Was ist Buddhismus? Ethik – Meditation- Weisheit
von Franz-Johannes Litsch
Worum es dem Buddha ging
Am Ausgangspunkt des Weges des Buddha und damit des Buddhismus steht jene grundlegende Erschütterung, die den Prinzen Siddhattha Gotama erfasste, als er, geführt von seinem Wagenlenker jene berühmten drei Ausfahrten aus seinem Palast unternahm, um zum ersten Mal ernsthaft die Grundtatsachen der Wirklichkeit wahrzunehmen. Es war dies die Begegnung mit der immerwährenden Unvermeidlichkeit von Alter, Krankheit und Tod, die Konfrontation mit der Wahrheit des Leidens. Es war die Erkenntnis, dass es kein Leben gibt ohne Leiden.
Bald nach dieser Erfahrung verließ Siddhattha seinen Palast für immer und begab sich auf den Weg der Befreiung. Wohin führte dieser Weg und was trieb ihn dabei an? War es Weltfeindschaft, Lebensüberdruss oder gar Todessehnsucht - wie dies häufig und lange von westlichen Interpreten behauptet wurde, ja immer noch verbreitet wird?
Im Gegenteil, es war nicht etwa die überquellende tropische Vielfalt und Energie des Lebens, die ihn überwaltigte, sondern umgekehrt die übermäßige Anwesenheit des Todes in der Welt. Siddhattha sah die Wirklichkeit des Todes im alten Menschen, er sah sie im Kranken, er sah sie endgültig (im wahren Sinne des Wortes) im Toten, im Gestorbenen und in vielem anderen.
Alle Religionen – von denen der ältesten Frühzeit bis zu den jüngsten Neugründungen, insbesondere alle heutigen Weltreligionen in Ost und West (wie Judentum, Christentum, Islam, Konfuzianismus, Taoismus und andere und natürlich auch der Buddhismus) – gehen zentral von der Grunderfahrung des Todes, der Fundamentalerschütterung des Menschen aus.
"Ich bin der Tod, der alles raubt,
Erschütterer der Welten"
So heißt es bereits in den vedischen Schriften des alten Indien, 1000 Jahre vor Christus, 500 vor Buddha. Alle Religionen haben sich bemüht, auf den Tod, dieses Fundamentalfaktum des Daseins, jeglichen Lebens und menschlicher Existenz eine Antwort oder Lösung, eine Möglichkeit der Bewältigung zu geben. Solange es Leben gibt und damit Sterben und Tod gibt, solange wird es deshalb auch Religion und Religionen geben, trotz aller modernen Wissenschaften, Techniken und Ökonomien, die uns die Tatsache des Todes vergessen lassen wollen oder sich uns selbst als Zukunftserlösung und Ersatzreligion anbieten. Die neuste Version davon ist, dass uns nun die Abschaffung des Todes mit Hilfe der Gen-, Nano- und Robotertechnik versprochen wird. Es ist bereits abzusehen, dass auf diese Weise vor allem neue Schrecken des Todes und Leidens in unsere Welt kommen werden.
Später formulierte der zum Buddha gewordene Wahrheitssucher diese Einsicht als sog. 1. Edle Wahrheit seiner Lehre und zwar folgendermaßen:
"Dies Bhikkhus, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidhaft, Altern ist leidhaft, Krankheit ist leidhaft, Tod ist leidhaft; Trauer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind leidhaft; mit Unliebem vereint sein, von Liebem getrennt sein ist leidhaft; Begehrtes nicht erlangen ist leidhaft; kurz das Anhaften an dem, was unsere Person ausmacht, ist leidhaft."
Bei seiner vierten Ausfahrt als Prinz war er dann auch in jenem Wandermönch, der einen offensichtlich tief friedvollen, freundlichen, erlösten Geist ausstrahlte, der dennoch möglichen Überwindung des Todes bzw. des Leidens (an der Wahrheit des Todes) begegnet. Darin zeigte sich ihm die 3. Edle Wahrheit, nämlich dass das Leiden überwunden werden kann.
Wenn dem so ist, ergibt sich daraus, dass es auch eine Ursache für das Leiden geben muss und weiter, dass es ebenso einen Weg geben muss, der zur Befreiung führen kann. So war auch die 2. und die 4. Edle Wahrheit lange vor Siddhatthas eigener Befreiung - dem Erlangen der Buddhaschaft - in diesen vier Ausfahrten aus dem Palast in die Welt bereits angelegt.
Als der Prinz bald darauf ein fünftes Mal, diesmal für immer sein Zuhause, diesen Palast der angenehmen Illusionen, dieses selbst geschaffene Gefängnis verlies, um in die Hauslosigkeit (Nichtanhaftung) zu gehen und eine Antwort auf die Frage des allgegenwärtigen Todes und des daraus folgenden menschlichen Leidens zu finden, da war ebenso (wenn auch noch unbewusst) bereits seine Einsicht in die Ursache des Leidens und den zur Befreiung führenden Weg gefunden. Denn indem er alle ihn bis dahin gefangen haltenden Täuschungen, Sicherheiten und Gewohnheiten verließ (losließ), setzte er sich frei und offen dem Tode aus, konfrontierte er sich mit dem Leiden, nahm er die Wirklichkeit und Wahrheit, die Lösung und Befreiung an. Im Grunde hatte er seinen Weg und damit den Weg des Buddhismus bereits gefunden. Es mußte ihn nur noch gehen.
Nur eine Frage blieb für Siddhatta noch offen und zwar bis zu seinem Erwachen. Die Antwort fand er in seinem Erwachen und sie machte ihn schließlich – wie es in Asien heißt – zum samma sambuddha, zum Vollerwachten. Die Frage war: suche ich nach Befreiung vom Leiden nur für mich selbst oder für alle leidenden Menschen oder gar Wesen? Wenn es nur um die Befreiung von meinem Leiden geht, dann ist die Lösung dann gefunden, wenn ich kein Leiden mehr erfahre. Geht es um die Befreiung vom Leiden für alle, dann kann die Lösung nur darin bestehen, dass ich kein Leiden mehr erzeuge. Denn ich selbst – das zeigt die Alltagserfahrung – kann durchaus lange (möglicherweise in diesem Leben ganz) von Leiden verschont bleiben, während ich anderen Leiden zufüge, ja meine Leidfreiheit sogar auf Kosten anderer verwirkliche. Erzeuge ich jedoch (für mich selbst und andere) kein Leiden mehr, dann bedeutet das, dass ich selbst und andere durch mich tatsächlich kein Leiden mehr erfahren.
Es kann also auf dem Weg des Buddha nicht nur darum gehen, kein Leid mehr zu erleben, sondern kein Leid mehr zu schaffen. Deshalb hat der Buddha nach seinem Erwachen den von ihm gefundenen Weg auch für die Befreiung aller empfindenden Wesen gelehrt.
Der Weg des Buddha
Der Weg, oder die Lehre und Praxis des Buddha hat sich nach seinem Tod vor ca. 2500 Jahren über weite Teile Asiens ausgebreitet und eine große Vielzahl von unterschiedlichen Ausprägungen hervorgebracht. Man kann heute grob von 4 großen Schulen sprechen: dem Theravada-Buddhismus, dem Amida- oder Reine-Land-Buddhismus, dem Zen-Buddhismus und dem tibetischen Buddhismus. Alle diese Schulen sind nun nebeneinander auch in allen nichtasiatischen Kontinenten zu finden (Europa, Amerika, Afrika, Australien). Die Unterschiede im Erscheinungsbild, in den Methoden wie in den Lehrinhalten sind beträchtlich, aber alle stimmen in folgenden 3 Wegzielen überein. Sie können auch als Kriterien für die Ernsthaftigkeit und Authentizität einzelner Unterschulen oder Lehrer herangezogen werden.
Diese sind: Sila – Samadhi – Pañña (Ethik – Meditation – Weisheit)
Die weitere Ausformulierung dieses dreifachen Weges ist der von Buddha gelehrte sog. Achtfache Pfad. Die drei genannten Aspekte bilden drei Gruppen, in die der Achtfache Pfad eingeteilt werden kann.
Sila
In der bereits erwähnten ersten Lehrrede des Buddha im Hirschpark von Sarnath, mit der er seine 45-jährige Lehrtätigkeit quer durch ganz Nordindien begann, hatte er gesagt:
"Dies Bhikkhus, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidhaft, Altern ist leidhaft, Krankheit ist leidhaft, Tod ist leidhaft; Trauer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind leidhaft; mit Unliebem vereint sein, von Liebem getrennt sein ist leidhaft; Begehrtes nicht erlangen ist leidhaft; kurz das Anhaften an dem, was unsere Person ausmacht, ist leidhaft."
