreligion der westlichen Konsumgesellschaften wird. Denn hier geht es um die grenzenlose Erfüllung aller Träume, Wünsche, Illusionen, Begierden und Abneigungen, nach der das individuelle Ich zur Bestätigung und Erweiterung seiner Existenz greifen möchte. Dem Buddha dagegen geht es um die Befreiung von allem Greifen nach einem Ich oder nach Dingen und damit um das Erlangen eines Glücks, das nicht an irgend etwas gebunden ist.
Neue Verkleidungen des Ichs
Bei aller derzeitigen Offenheit der westlichen Welt gegenüber dem Buddhismus, die grundlegende Ich-Orientierung ist dort in keiner Weise verschwunden, sondern reinkarniert sich nur in neuer Gestalt: im Konzept der konsumfreudigen Selbstverwirklichung, der marktwertbewussten Ich-Inszenierung, des psycho- und biotechnischen Persönlichkeitsdesigns. Es geht längst nicht mehr um die christliche "Vervollkommnung der Seele" sondern um das erfolgreiche Coming out als Ich-AG. Wo die Ökonomie zur eigentlichen Religion wird, werden wir zu Produzenten und Verkäufern unser selbst als Ware – unseres "hart erarbeiteten" Selbst – auf einem grenzenlosen Markt der Ich-Konkurrenz. Die eigene Person wird zur Aktiengesellschaft, das Leben zum Gewinn- oder Verlust-Geschäft. Umgekehrt wird die Religion immer mehr zur Ökonomie, zum religiösen Supermarkt und Business.
Modisch gut im Trend liegenden westlichen Buddhisten gelingt es nun, diese postmoderne "Umwertung der Werte" (Nietzsche) unter Markenlogos wie "schnellster Weg zur Erleuchtung", "großes Vertrauen in die eigene Buddha-Natur", "das Zen der ersten Million" und unzähligen Glücksversprechen erfolgreich als westlichen Buddhismus zu verkaufen. Das Anliegen des Buddha wird damit ziemlich auf den Kopf gestellt. Während der Erwachte das Durchschauen leiderzeugender Selbsttäuschung und Anhaftung lehrte, wird hier in buddhistischem Outfit der spirituell potenzierte Haben- und Egokult vermarktet.
Auch unter den ernsthafteren westlichen Buddhisten wird die neuartige Verkleidung des Ich-Konzepts kaum wahrgenommen oder durchschaut. Stattdessen klebt die gängige Vermittlung der Lehre vom Nicht-Ich (anatta) an der Widerlegung altertümlicher Konzepte wie dem von der "Ewigen Seele" oder eines "beständigen Wesenskern". Darüber ist das westliche Denken aber spätestens seit Sigmund Freud hinaus. Die Soziologie, Psychologie, Neurologie haben die Idee von einem dauerhaften Selbst oder einer objektiven Seele schon lange aufgegeben. Sie sprechen inzwischen von der flexiblen, multiplen, in Entwicklung befindlichen Persönlichkeit oder haben das Ich ganz in Wahrnehmungs- und Verhaltensprozesse aufgelöst. Das abendländische Ich ist heute nicht mehr eines, das (statisch) da ist und vorgefunden wird, sondern eines, das (dynamisch) erworben, erarbeitet, gestaltet werden muss.
Wo die kulturellen Hintergründe und Veränderungen des Westens wie des Ostens von den meisten Lehrern und Schülern des Buddhawegs ignoriert werden, wird dessen Vermittlung dann auch immer stärker - westlich individualistischer Sichtweise entsprechend - psychologisiert oder mystifiziert und stützt sich immer weniger auf authentische Lehren und Praktiken des historischen Buddha. Viele hiesige Buddhisten sehen im Buddhismus lediglich eine aus Asien kommende Psychotherapie oder Esoterik.