In der Aussage kann - über das unmittelbar Gesagte hinaus - etwas für den Weg des Buddha sehr wichtiges erkannt werden, nämlich dass der Buddha hier nicht von bestimmten Dingen oder Personen oder Institutionen spricht, nicht äußere Gegenstände, Verhältnisse, Zustände in der Welt beschreibt und beurteilt, sondern ausschließlich nur von inneren, geistig/psychischen Erfahrungen spricht. Leiden – so sagt er hier – ist eine Sache der Erfahrung, der Wahrnehmung und der Deutung. Es ist etwas, was in unserem Geist geschieht, nicht etwas, das eine von uns unabhängige, objektive Wirklichkeit darstellt. Ein und das gleiche Phänomen kann unterschiedlich erlebt und bewertet werden.
Damit soll nicht gesagt sein, dass es nicht bestimmte Erfahrungen und Leidenssituationen gibt, die von allen Menschen gleich erfahren und bewertet werden. Z.B. möchte niemand körperlich verletzt oder getötet werden, oder beraubt, oder belogen, oder beschimpft und gedemütigt usw. Weil ausnahmslos alle Menschen so empfinden, darum ergeben sich aus den zuletzt genannten Empfindungen auch die Grundsätze der buddhistischen Ethik – Sila in Pali-Sprache. Buddhas fünf ethische Prinzipien, die Panca-Sila, lauten in der Form, in der sie von jenen, die seinen Weg ernsthaft gehen wollen, angenommen, rezitiert und im Bewusstsein gehalten werden, folgendermaßen:
Kein Lebewesen zu töten oder zu verletzen,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Nichtgegebenes nicht zu nehmen,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Keine unheilsamen sexuellen Beziehungen zu pflegen,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Nicht zu lügen oder unheilsam zu sprechen,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Nicht durch berauschende Mittel mein Bewusstsein zu trüben,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Es ist wesentlich zu bemerken, dass es sich hier nicht um Gebote oder Verbote sondern um von uns aus freier und eigener Einsicht heraus anzunehmende Übungen handelt, auch nicht um Versprechungen. Dies kennzeichnet die - herkömmlicher Moral gegenüber - ganz andere, freiheitliche Grundhaltung und befreiende Zielsetzung des buddhistischen Weges.
Die buddhistische Ethik ergibt sich somit unmittelbar aus der für den Weg des Buddha grundlegenden Einsicht oder sog. Ersten edlen Wahrheit, nämlich, dass Leiden existiert, dass jedoch kein Mensch, mehr noch - kein Lebewesen bzw. kein empfindendes Wesen leiden möchte. Also auch Tiere nicht, in gewisser Hinsicht auch Pflanzen nicht. Und was wir nicht erleben möchten, dass sollten wir auch nicht herbeiführen, weder uns selbst gegenüber, noch anderen gegenüber. Das heißt: wer kein Leiden erfahren will, der sollte auch kein Leiden erzeugen. Nicht für mich, nicht für andere. Denn, was ich mir selbst antue, das tue ich letztlich dem anderen an, was ich dem anderen antue, das tue ich letztlich mir selbst an. Das ist die Kernaussage der buddhistischen Ethik. In einer der zahlreichen Lehrreden des Buddha aus dem Pali-Kanon, im sog. Sedakam-Sutta hat er dies in wunderbar wenigen Worten ausgedrückt:
"Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen.
Auf den anderen achtend, achte ich auf mich selbst."
Das zentrale Prinzip der buddhistischen Ethik lautet von daher: ahimsa, Nichtverletzen, kein Lebewesen mit Absicht zu verletzen. Anders gesagt: größtmögliche Gewaltlosigkeit im Denken, Sprechen und Handeln. Wir können deutlich sehen, was sich daraus nicht nur an persönlichen Folgerungen sondern auch an politischen, gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen wie auch ökologischen Konsequenzen ergibt.
Samadhi
Ich hatte darauf hingewiesen, dass der Buddha Leiden als etwas erkannte, dass nicht objektiv und unveränderlich gegeben ist und von uns in der äußeren Welt vorgefunden wird, sondern dass wir es erschaffen und zwar nicht nur durch unser Handeln sondern auch in unserem Erleben. Unsere Wahrnehmung, Interpretation und Sichtweise entscheidet mit, was wir als Leiden erfahren und wie wir es erfahren. Mancher ist in der Erfahrung eigenes Leids sehr empfindlich, aber beim Beobachten von Leid oder gar Zufügen von Leid gegenüber anderen fehlt jede Sensibilität. Andere erleben etwas als leidvoll, was der oder die andere gar nicht verletzend beabsichtigt hatte, und viele klagen und schimpfen über Situationen, die für andere bereits unerfüllbare Wunsche darstellen. Manche verhalten sich erschreckend grausam, weil sie bei sich selbst gar kein Leiden mehr spüren. Sie haben dessen Wahrnehmung völlig abgewürgt.
"Vom Geiste gehn die Dinge aus, im Geist geboren, im Geist gemacht" lehrte der Buddha. Unsere Handlungen gehen von unserem Geist aus, treten zuerst als Einfälle und Gedanken auf, dann als Worte und schließlich als körperliche Handlungen. Auch unsere Erfahrungen werden zuerst in unserem Geist erlebt durch die Art und Weise, wie wir sie sehen, zu sehen gewohnt sind, zu sehen bereit sind. Darum hat die jeweilige Verfassung unseres Geistes großen Einfluß darauf, was für uns zur Wirklichkeit wird. Die Wirklichkeit wird also von uns nicht vorgefunden und in unserem Geist einfach gespiegelt, sondern sie wird von unserem Geist gemacht. Buddha sagt: die Welt ist das Produkt unseres Geistes. Im einem Sutta des (A4, 45,3) heißt es:
"Ich verkündige, Freund, dass in diesem einen Armspanne großen Körper mit seinem Wahrnehmen und Denken die Welt liegt, die Entstehung der Welt, die Aufhebung der Welt und der Weg zur Aufhebung der Welt."
Ethisch einwandfreies, nicht verletzendes Verhalten genügt demnach nicht. Leiden entsteht in beträchtlichem Masse davon abhängig, in welchem Zustand unser Geist ist, der die Welt und die Dinge und die anderen Menschen wahrnimmt bzw. sie in sich erstehen lässt.
Ein aufgeregter, hektischer, unruhiger Geist nimmt die Wirklichkeit anders wahr, als einer, der in großer Gelassenheit und Aufmerksamkeit ruht. Ein wütender, zornerfüllter Geist sieht ganz anders oder viel weniger, als ein freundlicher, mitfühlender, offener Geist. Das Bewusstsein eines in tiefen Konzentrationsübungen Geschulten erspürt den Anderen auf eine Art und Weise, die jenem sogar selber unzugänglich sein kann.
Wir sind damit auf einer Ebene angelangt, die über die des ethisch richtigen Handelns hinausgeht (diese aber nicht ungültig macht, sondern auf eine höhere Ebene hebt) und innerhalb des achtfachen Pfades des Buddha die Praxisebene der Meditation ausmacht. Der Pali-Begriff dafür lautet Samadhi, was Sammlung, Konzentration, Klarheit, geistigen Frieden, innere Stille bedeutet.
Auf dem Wege der Entfaltung von Samadhi, oder anders gesagt der Samatha-Meditation wird in besonderem Masse das Erreichen jenes Ziel geübt, das als der zweite große Bereich des achtfachen Pfades gilt: die Befriedung, das zur Ruhe, zur Stille, Zur-Klarheit-Kommen unseres Geistes und unserer Welt. Nur ein ruhiger, konzentrierter, klarer Geist, ist ein friedlicher, ja friedvoller Geist.
Je friedvoller wir in unserem Inneren sind, umso friedvoller ist auch unsere Umgebung. Diese Tatsache können wir täglich in unserer familiären, beruflichen, sozialen, politischen Umwelt bestätigt finden. Wie lehrte Mahatma Gandhi und hieß es in der jüngsten Friedensbewegung gegen den Irak-Krieg: "Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg."
Allerdings – und dies wird leider von vielen Friedensfreunden und spirituell denkenden Menschen übersehen. Frieden löst nicht alle Probleme. Ruhe und Stille lässt nicht alles Elend und Leiden einfach verschwinden, sondern deckt es oft auch nur einfach zu. Es gibt auch die tödliche Ruhe des Friedhofs, das Verschweigen und Totschweigen des Leids und seiner Ursachen und der Möglichkeiten, es zu überwinden und vor allem - des eigenen Anteils daran. Eine gefährliche Falle, die von vielen, allzu gutgläubigen Esoterik- und Buddhismus-Fans liebend gerne aufgesucht wird.