In etlichen Fällen wird der Buddhaweg auch zum neuen Glauben und gelangt die scheinbar verlassene Kirche samt Mittelalter wieder zur Auferstehung – mit allen Formen von alleinseeligmachendem Wahrheitsanspruch, magischem Aberglauben, frommer Unterwerfung und neuer Vatikanhierarchie.
Erwachen des Westens
Ohne Auseinandersetzung mit den Formen und Auswirkungen der Ich-Ideologie in der westlichen Kultur wird der Buddhismus nur zu einem Anhängsel an diese Kultur und ihre Täuschungen werden und trägt auf diese Weise, anstatt zur Überwindung, zur Fortsetzung unserer Leiden bei.
Ein westlicher Buddhismus muss darum zuallererst wahrhaftes Buddha-Dharma sein und nicht buddhistisch verpackte Kultur des Westens, zur Erfüllung aller unserer Ansprüche auf perfektes Glück. Zugleich muss er ein dem Westen antwortender und auf diese Weise westlicher Buddhismus sein, anstatt sich lediglich als asiatisch-exotischer Religionsimport anzubieten. Und das heißt: westlicher Buddhismus muss die westliche Kultur zur Aufklärung, zur Erkenntnis, zum Erwachen über sich selbst bringen, damit diese sich von einigen ihrer uralten Verblendungen und den daraus folgenden Leiden befreien und vielleicht auf eine neue Weise entfalten kann. Westlicher Buddhismus muss Erwachen des Westens werden.
Franz-Johannes Litsch ist Architekt, seit 42 Jahren auf dem Weg des Buddha, viele Jahre als Zen-Praktizierender, einige Jahre dem tibetischen Buddhismus folgend, heute Theravada- und Vipassana-Übender. Er war 8 Jahre Mitglied des Rates der DBU, ist Mitgründer der Buddhistischen Akademie Berlin und tritt für einen gesellschaftlich engagierten Buddhismus ein.
Copyright © Buddhanetz [Stand: Januar 2006]
von Franz-Johannes Litsch
Im Oktober 2000 erschien im Feuilleton einer großen deutschen Tageszeitung ein Aufsatz unter dem Titel: "Westlicher Buddhismus? Nein danke!". Autor des Beitrags war der international renommierte slovenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek. Die scharfe Kritik, die er darin am westlichen Buddhismus übte, hat er seither in weiteren Veröffentlichungen und Vorträgen fortgesetzt.
Sicher ist es nicht nötig, auf alle öffentlichen Angriffe auf den hier wachsenden Buddhismus zu reagieren. Doch gibt es angesichts von Kritik auch eine feine Grenze zwischen Gelassenheit und Ignoranz. Kritik, ja Gegnerschaft ist vielfach eine Quelle des Lernens und der Selbsterkenntnis. Darum sollte einigermaßen ernsthafte Kritik am Buddhismus von ihm ebenso ernsthaft betrachtet werden. Und im betreffenden Falle hat das, was Zizek zu sagen hat, uns durchaus etwas zu sagen. Vor allem macht er uns deutlich, welchen Herausforderungen ein westlicher Buddhismus antworten und sich gewachsen zeigen muss. Diese zu missachten, hieße, zu einem westlichen Buddhismus selber "Nein danke" zu sagen.
Viele Menschen im Westen eignen sich heute mit großer Hingabe asiatisch-buddhistische Sicht- und Verhaltensweisen an, ja wandern geradezu innerlich in östliche Kulturen aus, ohne die eigene Kultur wie auch die andere ernsthaft zu kennen. Umgekehrt denken, fühlen, handeln dieselben weiter in der abendländisch griechisch-jüdisch-christlichen Kultur, ohne sich dessen bewusst zu sein und damit auseinanderzusetzen. Ohnehin sind sich die allermeisten Menschen ihrer tiefgreifenden Kulturgeprägtheit kaum bewusst. Daraus entsteht ein "westlicher Buddhismus", der auf weitgehender Unkenntnis und Unbewusstheit der beiderseitigen kulturellen Hintergründe beruht und so letztlich keine wirkliche Selbsterkenntnis und Befreiung vermitteln kann.
Die abendländische Ichsuche
Warum - so ist doch zu fragen - hat es 2500 Jahre gedauert, bis der Westen den Buddhismus endlich zur Kenntnis nahm und damit begann, ihn zu verstehen, ja sich anzueignen, obwohl es vor 2300 Jahren bereits Handelsbeziehungen und eine geistige Begegnung der prägenden Kulturen des Westens (Griechenland, Rom) und des Ostens (Indien, China) gegeben hat. Dieser Austausch war nie völlig unterbrochen und doch war bis Anfang des 20.Jh. die Lehre und Person des Buddha im Abendland kaum richtig bekannt und noch weniger verstanden. Selbst heute noch, im 21.Jh. werden in Europa die Kulturen Asiens und die Welt des Buddhismus in grober Weise ignoriert und missdeutet, während umgekehrt die Kultur des Westens in Asien überreichlich präsent und bekannt ist.
Woher diese hartnäckige geistige Abgrenzung des Abendlands gegenüber dem fernen Asien? Eine Erklärung mag diese sein: der frühe europäische Mensch, der Grieche, und die frühe, erstmals europäisch zu nennende Kultur, die griechische Antike, waren zum Zeitpunkt ihrer Begegnung mit Asien von einem höchst zentralen Thema beherrscht: von der geistigen Suche nach dem Ich, dem Selbst, der eigenen Identität. Nicht zufällig tauchte in einer der frühsten europäischen Dichtungen, in Homers Beschreibung der Irrfahrten und Abenteuer des Odysseus erstmalig die Selbstaussage "Ich bin Odysseus" auf. Seither ging es dem griechischen Menschen um die Selbstfindung. "Erkenne dich selbst", hieß es über dem Eingang des Apollo-Tempels von Delphi. Derselbe Satz wurde zum Leitmotiv des Lebens und der Philosophie des Sokrates. Bis in unsere heutige Zeit ist der westliche Mensch Erbe Griechenlands und vom Thema Ichfindung, Selbstverwirklichung, Persönlichkeitsprofilierung beherrscht.
Dabei ging es nicht nur um das individuelle Selbst, sondern auch um das kollektive, um die Identität z.B. als Athener, Makedonier, Römer - später als Christ, Jude oder Moslem, Katholik oder Protestant, oder als Deutscher, Franzose, Engländer und heute als Europäer. Jahrhunderte lang war Europa gezeichnet von Kriegen um die Absicherung der eigenen Religion, Nationalität und Grenzen und sie haben viele Millionen menschliche Opfer gekostet. Auch im Augenblick sind die Gemüter von der Frage erhitzt, ob der bislang ausgegrenzte Islam in die europäische Kultur integriert werden kann oder der Türkei die Mitgliedschaft in der EU ermöglicht werden soll.
Von der Antike bis heute hat sich das Europäische immer in Abgrenzung zu Asien definiert. Hierbei stand Europa – aus westlicher Sicht – für den Wert, die Freiheit, die Stabilität des Ichs, während Asien mit dem Aufgehen im Kollektiv, in der Namenlosigkeit, im Ichlosen, im All-Einen identifiziert wurde. Asien, das war die Bedrohung des Nichts und der Leerheit, der "horror vacui" (die Angst vor der Leere). Asien war philosophisch, psychologisch, sozial und schon durch seine Weite, Menschenzahl und Vielfalt grenzenlos, profillos, chaotisch, ungreifbar - das Gegenteil einer festen, abgegrenzten, fassbaren Identität. Der Buddha, der ebenfalls dem "Erkenne dich selbst" folgte, jedoch zur Antwort von anatta (Nichtich), sunyata (Leerheit) und nirvana (Verlöschen) fand, konnte - gänzlich unverstanden - nur als Bestätigung dieser Bedrohung, Abgrund des Nihilismus und Gegenpol zu Europa empfunden werden.