Von der Seite hört man gelegentlich auch die wundervolle Botschaft: Krieg, Armut, Umweltzerstörung usw. ließen sich allesamt durch ausreichend Meditation lösen. Nicht wenige Menschen im Westen sind heute geradezu meditationssüchtig, so dass Meditation hier nicht zur Befreiung vom Leid dient, sondern zu dessen Wiedergeburt weil der Weg zur Droge wird und blind macht.
Es braucht also noch etwas, was über den nur friedlichen Geist hinausgeht und dies ist Einsicht, Erkenntnis, Weisheit. Die Hauptursache des Leidens - so erkannte der Buddha - ist unsere Unwissenheit, unsere Täuschung, unsere Verblendung, avijja.
Dies weist auf das dritte der genannten buddhistischen Ziele, nämlich "Befreiende Selbst- und Wirklichkeitserkenntnis" und auf den dritten Aspekt des achtfachen Pfades hin auf pañña.
Pañña
Pañña – heißt Wissen, Einsicht, Erkenntnis. Erkenntnis worüber? Über das, was Wirklichkeit ist. Auch hier sei eine schon zitierte Aussage Buddhas noch einmal wiederholt:
"Ich verkündige, Freund, dass in diesem einen Armspanne großen Körper mit seinem Wahrnehmen und Denken die Welt liegt, die Entstehung der Welt, die Aufhebung der Welt und der Weg zur Aufhebung der Welt."
In einer anderen Lehrrede heißt es (im Samyutta Nikaya, 35,23):
"Was Mönche ist das All? Das Auge und die Formen (sichtbare Objekte), das Ohr und die Töne, die Nase und die Gerüche, die Zunge und die Geschmäcke, der Körper und die Tastobjekte, das Denken und die Denkobjekte (Gedanken)."
Und in einem weiteren Sutta (M 18, 16):
"Bedingt durch Auge und Formen entsteht Sehbewusstsein; das Zusammentreffen dieser drei Faktoren ist Kontakt; durch den Kontakt bedingt entsteht Empfindung. Was man empfindet, das nimmt man wahr. Was man wahrnimmt, darüber denkt man nach. Worüber man nachdenkt, das entwirft man als vielfältige Außenwelt. Was man als Außenwelt projiziert, das bildet [wiederum] die Grundlage der vielfältigen Wahrnehmungen, die als vergangene künftige und gegenwärtige Sinneseindrücke an den Menschen herantreten."
Versuchen wir es etwas zugänglicher zu fassen: der Buddha lehrt uns hier – wir haben es schon zweimal, sowohl bei Sila wie bei Samadhi kennen gelernt und finden es auch hier wieder – dass das, was wir Wirklichkeit nennen, nicht etwas ist, was außerhalb von uns existiert, als sogenannte objektive Realität gegeben ist und von unserer Wahrnehmung und Erkenntnis lediglich (mehr oder weniger gut) widergespiegelt wird, sondern dass die sog. Wirklichkeit immer unsere Wirklichkeit ist, immer nur die Welt ist, wie wir sie sehen, bzw. wie wir sie selber geschaffen haben. Wir erschaffen die Welt einerseits in unserem Geist durch unsere Wahrnehmung nach innen und wir erschaffen die Welt andererseits, ausgehend von unserem Geist durch unser Handeln nach außen.
Immer ist unser Geist oder unser Ich der wahre Schöpfer der Welt. Dieses Ich erschafft in der Wahrnehmung nicht nur seine Welt – das Wahrgenommene – sondern erschafft im gleichen Vorgang auch sich selbst – das Wahrnehmende. Denn so, wie ich die Welt wahrnehme, so bin ich - und umgekehrt. Ich und Welt gehören untrennbar zusammen, beides bringt sich gegenseitig hervor.
Es geht in dieser dritte Stufe des Pfades um Erkenntnis. Und was es zu erkennen gilt, dass sind wir selbst und unsere Art und Weise, bzw. unsere geistigen und psychischen Muster, wie wir uns selbst und unsere Welt erschaffen und damit auch, wie wir uns unser Leiden erschaffen. Wie zu gleicher Zeit im alten Griechenland Sokrates auf dem Weg des "Erkenne Dich selbst" war, so ging es auch dem Buddha auf der höchsten Ebene seines Weges um tiefgründige Selbsterkenntnis.
Der buddhistische Weg der Selbsterkenntnis ist der Weg der Übung und Entfaltung immerwährender Achtsamkeit. Achtsamkeit (sati) ist das Herz der buddhistischen Praxis. Es geht darum: "zu wissen, was wir tun". Sich dessen bewußt zu sein, was in unserem Denken, Sprechen und Handeln geschieht. Noch genauer: zu beobachten, was in unserem Körper, unseren Gefühlen, unseren Wahrnehmungen, unseren Wünschen und Vorstellungen und in unserem Bewusstsein mit seinen Ideen, Gedanken, Konzepten, Theorien, Ideologien (über Gott und die Welt) geschieht. Diese Übung oder Praxis der Selbsterkenntnis heißt bei Gotama Buddha Satipatthana, "Vergegenwärtigung der Achtsamkeit" oder von der Methode her Vipassana, Einsichts-Meditation. Vipassana ist die Meditationsmethode, die der Buddha selbst entdeckt und entwickelt hat, sie ist von daher die buddhistische Meditation. Die wichtigen anderen Meditationsformen, die es noch im Buddhismus gibt - auch die weiter oben bereits erwähnte Samatha-Meditation - sind auch in anderen Religionen und spirituellen Wegen zu finden.
"Wer sich selbst erkennt, der erkennt die Welt" sagt der Buddha in einer seiner Lehrreden. Denn die Welt ist nicht anders als wir sind, und die Welt ist in beträchtlichem Ausmaß von uns selbst gemacht. Insbesondere die gewaltige Masse des menschheitlichen Leidens (Armut, Hunger, Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Diskriminierung, Gewalt, Folter, Krieg usw.) ist vielfach vom Menschen selber gemacht und unser persönliches Leiden ist in nicht wenigen Fällen ebenso auf uns selbst zurück zu führen.
Es gilt deshalb, Selbstverantwortung zu übernehmen, Verantwortung für unser Denken, Sprechen und Handeln. Verantwortung praktizieren, ist wiederum nichts anderes als Achtsamkeit verwirklichen, oder Bewusstheit leben, Erwachen, bodhi. Und das heißt, vor und über allem anderen: aufzuhören damit, für uns selbst und andere Leiden zu erzeugen.
Hier schließt sich wieder der Kreis zu dem, was wir als erste Stufe des Weges betrachtet haben, zu Sila, Ethik, Nichtverletzen, Beenden von Leiden. Der achtfache Pfad ist keine gerade Linie von hier nach da oder von unten nach oben, sondern er ist ein Kreis, eine Spirale, die immer wieder zu sich zurückfindet und doch immer weiter voranschreitet.
Doch ist hier noch etwas sehr wichtiges zu ergänzen. Es kann auf dem Buddhaweg nicht darum gehen, nur Verantwortung für mich selbst zu praktizieren (was dann praktisch heißt, nur den eigenen Vorteil zu sehen) und zu sagen: was das Leben und Leiden der anderen betrifft, das geht mich nichts an, das hat nichts mit mir zu tun, das ist deren Karma. Das ist eine leider nicht seltene, aber schlimme Verfälschung der Lehre des Buddha.
Der Kern der Lehre des Buddha ist die Aussage, dass es letztlich kein "Ich", "Mein", "Dein" gibt, und dass unser in Täuschung befangenes Denken in diesen Kategorien (die man auch die Denkweisen des Habens nennen könnte) gerade die Ursache allen Leids darstellt. Diese Lehre von an-atta, von Nicht-ich ist das, was die Essenz der Erleuchtung des Buddha und die Grundlage aller buddhistischen Schulen ausmacht.
Die Lehre vom Nichtselbst ist die letztendliche Selbsterkenntnis, zu der der Buddha führt. Das Selbst wird als zugleich Nichtselbst erkannt und erfahren.