Sehnsucht nach Alternativen
Zugleich litt das Abendland auch an diesem Ich und seiner Identitäts-Suche, die immer wieder massiv verunsichert wurde – zuerst durch das Christentum, welches das Ich auf Gott zurückzuführen suchte, dann durch die moderne Wissenschaft (Kopernikus, Descartes, Kant, Marx, Darwin, Freud, heute die Neurobiologie), deren Erkenntnisse immer wieder dazu zwangen, das in Frage gestellte Ich neu zu begründen.
Seit der Romantik bis heute gibt es in der europäischen Geistesgeschichte ein starkes "Unbehagen in der Kultur" (Freud), eine große Sehnsucht und Suche nach kulturellen Alternativen und grundlegender Erneuerung. Das ermöglichte es der Lehre des Buddha, im 19. Jh. erstmals die Aufmerksamkeit westlicher Geister zu finden. Bedeutende Vertreter der europäischen, insbesondere der deutschen kulturkritischen Elite sahen im Buddhismus eine, ihrer Suche entgegenkommende, Hoffnung und Perspektive. (Schopenhauer, Wagner, Nietzsche, Hofmannsthal, Mauthner, Hesse, C.G. Jung, Heidegger, Jaspers, Ziegler, Gebser u.a.). Der Buddhismus wurde Teil einer breiten Bewegung der "Lebensreform".
Andere Antworten, die im Rückgriff auf Kulturformen vor der Ichausbildung der Antike gefunden wurden, führten im 20. Jh. zu entsetzlichen zivilisatorischen Katastrophen. Sowohl dem stalinistischen Kommunismus wie dem völkischen Rassismus war die Sehnsucht nach der Auflösung des Ichs in einer großen kollektiven Einheit gemein. Beide fungierten als aufklärungsfeindliche Ersatzreligionen. Beide haben dem beginnenden Interesse des Abendlands am Buddhismus für mehrere Jahrzehnte schwere Rückschläge versetzt. Erst mit der Auflösung beider Ideologien wuchs wieder die Bereitschaft, dem Weg des Buddha zu begegnen.
Die heutige Annäherung an den Buddhismus stellt sich ganz anders dar als die zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Die einstige Hoffnung, bei Buddha eine Antwort auf die Krise der westlichen Zivilisation zu finden, hat sich aufgelöst. Man erwartet nun von ihm nur noch private Perspektiven. Verflogen ist umgekehrt auch die Angst, wie sie einst den preussischen Kaiser Wilhelm II. umtrieb, der im Buddha den Inbegriff der "gelben Gefahr" sah, die uns zu überrollen droht. Die noch bis vor kurzem verkündeten Warnungen der christlichen Kirchen vor dem "Untergang des Abendlands" haben sich in deren fundamentalistische Kreise zurückgezogen. Stattdessen überwiegt heute Wohlwollen oder – seitdem man im Islam die neue Herausforderung des Westens sieht – wieder das Desinteresse und Vergessen.
Auf dem Weg zum Wellness-Buddhismus?
Der westliche Buddhismus hat nunmehr das Image eines kurzfristigen exotischen Lifestyle-Trips erworben, so dass sich derzeit kein bekannter europäischer Denker oder Wissenschaftler mehr dazu veranlasst fühlt, sich tiefer mit ihm zu befassen oder sich gar zu ihm zu bekennen. Er wird unter diesen zumeist als harmlos, naiv und weltfremd bewertet. Dazu trägt sehr seine unglückselige Vermischung mit Esoterik und New Age bei. Hier hält man ihn für nützlich, um sich seiner für eigene Zwecke zu bedienen. In Zeiten von zunehmendem beruflichem und gesellschaftlichem Stress und breiter wirtschaftlich-politischer Perspektivlosigkeit bietet der Buddhismus offensichtlich individuelle Fluchten des mystischen Vergessens, friedlicher Entspannung und sanfter Wellness-Verwöhnung. Gelegentlich auch geistiges und körperliches Fitness-Training für Manager und Erfolgswillige.