Diese höchste Stufe der Selbsterkenntnis, die - wie schon wir sahen - zugleich Wirklichkeitserkenntnis ist, besteht darin, dass das sog. Selbst oder Ich und die sog. Wirklichkeit oder Welt nicht voneinander getrennt existieren oder abtrennbar sind. Dass es hier ein eigenständiges Ich gibt und da eine eigenständige Welt gibt, ist eine Täuschung. Ich und Nicht-Ich, Ich und das oder der Andere sind letztlich nicht trennbar. Ebenso wenig wie ein vermeintliches Ich für sich und aus sich existieren kann, kann die vermeintliche Welt oder der andere für sich und aus sich existieren. Das Ich einer Person existiert nur durch das Nicht-Ich, durch das Andere und durch die Anderen, die ihn mit bestimmten Eigen-schaften ausstatten. Ohne die ihm zugeschriebenen Eigenschaften existiert das Ich nicht, es ist nichts. Und so ist es mit allen Dingen. Erst durch unsere Zuschreibungen werden die Erscheinungen überhaupt erst zu sogenannten Dingen.
Für den Buddhismus existieren in letzter Wahrheit nur Prozesse gegenseitiger Abhängigkeit, wechselseitigen Bezogenseins, untrennbarer Verbundenheit. Paticca samuppada, bedingtes Zusammen-Entstehen, nannte es der Buddha vor 2500 Jahren, ein heutiger buddhistischer Lehrer prägte den Begriff Intersein. Intersein ist das, "was die Welt im Innersten zusammenhält", wie es Goethe (bzw. Dr. Faustus) einst suchte.
Von hier aus erkennen wir auch die grundlegende Wurzel all unseres Leidens. Es ist unser Anhaften an der Vorstellung eines vom anderen getrennten, dauerhaft existierenden, real faßbaren Ichs. Aus unserer Ich-Anhaftung heraus entsteht all unsere Gier, unser Haben-Wollen, unser Hass, unser Nicht-Haben-Wollen und unsere Illusionen und Verblendungen über uns selbst und die anderen und die Welt.
Unser Ich ist unser wahrer höchster Gott, unser tiefster Glaube, unsere immerwährende Zuflucht. Die Ich-Vorstellung ist – vor allem in unserer westlichen Kultur – in jedem von uns so tief verankert, dass sich jeder heftigem Widerspruch und massivem Unverständnis aussetzt, der hier im Westen diese Lehre des Buddha vertritt oder erläutern möchte, nämlich dass das Ich lediglich ein geistiges Konzept, eine Illusion und die Ursache unseres Leidens sei.
Warum diese so starke Abwehr? Die Antwort führt uns auf den Ausgangsort unserer Betrachtungen zurück, auf das Faktum des Todes und Sterbens. Weil unsere Angst vor dem Tode nirgendwo so unmittelbar geweckt und mobilisiert wird, wie in der Vorstellung, dass es das Ich nicht mehr gäbe oder sogar gar kein Ich gäbe, auch früher nicht und später nicht. Sofort taucht die Meinung auf, dann wäre da nur noch das Nichts. Unsere hartnäckig verteidigte Ich-Vorstellung, vor allem die Idee von der Unsterblichkeit des Ichs oder der Existenz einer ewigen Seele, ist die große Flucht vor der Herausforderung des Todes. Es ist das Konzept, den Tod nicht wahrhaben sollen, nicht das Sterben und all die Veränderung, Unbeständigkeit und Flüchtigkeit, die doch in jedem Moment geschieht.
Der Grund dafür ist wiederum unser, insbesondere im Abendland tief verankertes, nur in Gegensätzen erkennendes, linear-logisches, dualistisches Denken. Seit Aristoteles gab es in der Philosophie nur noch die Logik des Ja oder Nein, Richtig oder falsch, Gut oder Böse, für mich oder gegen mich, kein Drittes mehr, "tertium non datur". Doch in Wahrheit gibt es nie und nirgendwo das Nur-Richtige oder das Nur-Falsche, das Nur-Gute oder Nur-Böse, das Nur-Leben oder der Nur-Tod, das Nur-Ich oder Nur-Nicht-Ich. In Wahrheit existiert immer nur "das Dritte", das sowohl-als-auch oder weder-noch – doch ist es nicht fassbar, nicht in Worten, Begriffen und Gedanken.
In der Lehrrede an seinen Schüler Kaccayana (S.12.15) sagt der Buddha:
"Zwei Möglichkeiten, Kaccâyana, ist diese Welt im allgemeinen ergeben: dem Sein und dem Nichtsein. Für den aber, der in der Welt das Entstehen, der Wahrheit gemäß, in rechter Weisheit betrachtet, gibt es kein Nichtsein in der Welt, und für den, der in der Welt das Vergehen, der Wahrheit gemäß, in rechter Weisheit betrachtet, gibt es kein Sein in der Welt. Diese Welt ist nur eine Kette von Begehren, Ergreifen, Haften. Darum ergibt sich, wer dies erkennt, nicht dem Begehren, Ergreifen und Haften, der Neigung des Geistes zum Zugreifen und Festhalten, haftet nicht an der Welt, versteift sich nicht auf die Ansicht, daß ein Ich hier zu finden sei, und zweifelt nicht im geringsten daran, daß, wo etwas entsteht, nur Leiden entsteht, und wo etwas vergeht, nur Leiden vergeht; und solche Erkenntnis kommt ihm von keinem andern als von ihm selbst. ,Alles Ist', das, Kaccâyana, ist das eine Ende. ,Alles ist nicht, das ist das andere Ende. Diese beiden Enden vermeidend, verkündet in der Mitte der Tathâgata seine Lehre."
Wo zutiefst die Untrennbarkeit von Ich und Nicht-Ich, oder die Abwesenheit einer Eigenexistenz beider Seiten (anatta) und damit deren Unbeständigkeit (anicca) und Unergreifbarkeit erkannt wird, und letztlich auch die Unfassbarkeit, Offenheit und Leerheit (sunyata) aller Dinge erfahren wird, da scheint das auf, was der Buddhismus das große Erwachen (bodhi) oder die Erleuchtung nennt und was sich allen Menschen, ja lebenden Wesen als strahlende Weisheit und grenzenloses Mitgefühl offenbart.
Dogen Zenji, der bekannte Begründer des japanischen Soto-Zen-Buddhismus im 12. Jh. n.Chr. hat diesen zentralen Aspekt des Buddha-Wegs in genial wenige Worte gefasst:
"Den Buddha-Weg erkennen, heisst sich selbst erkennen.
Sich selbst erkennen, heißt sich selbst vergessen.
Sich selbst vergessen, heißt, sich in allem finden."
Eine Person, die dies verwirklicht hat, ist zum Buddha geworden, zum Erwachten. Ein Buddha ist nicht ein uns gegenüber ganz anderer, von uns weit abgehobener, wiederum abgetrennter Übermensch, sondern einfach nur ein Mensch, der zu dem geworden, zu dem erwacht ist, was wir alle von jeher sind, nämlich zum Menschsein. Buddha hat nichts anderes verwirklicht als unsere tief in uns verborgene, oft tragisch verschüttete, gelegentlich grausam begrabene, wahre Menschlichkeit.
Der Buddha ist so auch nicht einer, der alle möglichen und unmöglichen Wunder wirkt, der allwissend ist und einen Heiligenschein um sich herum ausstrahlt, sondern einer, der für uns den Weg der Befreiung vom selbstgeschaffenen Leid vorausgegangen ist, und dadurch ein Menschsein verwirklicht hat, welches das Leben und den Tod ganz anzunehmen vermag. Diesen Weg zeigte uns der historische Buddha, auf diese Weise half er uns, ihn ebenfalls zu gehen.
Ich möchte schließen mit einem Wort des Buddha, das diesen erwachten Geist, der seine Person und seinen Weg ausmacht, auf besonders schöne Weise ausdrückt (Auszug aus dem Metta-Sutta):
"Genau so, wie eine Mutter ihr einziges Kind liebt und unter Einsatz ihres Lebens schützt, sollten auch wir grenzenlose, allumfassende Liebe für alle Lebewesen entwickeln, wo immer sie sich auch befinden mögen.Unsere grenzenlose Liebe sollte das ganze Universum durchdringen, nach oben, nach unten und überall hin. Unsere Liebe wird keine Hindernisse kennen, und unsere Herzen werden vollkommen frei von Hass und Feindschaft sein. Ob wir stehen oder gehen, sitzen oder liegen – solange wir wach sind, sollen wir diese liebende Achtsamkeit in unserem Herzen bewahren."
Copyright © Buddhanetz [Stand: Dezember 2004]
Worum es dem Buddha ging
Am Ausgangspunkt des Weges des Buddha und damit des Buddhismus steht jene grundlegende Erschütterung, die den Prinzen Siddhattha Gotama erfasste, als er, geführt von seinem Wagenlenker jene berühmten drei Ausfahrten aus seinem Palast unternahm, um zum ersten Mal ernsthaft die Grundtatsachen der Wirklichkeit wahrzunehmen. Es war dies die Begegnung mit der immerwährenden Unvermeidlichkeit von Alter, Krankheit und Tod, die Konfrontation mit der Wahrheit des Leidens. Es war die Erkenntnis, dass es kein Leben gibt ohne Leiden.
Bald nach dieser Erfahrung verließ Siddhattha seinen Palast für immer und begab sich auf den Weg der Befreiung. Wohin führte dieser Weg und was trieb ihn dabei an? War es Weltfeindschaft, Lebensüberdruss oder gar Todessehnsucht - wie dies häufig und lange von westlichen Interpreten behauptet wurde, ja immer noch verbreitet wird?
Im Gegenteil, es war nicht etwa die überquellende tropische Vielfalt und Energie des Lebens, die ihn überwaltigte, sondern umgekehrt die übermäßige Anwesenheit des Todes in der Welt. Siddhattha sah die Wirklichkeit des Todes im alten Menschen, er sah sie im Kranken, er sah sie endgültig (im wahren Sinne des Wortes) im Toten, im Gestorbenen und in vielem anderen.
Alle Religionen – von denen der ältesten Frühzeit bis zu den jüngsten Neugründungen, insbesondere alle heutigen Weltreligionen in Ost und West (wie Judentum, Christentum, Islam, Konfuzianismus, Taoismus und andere und natürlich auch der Buddhismus) – gehen zentral von der Grunderfahrung des Todes, der Fundamentalerschütterung des Menschen aus.
"Ich bin der Tod, der alles raubt,
Erschütterer der Welten"
So heißt es bereits in den vedischen Schriften des alten Indien, 1000 Jahre vor Christus, 500 vor Buddha. Alle Religionen haben sich bemüht, auf den Tod, dieses Fundamentalfaktum des Daseins, jeglichen Lebens und menschlicher Existenz eine Antwort oder Lösung, eine Möglichkeit der Bewältigung zu geben. Solange es Leben gibt und damit Sterben und Tod gibt, solange wird es deshalb auch Religion und Religionen geben, trotz aller modernen Wissenschaften, Techniken und Ökonomien, die uns die Tatsache des Todes vergessen lassen wollen oder sich uns selbst als Zukunftserlösung und Ersatzreligion anbieten. Die neuste Version davon ist, dass uns nun die Abschaffung des Todes mit Hilfe der Gen-, Nano- und Robotertechnik versprochen wird. Es ist bereits abzusehen, dass auf diese Weise vor allem neue Schrecken des Todes und Leidens in unsere Welt kommen werden.
Später formulierte der zum Buddha gewordene Wahrheitssucher diese Einsicht als sog. 1. Edle Wahrheit seiner Lehre und zwar folgendermaßen:
"Dies Bhikkhus, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidhaft, Altern ist leidhaft, Krankheit ist leidhaft, Tod ist leidhaft; Trauer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind leidhaft; mit Unliebem vereint sein, von Liebem getrennt sein ist leidhaft; Begehrtes nicht erlangen ist leidhaft; kurz das Anhaften an dem, was unsere Person ausmacht, ist leidhaft."
Bei seiner vierten Ausfahrt als Prinz war er dann auch in jenem Wandermönch, der einen offensichtlich tief friedvollen, freundlichen, erlösten Geist ausstrahlte, der dennoch möglichen Überwindung des Todes bzw. des Leidens (an der Wahrheit des Todes) begegnet. Darin zeigte sich ihm die 3. Edle Wahrheit, nämlich dass das Leiden überwunden werden kann.
Wenn dem so ist, ergibt sich daraus, dass es auch eine Ursache für das Leiden geben muss und weiter, dass es ebenso einen Weg geben muss, der zur Befreiung führen kann. So war auch die 2. und die 4. Edle Wahrheit lange vor Siddhatthas eigener Befreiung - dem Erlangen der Buddhaschaft - in diesen vier Ausfahrten aus dem Palast in die Welt bereits angelegt.
Als der Prinz bald darauf ein fünftes Mal, diesmal für immer sein Zuhause, diesen Palast der angenehmen Illusionen, dieses selbst geschaffene Gefängnis verlies, um in die Hauslosigkeit (Nichtanhaftung) zu gehen und eine Antwort auf die Frage des allgegenwärtigen Todes und des daraus folgenden menschlichen Leidens zu finden, da war ebenso (wenn auch noch unbewusst) bereits seine Einsicht in die Ursache des Leidens und den zur Befreiung führenden Weg gefunden. Denn indem er alle ihn bis dahin gefangen haltenden Täuschungen, Sicherheiten und Gewohnheiten verließ (losließ), setzte er sich frei und offen dem Tode aus, konfrontierte er sich mit dem Leiden, nahm er die Wirklichkeit und Wahrheit, die Lösung und Befreiung an. Im Grunde hatte er seinen Weg und damit den Weg des Buddhismus bereits gefunden. Es mußte ihn nur noch gehen.
Nur eine Frage blieb für Siddhatta noch offen und zwar bis zu seinem Erwachen. Die Antwort fand er in seinem Erwachen und sie machte ihn schließlich – wie es in Asien heißt – zum samma sambuddha, zum Vollerwachten. Die Frage war: suche ich nach Befreiung vom Leiden nur für mich selbst oder für alle leidenden Menschen oder gar Wesen? Wenn es nur um die Befreiung von meinem Leiden geht, dann ist die Lösung dann gefunden, wenn ich kein Leiden mehr erfahre. Geht es um die Befreiung vom Leiden für alle, dann kann die Lösung nur darin bestehen, dass ich kein Leiden mehr erzeuge. Denn ich selbst – das zeigt die Alltagserfahrung – kann durchaus lange (möglicherweise in diesem Leben ganz) von Leiden verschont bleiben, während ich anderen Leiden zufüge, ja meine Leidfreiheit sogar auf Kosten anderer verwirkliche. Erzeuge ich jedoch (für mich selbst und andere) kein Leiden mehr, dann bedeutet das, dass ich selbst und andere durch mich tatsächlich kein Leiden mehr erfahren.
Es kann also auf dem Weg des Buddha nicht nur darum gehen, kein Leid mehr zu erleben, sondern kein Leid mehr zu schaffen. Deshalb hat der Buddha nach seinem Erwachen den von ihm gefundenen Weg auch für die Befreiung aller empfindenden Wesen gelehrt.
Der Weg des Buddha
Der Weg, oder die Lehre und Praxis des Buddha hat sich nach seinem Tod vor ca. 2500 Jahren über weite Teile Asiens ausgebreitet und eine große Vielzahl von unterschiedlichen Ausprägungen hervorgebracht. Man kann heute grob von 4 großen Schulen sprechen: dem Theravada-Buddhismus, dem Amida- oder Reine-Land-Buddhismus, dem Zen-Buddhismus und dem tibetischen Buddhismus. Alle diese Schulen sind nun nebeneinander auch in allen nichtasiatischen Kontinenten zu finden (Europa, Amerika, Afrika, Australien). Die Unterschiede im Erscheinungsbild, in den Methoden wie in den Lehrinhalten sind beträchtlich, aber alle stimmen in folgenden 3 Wegzielen überein. Sie können auch als Kriterien für die Ernsthaftigkeit und Authentizität einzelner Unterschulen oder Lehrer herangezogen werden.
- Beendigung des Schaffens von Leid für mich selbst und andere (Sila)
- Befriedung unseres Geistes und unserer Welt (Samadhi)
- Befreiende Selbst- und Wirklichkeitserkenntnis (Pañña)
Diese sind: Sila – Samadhi – Pañña (Ethik – Meditation – Weisheit)
Die weitere Ausformulierung dieses dreifachen Weges ist der von Buddha gelehrte sog. Achtfache Pfad. Die drei genannten Aspekte bilden drei Gruppen, in die der Achtfache Pfad eingeteilt werden kann.
Sila
In der bereits erwähnten ersten Lehrrede des Buddha im Hirschpark von Sarnath, mit der er seine 45-jährige Lehrtätigkeit quer durch ganz Nordindien begann, hatte er gesagt:
"Dies Bhikkhus, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidhaft, Altern ist leidhaft, Krankheit ist leidhaft, Tod ist leidhaft; Trauer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind leidhaft; mit Unliebem vereint sein, von Liebem getrennt sein ist leidhaft; Begehrtes nicht erlangen ist leidhaft; kurz das Anhaften an dem, was unsere Person ausmacht, ist leidhaft."