Das ist der Punkt, an dem die Kritik Zizeks ansetzt. Er fürchtet, dass ein solcher Buddhismus nichts dazu beiträgt, den heute immer deutlicheren, kulturellen, gesellschaftlichen, ökologischen Zerstörungsaspekten der westlichen Zivilisation eine heilsame Wendung und Orientierung zu geben, sondern im Gegenteil dazu verhilft, den herrschenden "Verblendungszusammenhang" (Adorno) weiter zu stabilisieren, ja sogar zu vertiefen. Anders gesagt: Zizek wirft dem westlichen Buddhismus vor, dass er der globalisierten und hochtechnisierten Gierökonomie des Westens nun auch noch die fehlende spirituelle Metaphysik und leistungssteigernde, entspannte Gelassenheit liefere – auf dass der totale Zugriff auf die Welt und alles Leben noch effizienter zu Ende geführt werden kann. Er nennt den Buddhismus die "ideale Religion des neoliberalen Kapitalismus" und setzt seine eigene Hoffnung auf eine Erneuerung des Christentums.
Die Aussagen Zizeks im einzelnen lassen erkennen, dass er den Buddhismus insgesamt, wie auch den westlichen nicht wirklich gründlich kennt, dennoch muss anerkannt werden, dass er etwas beobachtet, was jeden ernsthaft an der Lehre und Praxis des Buddha Interessierten beunruhigen muss. Denn es war ganz eindeutig nicht die Zielsetzung des Erwachten, zu jenem "pursuit of happiness" (Jagen nach Glück) jedermanns beizutragen, wie es der amerikanischen Verfassung zu Grunde liegt, wie es als "american way of life" missionarisch heute in aller Welt verbreitet wird und wie es immer stärker zur eigentlichen Zivilreligion der westlichen Konsumgesellschaften wird. Denn hier geht es um die grenzenlose Erfüllung aller Träume, Wünsche, Illusionen, Begierden und Abneigungen, nach der das individuelle Ich zur Bestätigung und Erweiterung seiner Existenz greifen möchte. Dem Buddha dagegen geht es um die Befreiung von allem Greifen nach einem Ich oder nach Dingen und damit um das Erlangen eines Glücks, das nicht an irgend etwas gebunden ist.
Neue Verkleidungen des Ichs
Bei aller derzeitigen Offenheit der westlichen Welt gegenüber dem Buddhismus, die grundlegende Ich-Orientierung ist dort in keiner Weise verschwunden, sondern reinkarniert sich nur in neuer Gestalt: im Konzept der konsumfreudigen Selbstverwirklichung, der marktwertbewussten Ich-Inszenierung, des psycho- und biotechnischen Persönlichkeitsdesigns. Es geht längst nicht mehr um die christliche "Vervollkommnung der Seele" sondern um das erfolgreiche Coming out als Ich-AG. Wo die Ökonomie zur eigentlichen Religion wird, werden wir zu Produzenten und Verkäufern unser selbst als Ware – unseres "hart erarbeiteten" Selbst – auf einem grenzenlosen Markt der Ich-Konkurrenz. Die eigene Person wird zur Aktiengesellschaft, das Leben zum Gewinn- oder Verlust-Geschäft. Umgekehrt wird die Religion immer mehr zur Ökonomie, zum religiösen Supermarkt und Business.
Modisch gut im Trend liegenden westlichen Buddhisten gelingt es nun, diese postmoderne "Umwertung der Werte" (Nietzsche) unter Markenlogos wie "schnellster Weg zur Erleuchtung", "großes Vertrauen in die eigene Buddha-Natur", "das Zen der ersten Million" und unzähligen Glücksversprechen erfolgreich als westlichen Buddhismus zu verkaufen. Das Anliegen des Buddha wird damit ziemlich auf den Kopf gestellt. Während der Erwachte das Durchschauen leiderzeugender Selbsttäuschung und Anhaftung lehrte, wird hier in buddhistischem Outfit der spirituell potenzierte Haben- und Egokult vermarktet.