In der Aussage kann - über das unmittelbar Gesagte hinaus - etwas für den Weg des Buddha sehr wichtiges erkannt werden, nämlich dass der Buddha hier nicht von bestimmten Dingen oder Personen oder Institutionen spricht, nicht äußere Gegenstände, Verhältnisse, Zustände in der Welt beschreibt und beurteilt, sondern ausschließlich nur von inneren, geistig/psychischen Erfahrungen spricht. Leiden – so sagt er hier – ist eine Sache der Erfahrung, der Wahrnehmung und der Deutung. Es ist etwas, was in unserem Geist geschieht, nicht etwas, das eine von uns unabhängige, objektive Wirklichkeit darstellt. Ein und das gleiche Phänomen kann unterschiedlich erlebt und bewertet werden.
Damit soll nicht gesagt sein, dass es nicht bestimmte Erfahrungen und Leidenssituationen gibt, die von allen Menschen gleich erfahren und bewertet werden. Z.B. möchte niemand körperlich verletzt oder getötet werden, oder beraubt, oder belogen, oder beschimpft und gedemütigt usw. Weil ausnahmslos alle Menschen so empfinden, darum ergeben sich aus den zuletzt genannten Empfindungen auch die Grundsätze der buddhistischen Ethik – Sila in Pali-Sprache. Buddhas fünf ethische Prinzipien, die Panca-Sila, lauten in der Form, in der sie von jenen, die seinen Weg ernsthaft gehen wollen, angenommen, rezitiert und im Bewusstsein gehalten werden, folgendermaßen:
Kein Lebewesen zu töten oder zu verletzen,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Nichtgegebenes nicht zu nehmen,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Keine unheilsamen sexuellen Beziehungen zu pflegen,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Nicht zu lügen oder unheilsam zu sprechen,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Nicht durch berauschende Mittel mein Bewusstsein zu trüben,
diese Übungsregel nehme ich auf mich.
Es ist wesentlich zu bemerken, dass es sich hier nicht um Gebote oder Verbote sondern um von uns aus freier und eigener Einsicht heraus anzunehmende Übungen handelt, auch nicht um Versprechungen. Dies kennzeichnet die - herkömmlicher Moral gegenüber - ganz andere, freiheitliche Grundhaltung und befreiende Zielsetzung des buddhistischen Weges.
Die buddhistische Ethik ergibt sich somit unmittelbar aus der für den Weg des Buddha grundlegenden Einsicht oder sog. Ersten edlen Wahrheit, nämlich, dass Leiden existiert, dass jedoch kein Mensch, mehr noch - kein Lebewesen bzw. kein empfindendes Wesen leiden möchte. Also auch Tiere nicht, in gewisser Hinsicht auch Pflanzen nicht. Und was wir nicht erleben möchten, dass sollten wir auch nicht herbeiführen, weder uns selbst gegenüber, noch anderen gegenüber. Das heißt: wer kein Leiden erfahren will, der sollte auch kein Leiden erzeugen. Nicht für mich, nicht für andere. Denn, was ich mir selbst antue, das tue ich letztlich dem anderen an, was ich dem anderen antue, das tue ich letztlich mir selbst an. Das ist die Kernaussage der buddhistischen Ethik. In einer der zahlreichen Lehrreden des Buddha aus dem Pali-Kanon, im sog. Sedakam-Sutta hat er dies in wunderbar wenigen Worten ausgedrückt:
"Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen.
Auf den anderen achtend, achte ich auf mich selbst."
Das zentrale Prinzip der buddhistischen Ethik lautet von daher: ahimsa, Nichtverletzen, kein Lebewesen mit Absicht zu verletzen. Anders gesagt: größtmögliche Gewaltlosigkeit im Denken, Sprechen und Handeln. Wir können deutlich sehen, was sich daraus nicht nur an persönlichen Folgerungen sondern auch an politischen, gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen wie auch ökologischen Konsequenzen ergibt.
Samadhi
Ich hatte darauf hingewiesen, dass der Buddha Leiden als etwas erkannte, dass nicht objektiv und unveränderlich gegeben ist und von uns in der äußeren Welt vorgefunden wird, sondern dass wir es erschaffen und zwar nicht nur durch unser Handeln sondern auch in unserem Erleben. Unsere Wahrnehmung, Interpretation und Sichtweise entscheidet mit, was wir als Leiden erfahren und wie wir es erfahren. Mancher ist in der Erfahrung eigenes Leids sehr empfindlich, aber beim Beobachten von Leid oder gar Zufügen von Leid gegenüber anderen fehlt jede Sensibilität. Andere erleben etwas als leidvoll, was der oder die andere gar nicht verletzend beabsichtigt hatte, und viele klagen und schimpfen über Situationen, die für andere bereits unerfüllbare Wunsche darstellen. Manche verhalten sich erschreckend grausam, weil sie bei sich selbst gar kein Leiden mehr spüren. Sie haben dessen Wahrnehmung völlig abgewürgt.
"Vom Geiste gehn die Dinge aus, im Geist geboren, im Geist gemacht" lehrte der Buddha. Unsere Handlungen gehen von unserem Geist aus, treten zuerst als Einfälle und Gedanken auf, dann als Worte und schließlich als körperliche Handlungen. Auch unsere Erfahrungen werden zuerst in unserem Geist erlebt durch die Art und Weise, wie wir sie sehen, zu sehen gewohnt sind, zu sehen bereit sind. Darum hat die jeweilige Verfassung unseres Geistes großen Einfluß darauf, was für uns zur Wirklichkeit wird. Die Wirklichkeit wird also von uns nicht vorgefunden und in unserem Geist einfach gespiegelt, sondern sie wird von unserem Geist gemacht. Buddha sagt: die Welt ist das Produkt unseres Geistes. Im einem Sutta des (A4, 45,3) heißt es:
"Ich verkündige, Freund, dass in diesem einen Armspanne großen Körper mit seinem Wahrnehmen und Denken die Welt liegt, die Entstehung der Welt, die Aufhebung der Welt und der Weg zur Aufhebung der Welt."
Ethisch einwandfreies, nicht verletzendes Verhalten genügt demnach nicht. Leiden entsteht in beträchtlichem Masse davon abhängig, in welchem Zustand unser Geist ist, der die Welt und die Dinge und die anderen Menschen wahrnimmt bzw. sie in sich erstehen lässt.
Ein aufgeregter, hektischer, unruhiger Geist nimmt die Wirklichkeit anders wahr, als einer, der in großer Gelassenheit und Aufmerksamkeit ruht. Ein wütender, zornerfüllter Geist sieht ganz anders oder viel weniger, als ein freundlicher, mitfühlender, offener Geist. Das Bewusstsein eines in tiefen Konzentrationsübungen Geschulten erspürt den Anderen auf eine Art und Weise, die jenem sogar selber unzugänglich sein kann.
Wir sind damit auf einer Ebene angelangt, die über die des ethisch richtigen Handelns hinausgeht (diese aber nicht ungültig macht, sondern auf eine höhere Ebene hebt) und innerhalb des achtfachen Pfades des Buddha die Praxisebene der Meditation ausmacht. Der Pali-Begriff dafür lautet Samadhi, was Sammlung, Konzentration, Klarheit, geistigen Frieden, innere Stille bedeutet.
Auf dem Wege der Entfaltung von Samadhi, oder anders gesagt der Samatha-Meditation wird in besonderem Masse das Erreichen jenes Ziel geübt, das als der zweite große Bereich des achtfachen Pfades gilt: die Befriedung, das zur Ruhe, zur Stille, Zur-Klarheit-Kommen unseres Geistes und unserer Welt. Nur ein ruhiger, konzentrierter, klarer Geist, ist ein friedlicher, ja friedvoller Geist.
Je friedvoller wir in unserem Inneren sind, umso friedvoller ist auch unsere Umgebung. Diese Tatsache können wir täglich in unserer familiären, beruflichen, sozialen, politischen Umwelt bestätigt finden. Wie lehrte Mahatma Gandhi und hieß es in der jüngsten Friedensbewegung gegen den Irak-Krieg: "Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg."
Allerdings – und dies wird leider von vielen Friedensfreunden und spirituell denkenden Menschen übersehen. Frieden löst nicht alle Probleme. Ruhe und Stille lässt nicht alles Elend und Leiden einfach verschwinden, sondern deckt es oft auch nur einfach zu. Es gibt auch die tödliche Ruhe des Friedhofs, das Verschweigen und Totschweigen des Leids und seiner Ursachen und der Möglichkeiten, es zu überwinden und vor allem - des eigenen Anteils daran. Eine gefährliche Falle, die von vielen, allzu gutgläubigen Esoterik- und Buddhismus-Fans liebend gerne aufgesucht wird.
Von der Seite hört man gelegentlich auch die wundervolle Botschaft: Krieg, Armut, Umweltzerstörung usw. ließen sich allesamt durch ausreichend Meditation lösen. Nicht wenige Menschen im Westen sind heute geradezu meditationssüchtig, so dass Meditation hier nicht zur Befreiung vom Leid dient, sondern zu dessen Wiedergeburt weil der Weg zur Droge wird und blind macht.
Es braucht also noch etwas, was über den nur friedlichen Geist hinausgeht und dies ist Einsicht, Erkenntnis, Weisheit. Die Hauptursache des Leidens - so erkannte der Buddha - ist unsere Unwissenheit, unsere Täuschung, unsere Verblendung, avijja.
Dies weist auf das dritte der genannten buddhistischen Ziele, nämlich "Befreiende Selbst- und Wirklichkeitserkenntnis" und auf den dritten Aspekt des achtfachen Pfades hin auf pañña.
Pañña
Pañña – heißt Wissen, Einsicht, Erkenntnis. Erkenntnis worüber? Über das, was Wirklichkeit ist. Auch hier sei eine schon zitierte Aussage Buddhas noch einmal wiederholt:
"Ich verkündige, Freund, dass in diesem einen Armspanne großen Körper mit seinem Wahrnehmen und Denken die Welt liegt, die Entstehung der Welt, die Aufhebung der Welt und der Weg zur Aufhebung der Welt."
In einer anderen Lehrrede heißt es (im Samyutta Nikaya, 35,23):
"Was Mönche ist das All? Das Auge und die Formen (sichtbare Objekte), das Ohr und die Töne, die Nase und die Gerüche, die Zunge und die Geschmäcke, der Körper und die Tastobjekte, das Denken und die Denkobjekte (Gedanken)."
Und in einem weiteren Sutta (M 18, 16):
"Bedingt durch Auge und Formen entsteht Sehbewusstsein; das Zusammentreffen dieser drei Faktoren ist Kontakt; durch den Kontakt bedingt entsteht Empfindung. Was man empfindet, das nimmt man wahr. Was man wahrnimmt, darüber denkt man nach. Worüber man nachdenkt, das entwirft man als vielfältige Außenwelt. Was man als Außenwelt projiziert, das bildet [wiederum] die Grundlage der vielfältigen Wahrnehmungen, die als vergangene künftige und gegenwärtige Sinneseindrücke an den Menschen herantreten."
Versuchen wir es etwas zugänglicher zu fassen: der Buddha lehrt uns hier – wir haben es schon zweimal, sowohl bei Sila wie bei Samadhi kennen gelernt und finden es auch hier wieder – dass das, was wir Wirklichkeit nennen, nicht etwas ist, was außerhalb von uns existiert, als sogenannte objektive Realität gegeben ist und von unserer Wahrnehmung und Erkenntnis lediglich (mehr oder weniger gut) widergespiegelt wird, sondern dass die sog. Wirklichkeit immer unsere Wirklichkeit ist, immer nur die Welt ist, wie wir sie sehen, bzw. wie wir sie selber geschaffen haben. Wir erschaffen die Welt einerseits in unserem Geist durch unsere Wahrnehmung nach innen und wir erschaffen die Welt andererseits, ausgehend von unserem Geist durch unser Handeln nach außen.
Immer ist unser Geist oder unser Ich der wahre Schöpfer der Welt. Dieses Ich erschafft in der Wahrnehmung nicht nur seine Welt – das Wahrgenommene – sondern erschafft im gleichen Vorgang auch sich selbst – das Wahrnehmende. Denn so, wie ich die Welt wahrnehme, so bin ich - und umgekehrt. Ich und Welt gehören untrennbar zusammen, beides bringt sich gegenseitig hervor.
Es geht in dieser dritte Stufe des Pfades um Erkenntnis. Und was es zu erkennen gilt, dass sind wir selbst und unsere Art und Weise, bzw. unsere geistigen und psychischen Muster, wie wir uns selbst und unsere Welt erschaffen und damit auch, wie wir uns unser Leiden erschaffen. Wie zu gleicher Zeit im alten Griechenland Sokrates auf dem Weg des "Erkenne Dich selbst" war, so ging es auch dem Buddha auf der höchsten Ebene seines Weges um tiefgründige Selbsterkenntnis.
Der buddhistische Weg der Selbsterkenntnis ist der Weg der Übung und Entfaltung immerwährender Achtsamkeit. Achtsamkeit (sati) ist das Herz der buddhistischen Praxis. Es geht darum: "zu wissen, was wir tun". Sich dessen bewußt zu sein, was in unserem Denken, Sprechen und Handeln geschieht. Noch genauer: zu beobachten, was in unserem Körper, unseren Gefühlen, unseren Wahrnehmungen, unseren Wünschen und Vorstellungen und in unserem Bewusstsein mit seinen Ideen, Gedanken, Konzepten, Theorien, Ideologien (über Gott und die Welt) geschieht. Diese Übung oder Praxis der Selbsterkenntnis heißt bei Gotama Buddha Satipatthana, "Vergegenwärtigung der Achtsamkeit" oder von der Methode her Vipassana, Einsichts-Meditation. Vipassana ist die Meditationsmethode, die der Buddha selbst entdeckt und entwickelt hat, sie ist von daher die buddhistische Meditation. Die wichtigen anderen Meditationsformen, die es noch im Buddhismus gibt - auch die weiter oben bereits erwähnte Samatha-Meditation - sind auch in anderen Religionen und spirituellen Wegen zu finden.
"Wer sich selbst erkennt, der erkennt die Welt" sagt der Buddha in einer seiner Lehrreden. Denn die Welt ist nicht anders als wir sind, und die Welt ist in beträchtlichem Ausmaß von uns selbst gemacht. Insbesondere die gewaltige Masse des menschheitlichen Leidens (Armut, Hunger, Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Diskriminierung, Gewalt, Folter, Krieg usw.) ist vielfach vom Menschen selber gemacht und unser persönliches Leiden ist in nicht wenigen Fällen ebenso auf uns selbst zurück zu führen.
Es gilt deshalb, Selbstverantwortung zu übernehmen, Verantwortung für unser Denken, Sprechen und Handeln. Verantwortung praktizieren, ist wiederum nichts anderes als Achtsamkeit verwirklichen, oder Bewusstheit leben, Erwachen, bodhi. Und das heißt, vor und über allem anderen: aufzuhören damit, für uns selbst und andere Leiden zu erzeugen.
Hier schließt sich wieder der Kreis zu dem, was wir als erste Stufe des Weges betrachtet haben, zu Sila, Ethik, Nichtverletzen, Beenden von Leiden. Der achtfache Pfad ist keine gerade Linie von hier nach da oder von unten nach oben, sondern er ist ein Kreis, eine Spirale, die immer wieder zu sich zurückfindet und doch immer weiter voranschreitet.
Doch ist hier noch etwas sehr wichtiges zu ergänzen. Es kann auf dem Buddhaweg nicht darum gehen, nur Verantwortung für mich selbst zu praktizieren (was dann praktisch heißt, nur den eigenen Vorteil zu sehen) und zu sagen: was das Leben und Leiden der anderen betrifft, das geht mich nichts an, das hat nichts mit mir zu tun, das ist deren Karma. Das ist eine leider nicht seltene, aber schlimme Verfälschung der Lehre des Buddha.
Der Kern der Lehre des Buddha ist die Aussage, dass es letztlich kein "Ich", "Mein", "Dein" gibt, und dass unser in Täuschung befangenes Denken in diesen Kategorien (die man auch die Denkweisen des Habens nennen könnte) gerade die Ursache allen Leids darstellt. Diese Lehre von an-atta, von Nicht-ich ist das, was die Essenz der Erleuchtung des Buddha und die Grundlage aller buddhistischen Schulen ausmacht.
Die Lehre vom Nichtselbst ist die letztendliche Selbsterkenntnis, zu der der Buddha führt. Das Selbst wird als zugleich Nichtselbst erkannt und erfahren.