Auch unter den ernsthafteren westlichen Buddhisten wird die neuartige Verkleidung des Ich-Konzepts kaum wahrgenommen oder durchschaut. Stattdessen klebt die gängige Vermittlung der Lehre vom Nicht-Ich (anatta) an der Widerlegung altertümlicher Konzepte wie dem von der "Ewigen Seele" oder eines "beständigen Wesenskern". Darüber ist das westliche Denken aber spätestens seit Sigmund Freud hinaus. Die Soziologie, Psychologie, Neurologie haben die Idee von einem dauerhaften Selbst oder einer objektiven Seele schon lange aufgegeben. Sie sprechen inzwischen von der flexiblen, multiplen, in Entwicklung befindlichen Persönlichkeit oder haben das Ich ganz in Wahrnehmungs- und Verhaltensprozesse aufgelöst. Das abendländische Ich ist heute nicht mehr eines, das (statisch) da ist und vorgefunden wird, sondern eines, das (dynamisch) erworben, erarbeitet, gestaltet werden muss.
Wo die kulturellen Hintergründe und Veränderungen des Westens wie des Ostens von den meisten Lehrern und Schülern des Buddhawegs ignoriert werden, wird dessen Vermittlung dann auch immer stärker - westlich individualistischer Sichtweise entsprechend - psychologisiert oder mystifiziert und stützt sich immer weniger auf authentische Lehren und Praktiken des historischen Buddha. Viele hiesige Buddhisten sehen im Buddhismus lediglich eine aus Asien kommende Psychotherapie oder Esoterik.
In etlichen Fällen wird der Buddhaweg auch zum neuen Glauben und gelangt die scheinbar verlassene Kirche samt Mittelalter wieder zur Auferstehung – mit allen Formen von alleinseeligmachendem Wahrheitsanspruch, magischem Aberglauben, frommer Unterwerfung und neuer Vatikanhierarchie.
Erwachen des Westens
Ohne Auseinandersetzung mit den Formen und Auswirkungen der Ich-Ideologie in der westlichen Kultur wird der Buddhismus nur zu einem Anhängsel an diese Kultur und ihre Täuschungen werden und trägt auf diese Weise, anstatt zur Überwindung, zur Fortsetzung unserer Leiden bei.
Ein westlicher Buddhismus muss darum zuallererst wahrhaftes Buddha-Dharma sein und nicht buddhistisch verpackte Kultur des Westens, zur Erfüllung aller unserer Ansprüche auf perfektes Glück. Zugleich muss er ein dem Westen antwortender und auf diese Weise westlicher Buddhismus sein, anstatt sich lediglich als asiatisch-exotischer Religionsimport anzubieten. Und das heißt: westlicher Buddhismus muss die westliche Kultur zur Aufklärung, zur Erkenntnis, zum Erwachen über sich selbst bringen, damit diese sich von einigen ihrer uralten Verblendungen und den daraus folgenden Leiden befreien und vielleicht auf eine neue Weise entfalten kann. Westlicher Buddhismus muss Erwachen des Westens werden.
Franz-Johannes Litsch ist Architekt, seit 42 Jahren auf dem Weg des Buddha, viele Jahre als Zen-Praktizierender, einige Jahre dem tibetischen Buddhismus folgend, heute Theravada- und Vipassana-Übender. Er war 8 Jahre Mitglied des Rates der DBU, ist Mitgründer der Buddhistischen Akademie Berlin und tritt für einen gesellschaftlich engagierten Buddhismus ein.
Copyright © Buddhanetz [Stand: Januar 2006]
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