Diese höchste Stufe der Selbsterkenntnis, die - wie schon wir sahen - zugleich Wirklichkeitserkenntnis ist, besteht darin, dass das sog. Selbst oder Ich und die sog. Wirklichkeit oder Welt nicht voneinander getrennt existieren oder abtrennbar sind. Dass es hier ein eigenständiges Ich gibt und da eine eigenständige Welt gibt, ist eine Täuschung. Ich und Nicht-Ich, Ich und das oder der Andere sind letztlich nicht trennbar. Ebenso wenig wie ein vermeintliches Ich für sich und aus sich existieren kann, kann die vermeintliche Welt oder der andere für sich und aus sich existieren. Das Ich einer Person existiert nur durch das Nicht-Ich, durch das Andere und durch die Anderen, die ihn mit bestimmten Eigen-schaften ausstatten. Ohne die ihm zugeschriebenen Eigenschaften existiert das Ich nicht, es ist nichts. Und so ist es mit allen Dingen. Erst durch unsere Zuschreibungen werden die Erscheinungen überhaupt erst zu sogenannten Dingen.
Für den Buddhismus existieren in letzter Wahrheit nur Prozesse gegenseitiger Abhängigkeit, wechselseitigen Bezogenseins, untrennbarer Verbundenheit. Paticca samuppada, bedingtes Zusammen-Entstehen, nannte es der Buddha vor 2500 Jahren, ein heutiger buddhistischer Lehrer prägte den Begriff Intersein. Intersein ist das, "was die Welt im Innersten zusammenhält", wie es Goethe (bzw. Dr. Faustus) einst suchte.
Von hier aus erkennen wir auch die grundlegende Wurzel all unseres Leidens. Es ist unser Anhaften an der Vorstellung eines vom anderen getrennten, dauerhaft existierenden, real faßbaren Ichs. Aus unserer Ich-Anhaftung heraus entsteht all unsere Gier, unser Haben-Wollen, unser Hass, unser Nicht-Haben-Wollen und unsere Illusionen und Verblendungen über uns selbst und die anderen und die Welt.
Unser Ich ist unser wahrer höchster Gott, unser tiefster Glaube, unsere immerwährende Zuflucht. Die Ich-Vorstellung ist – vor allem in unserer westlichen Kultur – in jedem von uns so tief verankert, dass sich jeder heftigem Widerspruch und massivem Unverständnis aussetzt, der hier im Westen diese Lehre des Buddha vertritt oder erläutern möchte, nämlich dass das Ich lediglich ein geistiges Konzept, eine Illusion und die Ursache unseres Leidens sei.
Warum diese so starke Abwehr? Die Antwort führt uns auf den Ausgangsort unserer Betrachtungen zurück, auf das Faktum des Todes und Sterbens. Weil unsere Angst vor dem Tode nirgendwo so unmittelbar geweckt und mobilisiert wird, wie in der Vorstellung, dass es das Ich nicht mehr gäbe oder sogar gar kein Ich gäbe, auch früher nicht und später nicht. Sofort taucht die Meinung auf, dann wäre da nur noch das Nichts. Unsere hartnäckig verteidigte Ich-Vorstellung, vor allem die Idee von der Unsterblichkeit des Ichs oder der Existenz einer ewigen Seele, ist die große Flucht vor der Herausforderung des Todes. Es ist das Konzept, den Tod nicht wahrhaben sollen, nicht das Sterben und all die Veränderung, Unbeständigkeit und Flüchtigkeit, die doch in jedem Moment geschieht.
Der Grund dafür ist wiederum unser, insbesondere im Abendland tief verankertes, nur in Gegensätzen erkennendes, linear-logisches, dualistisches Denken. Seit Aristoteles gab es in der Philosophie nur noch die Logik des Ja oder Nein, Richtig oder falsch, Gut oder Böse, für mich oder gegen mich, kein Drittes mehr, "tertium non datur". Doch in Wahrheit gibt es nie und nirgendwo das Nur-Richtige oder das Nur-Falsche, das Nur-Gute oder Nur-Böse, das Nur-Leben oder der Nur-Tod, das Nur-Ich oder Nur-Nicht-Ich. In Wahrheit existiert immer nur "das Dritte", das sowohl-als-auch oder weder-noch – doch ist es nicht fassbar, nicht in Worten, Begriffen und Gedanken.
In der Lehrrede an seinen Schüler Kaccayana (S.12.15) sagt der Buddha:
"Zwei Möglichkeiten, Kaccâyana, ist diese Welt im allgemeinen ergeben: dem Sein und dem Nichtsein. Für den aber, der in der Welt das Entstehen, der Wahrheit gemäß, in rechter Weisheit betrachtet, gibt es kein Nichtsein in der Welt, und für den, der in der Welt das Vergehen, der Wahrheit gemäß, in rechter Weisheit betrachtet, gibt es kein Sein in der Welt. Diese Welt ist nur eine Kette von Begehren, Ergreifen, Haften. Darum ergibt sich, wer dies erkennt, nicht dem Begehren, Ergreifen und Haften, der Neigung des Geistes zum Zugreifen und Festhalten, haftet nicht an der Welt, versteift sich nicht auf die Ansicht, daß ein Ich hier zu finden sei, und zweifelt nicht im geringsten daran, daß, wo etwas entsteht, nur Leiden entsteht, und wo etwas vergeht, nur Leiden vergeht; und solche Erkenntnis kommt ihm von keinem andern als von ihm selbst. ,Alles Ist', das, Kaccâyana, ist das eine Ende. ,Alles ist nicht, das ist das andere Ende. Diese beiden Enden vermeidend, verkündet in der Mitte der Tathâgata seine Lehre."
Wo zutiefst die Untrennbarkeit von Ich und Nicht-Ich, oder die Abwesenheit einer Eigenexistenz beider Seiten (anatta) und damit deren Unbeständigkeit (anicca) und Unergreifbarkeit erkannt wird, und letztlich auch die Unfassbarkeit, Offenheit und Leerheit (sunyata) aller Dinge erfahren wird, da scheint das auf, was der Buddhismus das große Erwachen (bodhi) oder die Erleuchtung nennt und was sich allen Menschen, ja lebenden Wesen als strahlende Weisheit und grenzenloses Mitgefühl offenbart.
Dogen Zenji, der bekannte Begründer des japanischen Soto-Zen-Buddhismus im 12. Jh. n.Chr. hat diesen zentralen Aspekt des Buddha-Wegs in genial wenige Worte gefasst:
"Den Buddha-Weg erkennen, heisst sich selbst erkennen.
Sich selbst erkennen, heißt sich selbst vergessen.
Sich selbst vergessen, heißt, sich in allem finden."
Eine Person, die dies verwirklicht hat, ist zum Buddha geworden, zum Erwachten. Ein Buddha ist nicht ein uns gegenüber ganz anderer, von uns weit abgehobener, wiederum abgetrennter Übermensch, sondern einfach nur ein Mensch, der zu dem geworden, zu dem erwacht ist, was wir alle von jeher sind, nämlich zum Menschsein. Buddha hat nichts anderes verwirklicht als unsere tief in uns verborgene, oft tragisch verschüttete, gelegentlich grausam begrabene, wahre Menschlichkeit.
Der Buddha ist so auch nicht einer, der alle möglichen und unmöglichen Wunder wirkt, der allwissend ist und einen Heiligenschein um sich herum ausstrahlt, sondern einer, der für uns den Weg der Befreiung vom selbstgeschaffenen Leid vorausgegangen ist, und dadurch ein Menschsein verwirklicht hat, welches das Leben und den Tod ganz anzunehmen vermag. Diesen Weg zeigte uns der historische Buddha, auf diese Weise half er uns, ihn ebenfalls zu gehen.
Ich möchte schließen mit einem Wort des Buddha, das diesen erwachten Geist, der seine Person und seinen Weg ausmacht, auf besonders schöne Weise ausdrückt (Auszug aus dem Metta-Sutta):
"Genau so, wie eine Mutter ihr einziges Kind liebt und unter Einsatz ihres Lebens schützt, sollten auch wir grenzenlose, allumfassende Liebe für alle Lebewesen entwickeln, wo immer sie sich auch befinden mögen.Unsere grenzenlose Liebe sollte das ganze Universum durchdringen, nach oben, nach unten und überall hin. Unsere Liebe wird keine Hindernisse kennen, und unsere Herzen werden vollkommen frei von Hass und Feindschaft sein. Ob wir stehen oder gehen, sitzen oder liegen – solange wir wach sind, sollen wir diese liebende Achtsamkeit in unserem Herzen bewahren."
Copyright © Buddhanetz [Stand: Dezember 2004]
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